Liebestod (Vampirsaga 1)

N

Nelida

Guest
Liebestod

Das erste Mal sah ich ihn auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Er blickte gerade in ein Schaufenster, in dem Bilder ausgestellt waren. Mir war der junge Mann nicht bekannt. Aber das war es nicht, was meine Aufmerksamkeit an ihm fesselte. Es war seine Ausstrahlung. Er wirkte auf mich ganz anders als die Menschen, die an mir, wie auch an ihm, vorbei gingen. Es war auch nicht direkt seine auffallende Schönheit, obwohl sie mich natürlich anzog. Er war groß gewachsen, - sicher an die 1,90 und hatte langes blondes Haar wie ein Engel. Ich konnte sein Profil sehen. Es war fast schon zu weiblich für einen Mann, auch wenn er noch jung war, - vielleicht zwei oder drei Jahre älter als ich. Auch war er auffallend gekleidet, - mit langem schwarzen Ledermantel, den er offen trug. Darunter sah ich ein schwarzes Rüschenhemd und ebenso schwarze Hosen, die unten sehr weit ausgestellt waren.
Als ich ihn so aufmerksam beobachtete, drehte er sich plötzlich um und sah mich an. Ich erstarrte förmlich, als ich seine Augen sah. Sie waren ziemlich hell, wodurch die Pupille ganz besonders heraus stach. Ich weiß nicht mehr so genau, ob ich in seinen Augen so etwas wie Gefühle erkennen konnte. Wenn mich jetzt jemand fragen würde, müsste ich wohl sagen, dass sein Blick eiskalt war, als ob er gar keine Gefühle hätte.

Das zweite Mal sah ich ihn in einem Lokal, wo ich mit zwei Freundinnen beim Kaffee saß. Wir unterhielten uns gerade über unseren Job – ein leidiges Thema, - als er herein kam und an die Bar ging. Seine Kleidung war noch immer dieselbe, obwohl es bereits drei Tage her war, als ich ihn das erste Mal sah. Ich stieß meine Freundin links von mir mit dem Arm an, um sie auf ihn aufmerksam zu machen. Sie zuckte nur mit den Achseln. Im Moment war sie auf alle Männer sauer, weil ihr Freund sie gerade sitzen gelassen hatte. Auch Marion, meine andere Freundin, schenkte ihm kaum Beachtung.
„Findet ihr ihn nicht süß?“ fragte ich enttäuscht, da ich dachte, auf so einen Mann müssten doch alle Frauen total abfahren.
„Das ist einer für nur eine Nacht“, meinte Susanne. „Und darauf habe ich zur Zeit ganz sicher keinen Bock.“
Der junge Mann sah rüber zu mir. Es war wieder derselbe eiskalte Blick. Und doch fühlte ich mich geschmeichelt. Jetzt fiel mir auch seine überaus blasse Haut auf. Ich sah, dass er ein Mineralwasser bestellt hatte. Er hielt das Glas nur in der Hand, trank aber nicht.
Ich sah ihn auch an und lächelte. Mein Lächeln wurde nicht erwidert. Stattdessen starrte er mich weiter an.
„Flirtest du mit ihm?“ fragte mich Marion lachend.
„Ich versuche mein Bestes. Er gefällt mir eben“, sagte ich, ohne meinen Blick von ihm zu wenden.
Er unterbrach unseren Blickkontakt als erster, als er der Kellnerin zuwinkte, bezahlte und wieder ging, ohne etwas getrunken zu haben.
„Der ist doch nicht ganz dicht“, meinte Susanne. „Bestellt etwas und trinkt es nicht einmal.“
„Vielleicht kam er nur meinetwegen herein“, scherzte ich.

Das dritte Mal stieß ich mit ihm vor der Haustür zusammen. Ich kam gerade heraus, als er ziemlich knapp an der Mauerwand vorbei kam.
„Entschuldigung“, stieß ich mit hochrotem Kopf hervor.
Er stand nur da und sah mich unverwandt an. Ich wusste nicht, was ich tun oder sagen sollte. Stehen bleiben und warten, bis er auch etwas sagt, oder sollte ich einfach weiter gehen?
Aber plötzlich nahm er meine rechte Hand, führte sie nah an seine Lippen und hauchte mir einen Kuss auf den Handrücken. Seine Lippen berührten nicht, dennoch schien ich sie zu spüren. Ich sah an seiner Hand unter dem Ärmel des schwarzen Ledermantels die Rüschen des Hemdes hervor lugen. Noch immer trug er dieselbe Kleidung.
Jetzt, wo ich ihm so nahe war, wirkten seine Augen auf mich noch anziehender. Nein, nicht anziehender, sondern viel mehr hypnotisch, als wollte er mich in seinen Bann ziehen.
Als er meine Hand los ließ, spürte ich sie noch immer. Sie war kalt. Wir hatten eine Temperatur von 25° Celsius. Für diese Temperatur war er eindeutig zu warm angezogen, und doch hatte er eiskalte Hände.
„Darf ich Sie auf einen Kaffee einladen?“ fragte er mit der dunkelsten Stimme, die ich je gehört habe.
Ich nickte nur stumm. Er bot mir seinen Arm an. Ich hängte mich ein, und wir gingen langsam weiter.
Du meine Güte, er war ein Gentleman! Oder tat er nur so, um mich noch mehr zu beeindrucken? Manieren dieser Art waren schon lange out. Wer von den Jugendlichen gibt seiner Angebeteten schon einen Handkuss? Wahrscheinlich war er der Typ, der – wenn er ein Auto hätte – seiner Beifahrerin die Wagentür öffnet würde, bevor er selbst einsteigt.
Oh ja, er spielte den Gentleman perfekt! Als wir das Café betraten, öffnete er kavaliersmäßig die Tür und neigte sogar seinen Kopf wie zu einer Verbeugung. Im Café hielt er mir den Stuhl bereit und nahm erst dann Platz, als ich mich gesetzt hatte.
„Was darf ich Ihnen bestellen?“ fragte er mich, als die Kellnerin an unseren Tisch kam.
Ich hatte meinen Mund schon offen, um eine Melange zu bestellen. Nun gut – ich sagte ihm leise, dass ich gerne eine Melange trinken würde.
„Zwei Melange, bitte sehr!“ sagte er zur Kellnerin.
Befremdend war für mich, dass er „Sie“ zu mir sagte. Unter Jugendlichen gab es das schon lange nicht mehr! Und ich war mir sicher, dass er kaum älter als 25 war. Zumindest sah er nicht älter aus.
„Woher kommst du?“ fragte ich frei heraus und verbesserte mich sofort: „Entschuldige, - ich wollte fragen, - woher kommen Sie?“ und betonte das „Sie“ ganz besonders.
Sein schönes bleiches Gesicht war wie eine Maske. Ich konnte einfach keine Regung entdecken.
„Ich bin ein Reisender ohne Heimat“, sagte er blumig mit seiner tiefen Stimme, die so ganz und gar nicht zu seinem Äußeren passte.
„Aber irgendwo müssen sie doch geboren worden sein.“
Nun lächelte er das erste Mal. Aber es war eher eine Grimasse, - wenn auch eine hübsche.
„O ja, irgendwo wurde ich sicher geboren.“
„Und wo?“ fragte ich hartnäckig.
„Irgendwo in Rumänien“, sagte er, - wieder ohne Regung.
„Sie sprechen aber gut deutsch. Oder sprechen sie mehrere Sprachen?“
Er nickte stumm.
„Wie viele Sprache?“
Er schien zu überlegen.
„Fünf, vielleicht sechs, oder gar sieben. So genau weiß ich das nicht.“
Ich staunte!
„Und wovon leben Sie, wenn ich fragen darf?“
Er schnitt wieder diese Grimasse, die ein Lächeln sein sollte.
„Ich bin sehr genügsam. Aber warum sprechen wir nicht von Ihnen?“
„Ach, über mich gibt es nicht viel zu sagen. Ich bin hier geboren, hier aufgewachsen, hier zur Schule gegangen und machte eine Ausbildung, um nun als Sekretärin in einem kleinen Betrieb zu arbeiten. Ich arbeite übrigens erst ein Jahr lang, bin aber stolz darauf, auf eigenen Füßen zu stehen und nicht mehr von meinen Eltern abhängig zu sein.“
Er nickte nur und schien eigentlich gar nicht so sehr an meinem Lebenslauf interessiert zu sein.
Die Kellnerin kam und brachte uns die beiden Melangen.
„Danke sehr!“ sagte er höflich nickend.
„Welche Schulen haben Sie besucht?“ fragte ich.
„Privat. Ich wurde privat unterrichtet“, sagte er wie nebenbei und rührte den Kaffee um.
„Oh!“ stieß ich hervor. „Sind Ihre Eltern so reich, dass sie sich einen Privatlehrer leisten können?“
„Meine Eltern sind schon sehr lange tot“, sagte er.
„Das tut mir leid.“
„Das muss Ihnen nicht Leid tun. Sie hatten ein erfülltes Leben und wurden sehr alt.“
Ich horchte auf. Das gibt es doch nicht! Wenn er so um die 25 sein sollte, können seine Eltern nicht sehr alt geworden sein!
„Wie das?“
„Wie meinen Sie?“ fragte er.
„Ich meine, Sie sind ja noch sehr jung. Wie können Ihre Eltern dann sehr alt geworden sein?“
„Ach, das!“
Dann war Funkstille. Ich wartete einige Augenblicke, ob er noch etwas sagen würde, dann bohrte ich weiter.
„Und?“
„Wie meinen Sie?“ fragte er abermals.
„Na, das mit ihren Eltern!“
„Ach so! Nun, was verstehen Sie darunter, wenn ich sage, dass meine Eltern sehr alt geworden sind?“
„Unter – sehr alt – verstehe ich an die 90 Jahre oder gar 100 Jahre“, sagte ich und nahm einen Schluck Kaffee, während er noch immer in seiner Tasse rührte.
Plötzlich stand er auf und ging an die Bar. Ich saß mit dem Rücken zur Bar, dass ich mich umdrehen musste, um zu sehen, was er dort machte. Er winkte der Kellnerin und bezahlte.
Dann kam er wieder zurück an den Tisch.
„Verzeihen Sie“, sagte er.
„Was soll ich verzeihen?“ fragte ich.
„Dass ich Sie eine Weile alleine gelassen habe.“
Ich schaute ihn groß an.
„Was spielen Sie hier für eine Rolle?“ fragte ich gerade heraus, weil mir das alles wirklich nur gespielt erschien.
„Wie bitte?“
„So verhält sich doch kein Mensch mehr“, sage ich. „Sie geben mir einen Handkuss, reichen mir den Arm, stellen mir den Stuhl zurecht. So was taten die Männer vor 100 Jahren!“
„Dann bitte ich Sie abermals um Verzeihung, falls ich Ihnen damit zu nahe getreten bin“, sagte er artig.
„Sie sind mir ganz und gar nicht zu nahe getreten! Als ich sie das erste Mal auf der Straße gesehen habe, sind Sie mir wegen ihrer seltsamen Kleidung aufgefallen, obwohl Ihre Kleidung gar nicht so seltsam ist. Es gibt einige Jugendliche, die sich gerne so kleiden. Aber meist haben sie schwarzes Haar und lieben es, auf Friedhöfe zu gehen. Sie hören gerne düstere Musik und haben meist Todessehnsucht. Man nennt diese Richtung ‚Gothic’.“
„Todessehnsucht…“, murmelte er und plötzlich sah ich in seinen Augen so etwas wie Wehmut.
„Ja! Haben Sie etwa auch Todessehnsucht?“ fragte ich und hoffte endlich, die Mauer zwischen uns gebrochen zu haben.
Aber er setzte abermals dieses maskenhafte Lächeln auf.
„Nein, keine Todessehnsucht. Aber es ist interessant, was Sie da eben sagten. Wo kann man jene Jugendlichen treffen, deren Kleidung meiner ähnelt?“
Ich dachte, ich höre nicht recht.
„Also, ehrlich. Ich hab genug“, sagte ich und wollte aufstehen.
„Bleiben Sie, bitte“, sagte er schnell. „Ich wollte Sie nicht verärgern. Verzeihen Sie mir.“
„Sind Sie wirklich so, wie Sie tun?“ fragte ich ihn.
„Ich – ich verstehe nicht, was Sie meinen.“
„Haben Sie mir vorhin nicht zugehört, als ich sagte, dass sich Männer vor 100 Jahren so verhalten haben, wie Sie es tun?“
Er lehnte sich zurück und sah mich durchdringend an.
„Was ist daran falsch, wenn man Damen respektvoll behandelt? Mir gefallen die Manieren der heutigen Jugend nicht sehr. Ich bin jedes Mal sehr erstaunt, wenn ich beobachte, wie sie sich untereinander verhalten. Auch muss ich Ihnen gestehen, dass ich das Verhalten den Eltern oder älteren Menschen gegenüber missbillige. Die heutige Jugend hat vor nichts mehr Respekt. Ist das nicht ein Zeichen dafür, dass die Menschheit verroht?“
Dieser Mann war ein Wunder!
„Woher kommen sie wirklich?“ fragte ich. „Sind Sie vielleicht ein Zeitreisender, - einer der aus der Vergangenheit kam?“
Das war aber wirklich nur scherzhaft gefragt!
„Vielleicht bin ich das?“ tat er geheimnisvoll und lächelte wieder.
„Man könnte ihnen fast glauben. Übrigens, warum trinken sie Ihren Kaffee nicht?“ fragte ich, da ich meinen bereits ausgetrunken hatte.
„Ich wollte nur Ihre Gesellschaft“, sagte er leise.
„Ich fühle mich geehrt!“ lachte ich.
„Oh nein, ich bin es, der sich geehrt fühlen muss.“
„Okay, auch gut. Aber ich muss jetzt wirklich los. In einer viertel Stunde muss ich im Büro sein. Eigentlich wollte ich heute schon früher dort sein, weil im Moment viel Arbeit ist, - aber diese Einladung von Ihnen konnte ich mir nicht entgehen lassen“, sagte ich und stand auf.
Auch er erhob sich schnell.
„Verzeihen Sie, wenn ich sie aufgehalten habe…“
„Hören Sie bitte damit auf. Sie haben mich nicht aufgehalten. Ach ja, - danke für den Kaffee!“
„Nichts zu danken. Es war mir eine Ehre“, sagte er und ging voraus.
Draußen bot er mir wieder seinen Arm an.
„Darf ich sie zu Ihrem Büro geleiten?“ fragte er.
„Das ist sehr nett, - aber es ist nur zwei Häuser weiter.“
„Dann gehen wir zwei Häuser weiter“, sagte er lächelnd, wobei mir sein Lächeln diesmal schon etwas wärmer erschien.
 
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Ich hakte mich unter und wir gingen zwei Häuser weiter.
„Ist es Ihnen genehm, wenn ich sie nach der Arbeit hier abhole?“ fragte er, als wir vor dem Tor standen.
„Gerne! Und versuchen Sie inzwischen, sich ein bisschen die Art der heutigen Jugend anzugewöhnen. Das wäre mir bedeutend lieber. Also dann, - um 18h verlasse ich das Büro“, sagte ich und verschwand so schnell ich konnte.

Ich konnte mich nicht gut auf meine Arbeit konzentrieren, da ich die meiste Zeit an ihn denken musste. Und ich bemerkte, dass meine letzten Worte an ihn gelogen waren. Es wäre mir nicht bedeutend lieber gewesen, sich ein bisschen die Art der heutigen Jugend anzugewöhnen. Es gefiel mir, wie er sich verhielt – wie er sich mir gegenüber verhielt. Er wirkte so schön nostalgisch auf mich, auch wenn sein Äußeres viel mehr dem Modernen entsprach.
Aber halt, - dachte ich, ganz so hielt er sich doch nicht an jene Manieren, denn er hatte sich mir nicht vorgestellt! Wie mag wohl sein Name sein? – überlegte ich und malte mir die seltsamsten Namen in Gedanken aus, obwohl jede Menge Arbeit auf mich wartete.

Als es gegen 18h ging, blickte ich oft aus dem Fenster. Das Büro, in dem ich arbeitete, ging zur Straßenseite hinaus. Und siehe da, - punkt 17h45 stand er an der gegenüberliegenden Seite und hielt einen Blumenstrauß in seiner Hand. Eigentlich hätte ich erwartet, dass er sich endlich einmal umzieht, - aber er hatte noch immer seine übliche schwarze Kleidung an, die so wunderbar sein langes Blondhaar hervorhob.
Ich fand, er war absolut ein Vorzeigetyp, mit dem ich sicher überall Aufsehen erregen müsste. Aber schon meine beiden Freundinnen, Marion und Susanne, waren nicht sehr begeistert von ihm, was mich wirklich wunderte.
Im Büro arbeitete ich mit Gerda zusammen. Sie war zwar schon über 30 Jahre alt und interessierte sich sicher nicht sehr für Männer, die jünger sind als sie, - aber ich wollte trotzdem wissen, wie mein Kavalier auf sie wirkt.
„Gerda, schau mal aus dem Fenster. Sieh dir diesen Typ im schwarzen Ledermantel da drüben an. Er ist mein heutiges Date“, sagte ich.
Gerda stand auf und trat ans Fenster.
„Extrem“, sagte sie kurz angebunden und setzte sich wieder hinter ihren Schreibtisch.
„Was meinst du mit – extrem?“
„Er sieht extrem aus. Nicht unbedingt mein Typ“, meinte sie.
„Findest du ihn nicht süß?“ fragte ich.
Gerda blickte noch mal aus dem Fenster.
„Nein. Wenn ich ehrlich sein soll, finde ich ihn eher abstoßend. Er hat so was - so was… Ich kann gar nicht sagen, wie er auf mich wirkt. Also, nein, mit dem möchte ich nichts zu tun haben.“
Ich war total enttäuscht und verstand die Welt nicht mehr.
„Der ist doch urhübsch, Gerda! Das lange blonde Haar, - die tolle Figur, groß und schlank und dann dieses Gesicht, fast mädchenhaft. Ich finde, er ist ein Traum und müsste allen Frauen gefallen.“
„Mir gefällt er nicht“, sagte Gerda und setzte sich wieder.
Gerda war meist sehr kurz angebunden. Sie war ein echtes Arbeitstier. Oft, wenn ich mit meinen Schreibereien nicht fertig wurde, war sie da und half mir kameradschaftlich. Ich habe in diesen Jahr, seit ich hier arbeitete, noch nie ein böses Wort von ihr gehört, oder dass sie zum Chef tratschen ging, wenn ich mal mein Pensum nicht erledigen konnte. Von Anfang an wies sie mich geduldig und fast liebevoll ein, auch wenn sie ziemlich wortkarg war.
„Würdest du mich von ihm abraten?“ fragte ich nachdenklich.
Gerda blickte auf.
„Wenn du mich so fragst, - ja, das würde ich.“
„Und warum?“
„Ich weiß es nicht. Es ist nur so ein Gefühl.“

Kurz nach 18h verließ ich das Büro. Die liebe Gerda machte noch eine Überstunde – freiwillig, um mir einen Teil meiner Arbeit abzunehmen. Auch wenn sie kein so gutes Gefühl dabei hatte, wünschte sie mir ein schönes Date mit meinem Kavalier.
Als ich aus dem Tor trat, kam er über die Straße und überreichte mir den Blumenstrauß. Es waren Lilien, - weiße Lilien!
„Darf ich Ihnen eine Kleinigkeit übergeben?“
„Oh, wie schön! Mir hat noch nie ein Mann Blumen geschenkt!“ freute ich mich.
„Dann freut es mich um so mehr, dass ich der Erste sein darf“, sagte er und bot mir, wie gewohnt, seinen Arm an.
„Und was unternehmen wir?“ fragte ich.
„Was immer Ihr Wunsch ist.“
„Zuerst würde ich gerne nach Hause, - duschen und mich umziehen. Nachher könnten wir ja irgendwohin essen gehen.“
„Wie es Ihnen beliebt.“

Er verhielt sich ziemlich schüchtern, als ich ihn in meine bescheidene kleine Wohnung ließ. Zumindest war meine Wohnung für einen Single groß genug…
„Setzen Sie sich. Ich werde mich beeilen“, sagte ich im Wohnzimmer zu ihm und ging ins Schlafzimmer, um frische Kleidung zu holen.
Ich hatte nicht so viel Auswahl, da ich mich um Mode kaum scherte. Am liebsten trug ich sowieso Jeans und Sweater oder T-Shirt, aber ich hatte auch zwei Kleider, die sich für einen Abend wie diesen eigneten. Eines davon fischte ich aus dem Schrank, wo ich dachte, dass ich damit sehr gut zu ihm passen würde. Es war ein schwarzes halblanges Kleid, mit Spitzen und Rüschen unten am Saum und wirkte ein bisschen nach ‚Gothic’.
Dann huschte ich ins Badzimmer, aber nicht ohne noch einmal einen Blick ins Wohnzimmer zu werfen, wo er auf der Couch saß. Er saß noch immer genauso da, wie ich ihn verlassen hatte – brav und anständig.
Die lauwarme Dusche tat gut. Haare waschen musste ich nicht, - das hatte ich erst gestern getan. Und bei meinen wilden, dunklen Locken – ich hatte wirklich dankbares Haar – war häufiges Waschen nicht nötig.
So stand ich nun unter der Dusche, - mein langes Haar zusammengebunden und hochgesteckt, um es nicht nass werden zu lassen und genoss das Wasser, wie es über meinen Körper floss. Plötzlich spürte ich eine Bewegung am Duschvorhang. Ich schob ihn leicht zur Seite – und – da stand er!
„Das sind aber keine guten Manieren“, sagte ich halb im Scherz, denn ich war wirklich überrascht.
Er aber schwieg und schob den Vorhang ganz zur Seite. Sein Blick wanderte über meinen Körper, aber ich konnte in seinen Augen wieder keine Regung erkennen. Nicht einmal seine Pupillen wurden größer. Ja, es mag verwunderlich erscheinen, dass ich darauf achtete!
Ich stellte das Wasser ab und sah ihn wieder an.
„Und jetzt?“ fragte ich und versuchte zu lächeln, was mir aber nicht ganz gelang.
„Sie sind wunderschön“, sagte er leise.
„Danke! Aber würden Sie mich jetzt fertig duschen lassen?“
Das schien er jedoch überhört zu haben, denn er streckte seine Hand nach mir aus – genauer gesagt, legte er seine Hand um meine Hüften und zog mich an sich. Ich ließ es einfach zu. Ich war in diesem Moment richtig gedankenlos, - fast wie in Trance. Ob ich irgendetwas spürte? Das kann ich nicht mehr sagen. Wahrscheinlich war ich aufgeregt und spürte sogar ein Prickeln, aber es war doch ganz anders wie bei anderen Jungs.

Mein letzter Freund war gegen ihm ein echter Rüpel. Er war übrigens mein dritter fester Freund.
Meinen ersten Freund, der mich entjungferte hatte ich, als ich 16 war. Das ging aber nicht lange, höchstens drei Monate. Dann wurde er für mich uninteressant, da ich mich bereits in einen Anderen verguckt hatte.
Und der Andere wurde mein zweiter Freund, mit dem es etwa ein Jahr lang gut ging, bis er mir auf die Nerven ging.
Dann war einige Zeit Ruhe, bis ich Roland, den Rüpel, in einer Disco kennen lernte. Anfangs war ja alles okay und ich fand mich aus reiner Verliebtheit damit ab, dass alles immer nach seinem Kopf gehen sollte. Aber langsam wurde es mir zu blöd, wenn ich mal etwas entschied und er darauf sagte: „Das kannst alleine machen.“
Von Roland trennte ich mich vor etwa einem halben Jahr. Von da an entschloss ich mich, eine zeitlang Single zu bleiben. Zu dieser Zeit zog ich auch bei meinen Eltern aus und mietete mir eine Wohnung, - jene, in die ich meinen „Kavalier“ mitgenommen hatte.

Und da war er nun, mein „Kavalier“ und hielt mich, nackt und nass vom Duschen, in seinen Arm. Mit der anderen Hand löste er mein Haar und drückte leicht meinen Kopf zurück. Ich sah, wie er auf meinen Hals blickte. Abermals glaubte ich, eine Reaktion in seinen Augen zu entdecken, - aber es war zu kurz, denn schon senkten sich seine Lippen hinunter zu meinem Hals.
Ich schloss die Augen. Seine Lippen waren genauso kalt wie seine Hände – wie alles an ihm. Aber es fühlte sich doch zärtlich an. Noch! Bis ich ein echt schmerzhaftes Brennen am Hals fühlte, - wie bei einer Injektion, aber viel ärger. In diesem Moment wollte ich mich wehren. Es war zu spät, weil ich mich plötzlich immer schwächer fühlte. Mir war, als würde sich die ganze Welt von mir zurückziehen – wie in Zeitlupe. Dann war alles um mich schwarz. Ich wurde ohnmächtig.

Als ich aufwachte, lag ich auf der Couch. Ich war in einem Badetuch eingehüllt. Mein Kavalier kniete vor mir und sah mich an.
„Sie sind ohnmächtig geworden“, sagte er.
Ich versuchte mich zu erinnern, wie das passiert war, aber da war nichts mehr. Ich wusste, dass ich im Schlafzimmer war und dann mit dem schwarzen Kleid ins Badezimmer ging, unter der Dusche stand, - aber dann war es finster. Ich konnte mich nicht mehr daran erinnern, dass mein Kavalier mir ins Badezimmer gefolgt war. Das war ausgelöscht – vollkommen ausgelöscht!
Mir ging es auch nicht gut. Ich fühlte mich total geschwächt, als hätte ich eine Grippe, oder eine noch schlimmere Krankheit, die alle Energie aus mir saugt. Es fiel mir sogar schwer, meine Hand zu heben.
„Was ist geschehen?“ fragte ich müde.
„Sie sind während dem Duschen zusammengebrochen. Ich habe ein Geräusch aus dem Badezimmer gehört und ging nachsehen. Und da lagen Sie – halb in der Duschkabine, halb außerhalb. Ich habe Sie in ein Badetuch gehüllt und hier auf die Couch gelegt. Gerade wollte ich die Ambulanz verständigen, da haben Sie Ihre Augen aufgeschlagen.“
„Ich fühle mich todkrank“, stöhnte ich. „Ich fürchte, ich kann heute nicht ausgehen.“
„Kann ich etwas für Sie tun?“
Ich versuchte den Kopf zu schütteln, weil mir jedes Wort schwer fiel, - aber auch die Kopfbewegung war eine Plage.
„Lassen Sie mich alleine“, hauchte ich wie mit letzter Kraft und schloss die Augen.

Es war finster, als ich abermals erwachte. Ich fühlte mich noch immer ein wenig schwach, aber meine Glieder waren nicht mehr so schwer. Schwerfällig richtete ich mich auf und knipste die Stehlampe neben der Couch an. Ich blickte mich um. Ich war alleine. Mein Kavalier, der sich mir noch immer nicht namentlich vorgestellt hatte, war wohl gegangen.
Mir war leicht schwindlig, als ich aufstand. Zuerst wankte ich zur Eingangstür. Sie war zu. Ich musste nicht unbedingt abschließen, da sie von außen ohnehin nur mit Schlüssel zu öffnen ist. Dann sah ich in der Küche nach. Niemand da. Als nächstes torkelte ich ins Badezimmer. Dort war alles sauber, als hätte ich nie geduscht. Sogar meine Jeans, mein T-Shirt und die Unterwäsche waren im Schmutzwäschekorb verstaut, obwohl ich mich nicht erinnern kann, dass ich sie hinein geworfen hätte. Als nächstes sah ich im Schlafzimmer nach. An der Schranktür hing mein schwarzes Kleid auf einem Kleiderhaken. Ich wusste noch, dass ich es ins Badezimmer mitgenommen hatte.
Und dann erschrak ich. Die Schanktür, an der mein Kleid hing, war verspiegelt. Ich starrte auf mein Spiegelbild und glaubte, dem Tod persönlich gegenüber zu stehen. Meine Augen lagen ziemlich tief. Ich sah dunkle Ringe unter meinen Augen. Mein Gesicht war schneeweiß, als hätte ich eben erbrochen. Aber der eigentliche Schreck wurde durch die Wunde an meinem Hals ausgelöst. Links, an der Schlagader, war alles gerötet und sogar leicht angeschwollen. Und was ich dann sah, konnte ich zuerst gar nicht glauben! Da waren zwei Einstiche! Es sah aus, als hätte mich ein Vampir gebissen!
Vor Schreck zitterten meine Knie und ich musste mich auf die Bettkante hinter mir setzen. Ich berührte die Wunde an meinem Hals. Es brannte fürchterlich. Was war das nur? Und wohin war mein namenloser Kavalier verschwunden?
Ich blickte auf die Weckeruhr. Es war 2h morgens. Alleine diese Zeitansage machte mich sofort wieder müde und ich kroch ins Bett, um weiter zu schlafen.

Am Morgen, als der Wecker läutete, fühlte ich mich noch immer wie gerädert.
Der Badezimmerspiegel war auch nicht gerade freundlich zu mir, denn ich war noch immer ziemlich blass und hatte dunkle Ringe unter den Augen. Also legte ich eine dicke Schicht Make-up auf, zog mich an und verließ die Wohnung, um pünktlich ins Büro zu kommen.
Vor der Tür, auf der Straße, bekam ich den nächsten Schock. Alles war so grell, dass ich kaum etwas sehen konnte. Ich kramte in meiner Handtasche nach der Sonnebrille und setzte sie auf. Dann war es schon besser.
 
Im Büro, bevor ich schnell an allen anderen Büroräumen vorbei geschlichen war, sah mich Gerda ziemlich seltsam an.
„Muss ja eine aufregende Nacht gewesen sein“, sagte sie grinsend.
„Geht so“, meinte diesmal ich kurz angebunden, denn ich wollte nicht darüber sprechen, bevor ich nicht wirklich Klarheit über das hatte, was geschehen war. Immerhin konnte ich mich an nichts erinnern, was mich ganz besonders quälte. Von irgendwoher müssen diese seltsamen Einstiche doch gekommen sein!
Während der Arbeit behielt ich die Sonnebrillen auf. Ich schien plötzlich sehr lichtempfindlich geworden sein.
Noch etwas verunsicherte mich, als Gerda in der Mittagspause ihre Jause auspackte. Ich hatte absolut keinen Hunger, obwohl ich seit gestern Mittag nichts gegessen hatte. Das heißt, ich fühlte mich noch immer schwach und hatte schon eine Art Hungergefühl, aber vor jeder Nahrung, an die ich dachte, ekelte es mich. Nicht einmal einen Schluck Wasser bekam ich runter.

Ich hoffte, als ich kurz nach 18h das Büro verließ, meinen Kavalier zu sehen, der mich vielleicht abholte. Aber er war nicht da. Also trabte ich nach Hause, ging unter die Dusche und versuchte, den Hergang von gestern zu rekonstruieren. Da war nichts, - absolut keine Erinnerung, die mir weiterhelfen hätte können.
Ich war auch plötzlich in einer sehr depressiven Stimmung, die ich mir ebenso wenig erklären konnte, wie meine Appetitlosigkeit und meine noch immer anhaltende Müdigkeit.
In meinen flauschigen, hellblauen Bademantel gehüllt warf ich mich auf die Couch und schaltete den Fernseher ein. In diesem Moment läutete mein Handy, das ich vor mir auf dem Tisch liegen hatte. Meine Freundin Marion war dran. Sie fragte, ob ich Lust hätte, heute mit ihnen in die Disco der Nachbarstadt zu fahren. Ich sagte ab, weil ich mich fühlte, als würde ich eine Grippe ausbrüten.
„Sei vorsichtig, denn Sommergrippen sind besonders gefährlich“, sagte Marion und wünschte mir anschließend gute Besserung.
Ich lehnte mich wieder auf der Couch zurück und zappte durch einige Kanäle. Bei einem Programm hielt ich inne. Es war eine Doku über Fledermäuse. Eigenartig, - dachte ich, da ich mich fühlte, als hätte mir jemand eine ziemlich große Menge Blut abgezapft. Nun ja, nicht alle Fledermäuse trinken Blut. Fledermaus – das ist ja nur ein Überbegriff, obwohl es – wie in der Doku gesagt wurde – Blutsauger unter diesen Tierchen gibt. Als ich sah, wie sich so ein Tierchen am Nacken einer Kuh festbiss, überkam mich ein Gefühl, das mir bisher vollkommen fremd war. Ich hatte plötzlich den Geschmack von Blut in meinem Mund und fand ihn einfach köstlich.
Es läutete an der Wohnungstür. Zuerst wollte ich nicht aufmachen und stellte die Lautstärke am Fernseher zurück. Was aber, wenn es mein Kavalier war, dem ich unbedingt einige Fragen stellen musste?
Also erhob ich mich und schaute durch das Guckloch. Ja, er war es!
Ich öffnete und sah ihn sehr, sehr wütend an.
„Komm herein“, sagte ich – mit wütender Stimme.
Als er eingetreten war – natürlich wieder in derselben Kluft wie immer, schloss ich die Tür und ging auf ihn zu. Ich stieß ihn zur Couch, - mit einer Kraft, die mir selbst fremd war. Als er sich durch die Wucht meines Stoßes setzen musste, nahm ich auf dem Tisch vor ihm Platz.
„Und jetzt mein Freund erzählst du mir alles, was ich von dir wissen will“, begann ich. „Und die Zeit mit dem ‚Sie’ ist auch vorbei. Es wäre sehr höflich von dir, wenn du dich mir einmal vorstellen würdest. Mir genügt auch schon dein Vorname. Mein Vorname ist übrigens Verena.“
„Verzeihen Sie – ah, verzeih mir. Ja, das war eine Unhöflichkeit von mir. Nun gut, mein Name ist Aleksander“, wobei er fast jeden Buchstaben seines Namens einzeln betonte, dass ich durchaus gut heraus hören konnte, wie sein Name geschrieben wird.
„Okay, Aleksander! Und jetzt schön der Reihe nach. Was ist gestern passiert, als ich unter der Dusche stand?“
„Das sagte ich dir bereits. Ich hörte ein Geräusch und ging nachsehen…“
„Hör auf mit diesem Quatsch!“ schrie ich ihn an. „Ich weiß, dass das alles nicht wahr ist. Ich kann mich zwar an nichts erinnern, dennoch weiß ich, dass das nicht die Wahrheit ist. Du hast irgendetwas mit mir angestellt. Da schau her“, sagte ich und zeigte ihm die Einstiche, die ich tagsüber bei der Arbeit mit einem leichten Seidentuch verdeckt hatte.
Als er auf meinen Hals sah, veränderte sich sein Blick. Er neigte sich näher zu mir und ich sprang auf.
„Komm mir ja nicht zu nahe!“ zischte ich und hielt meine Hände abwehrend vor mir.
„Keine Angst, Verena. Ich wollte mir es nur genauer ansehen“, sagte er mit seiner ungewöhnlich tiefen Stimme.
„Was willst du überhaupt hier? Warum bist du gekommen?“ fragte ich, als ich mich wieder halbwegs beruhigt hatte. Aber ich setzte mich nicht vor ihm auf den Tisch, sondern blieb neben der Couch – im Respektabstand – stehen.
„Ich wollte dich sehen und dich fragen, ob du vielleicht mit mir einen kleinen Ausflug an den See machen möchtest. Es ist noch hell genug, um einen schönen Spaziergang am See zu machen.“
„Ausflug? Hast du ein Auto?“ fragte ich.
„Ich habe ein Taxi bestellt. Es wartet unten auf uns.“
Ich überlegte.
„Gut! Ich komme mir dir, - aber unter der Bedingung, dass du mir während des Spazierganges alles erzählst.“
Er nickte stumm.
Ich huschte ins Schlafzimmer und zog das Kleid an, das noch immer an der Schranktür hing, obwohl es sich keineswegs für einen Spaziergang am See eignete. Dann schlüpfte ich in flache schwarze Pömps, die gut dazu passten, schnappte meine Tasche und schaute Aleksander herausfordernd an.
Er stand schweigend auf und folgte mir aus der Wohnung.

Unten wartete wirklich ein Taxi. Ich stieg hinten ein, - Aleksander vorne, der den Fahrer höflich bat, uns an den See zu fahren. Im Auto setzte ich wieder meine Sonnebrille auf, da mich das Licht noch immer blendete.
An der Promenade angekommen, stiegen wir aus. Aleksander bezahlte den Taxifahrer und ließ ihn abfahren.
„Wie kommen wir wieder zurück?“ fragte ich.
Er fasste in seine Manteltasche und zeigte mir ein Handy.
„Gut!“ sagte ich und ging des Weges.
Aleksander ging schweigend neben mir, - diesmal, ohne mir seinen Arm anzubieten. Auch ich schwieg. Am Ende der Seepromenade führte ein Weg in den nahen Wald. Ich zögerte, aber als Aleksander voraus ging, folgte ich ihm.
Im Wald war das Licht für mich angenehmer, dass ich die Sonnebrille abnehmen konnte. Ich atmete tief die angenehme Luft ein und fand es wirklich schön hier. Es war schon länger her, dass ich diesen Weg gegangen war – zuletzt mit meinem Vater, der gerne Pilze suchte. Und das war sicher schon gute acht Jahre her.
Am Waldweg entlang war alle paar Meter eine Holzbank aufgestellt, wo sich müde Wanderer ein bisschen ausruhen können. Ich war im Moment zwar nicht müde, aber ich wollte endlich mit Aleksander reden, also setzte ich mich auf eine dieser Bänke. Er nahm neben mir Platz und sah mich mit seinen durchdringenden Augen an.
„Und jetzt sag mir, bitte, die Wahrheit“, bat ich ihn.
Aleksander rückte näher zu mir und legte seinen Arm um meine Schultern. Ich weiß nicht mehr, warum ich es zuließ. Ich drückte mich sogar noch fester an ihn, und es gefiel mir. Seine Lippen berührten sanft meine Wangen und streichelten zurück an mein Ohr. Zärtlich strich er meine dunklen Locken zurück, dann biss er zu – genau an derselben Stelle wie gestern. Es brannte fürchterlich und ich fühlte, wie mehr und mehr Blut meinen Körper verließ. Ich hätte mich nicht wehren können, da ich wie gelähmt in seinen Armen lag. Kurz darauf wurde ich ohnmächtig.

Als ich wieder zu mir kam, saßen wir noch immer auf der Bank. Aleksander hatte den Arm um mich gelegt und hielt mich mit der anderen Hand fest an ihn gedrückt. Ich hob meinen Kopf und blickte zu ihm hoch.
„Jetzt weißt du, was passiert ist“, sagte er leise.
Ich war noch unfähig dazu, etwas zu sagen. In mir drehte sich alles. Diesmal fühlte ich mich nicht mehr so schwach wie gestern. Ich hätte aufstehen und gehen können, wenn ich es gewollt hätte. Es war etwas anderes, warum sich alles in mir drehte, - es war die Realität, die ich nicht mehr begreifen konnte. Ich fragte mich innerlich, ob ich vielleicht träume, - ob ich die letzten Tage, seit ich Aleksander das erste Mal gesehen hatte, nur geträumt habe. Ich berührte meinen Oberarm und zwickte hinein.
„Autsch!“ stieß ich hervor.
„Was ist?“ fragte Aleksander.
„Ich habe mir eben in den Oberarm gekniffen, um herauszufinden, ob ich träume.“
Aleksander seufzte.
„Es ist kein Traum, Verena. Ich dachte damals auch, dass ich träume. Aber dem war nicht so.“
„Damals?“ fragte ich.
„Ja, vor einigen hundert Jahren.“
Ich richtete mich auf und starrte ihn an.
„Ich bin das, was Menschen einen Vampir nennen, Verena. Ich weiß, wie verrückt sich das anhört. Aber es ist wahr. Es gibt Vampire. Sie existieren tatsächlich.
Mich hat eine Frau zum Vampir gemacht. Sie hat sich als Privatlehrerin ausgegeben. Meine Eltern wussten nicht, dass sie es auf mich abgesehen hat. Nachdem sie mich das dritte Mal gebissen hatte, starb ich. Mein angeblich toter Körper wurde begraben. Der Arzt sagte meinen Eltern, dass ich anscheinend von einem höchst giftigen Tier gebissen wurde und daran gestorben bin. Ich habe alles mit angehört, aber ich war bewegungslos, dass ich nicht einmal meine Augen öffnen konnte.
Ich bekam auch mit, wie ich in einen Sarg gelegt wurde, - wie der Sarg in ein Grab gelassen wurde und wie sie die Erde auf den Sarg schütteten. Normalerweise hätte ich in Panik geraten müssen, aber ich war innerlich vollkommen ruhig. Es war dann so, dass ich sogar schlafen konnte. Ich schlief solange, bis mich die Privatlehrerin und andere Vampire aus dem Grab befreiten. Dann war ich einer von ihnen.
Als ich dir sagte, dass meine Eltern sehr alt wurden, hatte ich nicht gelogen. Ich blieb in ihrer Nähe und beobachtete sie, weil ich neugierig war, wie ihr Leben ohne mich weitergeht. Ich war nicht ihr einziges Kind, sondern hatte einen älteren Bruder und zwei Schwestern. Auch sie beobachtete ich – bis sie starben. Dann erst verließ ich das Land. Es war übrigens wirklich Rumänien. Wir waren ein der wenigen sehr reichen Familien damals. Ich wusste auch, wo der Familienschatz zu finden war. Und bevor ich das Land verließ, holte ich mir einiges von diesem Schatz.
Natürlich reichte ich nicht sehr lange damit. Großteils lebte ich von nächtlichen Einbrüchen. Bis heute hat mich niemand erwischt.“
Ich empfand plötzlich tiefstes Mitleid mit Aleksander.
„Bedeutet das, dass du unsterblich bist?“ fragte ich.
„Ich bin tot, Verena. Ich kann nicht mehr sterben.“
„Und die Geschichte mit dem Holzpflock?“
Aleksander lachte gequält auf.
„Ein Ammenmärchen, - nichts weiter. Ich kenne Vampire, die bereits mehrere tausend Jahre so dahin fristen. Sie sind wirklich die sehr Alten.“
„Und ihr alle lebt vom Blut der Menschen?“ fragte ich.
Aleksander nickte.
„Die meisten sterben, wenn wir ihr Blut getrunken haben. Nur wenige – so wie du – überleben den ersten Biss. Dann wissen wir, dass jene, die überleben, auch so werden wie wir.“
Ich konnte es noch immer nicht richtig glauben. Und als ich die Worte: „Dann bin ich jetzt also ein Vampir“, aussprach, war mir, als hätte das jemand anderer gesagt.
„Du wirst zum Vampir, wenn ich dich ein drittes Mal beiße.“
„Und wenn nicht?“
„Dann wirst du innerhalb weniger Tage einfach sterben.“
„Habe ich eine Wahl?“ fragte ich.
„Ja, du hast eine Wahl. Wir Vampire sind nicht so unmenschlich, wie man es uns nachsagt.“
„Nicht unmenschlich?“ brauste ich auf. „Du hättest mich überhaupt nicht beißen müssen!“
Zum Glück waren keine Menschen in der Nähe…
„Ich brauche Blut, Verena.“
„Also könntest du doch sterben!“
„Nein, ich kann nicht sterben, - nicht einmal dann, wenn ich nie wieder Blut trinke. Aber es wäre ein ziemlich qualvolles Dasein, und das für alle Ewigkeit.“
Aleksander fasste in seine Manteltasche, holte das Handy hervor und rief nach einem Taxi.
Schweigend gingen wir zurück zur Promenade und warteten auf das Taxi.

An der Haustür angekommen, nahm Aleksander meine Hand und sah mich an.
„In drei Tagen komme ich zu dir. Bis dahin musst du dich entscheiden, ob du sterben oder zum Vampir werden willst. Am vierten Tag wird es dir bereits schwer fallen, darüber nachzudenken.“
Mit diesen Worten ließ er mich stehen und ging.
 
Diese drei Tage waren für mich die reinste Qual. Nicht nur, dass ich mich entscheiden musste, sondern auch wegen meiner veränderten Wahrnehmung. Das Tageslicht blendete mich auch schon ohne Sonnebrille, dass ich davon irre Kopfschmerzen hatte, und überall sah ich seltsame Schatten, als wären das Seelen von Verstorbenen.
Meinen Freundinnen musste ich jedes Mal absagen, wenn sie mich anriefen – und im Büro konnte ich auch nichts mehr zufrieden stellend erledigen, dass mich der Chef in den Krankenstand schickte.
Und so hockte ich zweieinhalb Tage in meiner Wohnung und ging dort wie ein Tiger im Kreis. Mir wäre lieber gewesen, wenn sich Aleksander schon früher hätte blicken lassen, dass ich wenigstens mit jemanden reden könnte. Aber er hielt sein Wort und ließ mich frei entscheiden, ohne mich vielleicht dazu überreden zu wollen, ein Vampir zu werden.

Aber was blieb mir schon anderes übrig? Wer stirbt schon gerne? Und – was wissen wir überhaupt vom Tod? Gibt es ein Leben nach dem Tod, oder ist der Tod das Aus und Vorbei? Alles Fragen, die niemand wirklich beantworten kann, - selbst jene nicht, die behaupten, schon mit Verstorbenen kommuniziert zu haben. Das könnte doch alles nur Einbildung sein. Oder?
Ich dachte auch an Nahtoderfahrungen, - an das Licht am Ende des Tunnels. Oder an manche Dichter, die schrieben, dass das Schönste am Leben der Tod sei, denn diese Erfahrung sei so gewaltig, dass es sich durchaus lohnt zu sterben. Ja, haben wir überhaupt eine Wahl? Schon wenn wir geboren werden, sitzt uns der Tod im Nacken!
Aber ich hatte eine Wahl! Ich hatte sogar die Wahl auf eine sehr seltsame Art unsterblich zu werden…

In diesen Tagen kam mich auch meine Mutter besuchen. Sie hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, mich etwa zweimal im Monat zu besuchen. Natürlich ging ich auch öfters in mein Heimathaus, - das ich – meinen Eltern nach – einmal ohnehin erben werde. Aber in letzter Zeit fielen diese Besuche aus.
Meine Mutter war ziemlich entsetzt, als sie mich sah. Sie fragte mich auch, ob ich Halsschmerzen habe, weil ich ein Tuch um den Hals trage. Ich gab natürlich zu, dass ich mich ziemlich mies fühle und im Krankenstand bin. Aber bis jetzt habe ich noch keinen Arzt gerufen. Das wollte meine Mutter sofort tun, aber ich konnte sie dennoch beruhigen und versprach ihr, am nächsten Tag einen Arzt zu rufen.
Meine Mutter sagte, sie werde in zwei Tagen wieder kommen. Ich gab ihr, als sie mich verließ, meinen zweiten Wohnungsschlüssel, - im Fall, dass ich vielleicht im Bett liege und schlafe und das Läuten an der Wohnungstür nicht höre.
„Lass Papa lieb von mir grüßen“, sagte ich an der Wohnungstür und fühlte den dicken Kloß im Hals.
Ich hätte meine Mutter noch gerne umarmt, aber das – so dachte ich – wäre vielleicht auffällig gewesen. Ich habe meine Mutter und auch meinen Vater schon lange nicht umarmt. Ich weiß auch nicht mehr, wann das aufgehört hat – und warum die Beziehung zwischen uns so körperlos geworden war. Es gab nie Probleme zwischen meinen Eltern und mir. Wir verstanden uns eigentlich die Freunde. Aber es gab keine körperlichen Zärtlichkeiten, was mir auch erst in dem Moment auffiel, als ich meine Mutter beim Abschied umarmen wollte.
Oft sah ich Jugendliche – in meinem Alter – mit ihren Eltern, die sich gegenseitig umarmten und küssten. Aber noch nie hatte ich darüber nachgedacht, warum es in meiner Familie nicht so war. Ich war ein Einzelkind. Vielleicht lag es daran? Ich hatte keine Konkurrenz. Die Liebe meiner Eltern war mir sicher, also musste ich mich nicht sehr bemühen.
Dennoch, - an diesem frühen Abend, als ich meiner Mutter nachsah, wie sie die Treppen hinunter ging, wünschte ich mir, es wäre anders gewesen und ich hätte nie damit aufgehört, sie zu umarmen.
War überhaupt ich es, die damit aufgehört hat? Ich weiß es wirklich nicht mehr. Auf jeden Fall überkam mich in diesem Moment so sehr die Sehnsucht, meine Mutter, oder meinen Vater körperlich zu spüren.
Ich hätte ihr nachlaufen können, aber ich tat es nicht…

Am dritten Tag fühlte ich mich etwas schlapp und wachte mit enormen Kopfschmerzen auf.
Übrigens – ich hatte in diesen Tagen noch immer nichts gegessen und auch nichts getrunken. Es wunderte mich, dass ich nicht einmal Durst nach Blut hatte.
Der Tag wollte und wollte nicht vergehen. Am Nachmittag war ich so durcheinander, dass ich sogar die Wohnung verließ und in die Kirche ging. Ja, - ich ging wirklich in die Kirche. Einfach so, - in die leere, stille Kirche, um vielleicht dort eine Antwort auf meine große Frage zu bekommen.

Mein Gott, wie lange war ich schon nicht in der Kirche? Ich glaube, das letzte Mal, als ich noch zur Schule ging, - bei der Abschlussfeier.
Es war angenehm kühl in der Kirche und auch angenehm dunkel. Ich ging das Seitenschiff entlang zum kleinen Altar der „Mutter Gottes“. Ich blickte zur Statue hoch, die eine schöne junge Frau in einem langen, blauen Kleid und einem weißen Schleier über dem Haupt darstellte. Unter dem Schleier sah ich lange, dunkle Locken, die ihr bis zu den Hüften reichten. Sie hatte ein wunderbar sanftes Gesicht, mit leicht lächelnden Lippen. Ihre Augen waren groß und warm und strahlten enorme Güte aus.
Ich fragte mich, wie der Künstler es nur fertig brachte, einer Statue so viel Gefühl einzuhauchen, wie es nicht einmal viele Lebende ausstrahlen.
Vor dem Altar waren eine Bank zum Niederknien und ein langer Tisch, auf dem Kerzen standen. Einige wenige brannten. Ich überlegte, ob ich vielleicht auch eine Kerze anzünden sollte. Kleingeld hatte ich eingesteckt. Aber dann tat ich es doch nicht. Ich kniete mich nur hin und sah der heiligen Maria ins Gesicht – genauer gesagt, in ihre großen, braunen Augen.
„Sag du mir, was ich tun soll“, flüsterte ich.
Aber die Statue schwieg.
Ich blickte mich um, ob ich noch alleine in der Kirche bin. Und dann sah ich wieder diese seltsamen Schatten. Zwei davon schwebten direkt neben mir über den Bänken. Einen sah ich vorne am Hauptaltar – und noch zwei am Boden vor dem Kreuz, an das die Statue des Sohnes der heiligen Maria genagelt war.
Aber ich kümmerte mich nicht weiter um sie. Viel mehr faszinierte mich Jesus am Kreuz, der – wie ich dachte, - sicher vom selben Künstler stammt wie die Mutter Gottes.
Ich stand auf und trat an das Kreuz. Dieser Jesus war wirklich schön. Da war kein Ausdruck von Schmerz in seinem Gesicht. Es war sogar dasselbe weiche und sanfte Lächeln zu sehen, wie bei Maria. Ich fand es nur schade, dass seine Augen geschlossen waren. Aber ich vermutete helle Augen, - vielleicht ein dunkles Blau oder gar Grün, auch wenn sein Haar unter der Dornenkrone schwarz war.
Sein drahtiger schlanker Körper wirkte wie echt. Es hätte mich gar nicht gewundert, wenn er plötzlich die Augen aufgeschlagen hätte und vom Kreuz gestiegen wäre.
„Du sagst mir wohl auch nicht, was ich tun soll?“ fragte ich ihn.
Jesus schwieg, aber die Schatten neben mir bewegten sich. Ich hatte das Gefühl, dass sie in Aufruhr waren. Als ich mich nach den anderen Schatten umwandte, flatterten sie auch ziemlich unruhig umher.
Das ist keine Aufruht – dachte ich – das ist Angst. Sie hatten Angst vor mir! Nun, kein Wunder, wenn ich mich heute noch in einen Vampir verwandeln werde.
Ich erschrak noch im selben Moment über meine Gedanken. Also doch! Ich werde es tun!

Zu Hause legte ich mich auf die Couch und wartete auf Aleksander. Ich lag einfach nur da – ohne Fernsehen, ohne Radio.
Als es endlich an der Tür läutete, stand ich auf und ging, um zu öffnen.
„Schön, dass du da bist“, sagte ich zu Aleksander und ließ ihn herein.
Ich ging vor aus und setzte mich auf die Couch.
„Machen wir es hier?“ fragte ich.
„Du hast dich entschieden?“ fragte er. Das waren übrigens seine ersten Worte, da er nicht einmal gegrüßt hat, als er eintrat.
„Ja, ich habe mich entschieden. In der Kirche.“
Aleksander sah mich groß an.
„Ist das für Vampire verboten?“ fragte ich.
Aleksander gab mir keine Antwort darauf.
Er setzte sich zu mir und sah mich an.
„Hast du es dir wirklich gut überlegt, Verena?“
„Ja, habe ich. Nur – eine Frage hätte ich. Ich habe Probleme mit dem Tageslicht. Wird das ärger, wenn ich ein Vampir bin?“
Aleksander deutete auf seine Augen.
„Trage ich eine Sonnenbrille?“ fragte er mich.
„Nein. Aber warum blendet mich das Licht dann so?“
„Das sind nur die ersten Tage. Wenn du erst einmal ein Vampir bist, wird dich weder das Tageslicht, noch die Dunkelheit stören. Es wird für dich ein und dasselbe sein, denn wir Vampire sehen auch in der Dunkelheit gut.“
„Das klingt positiv. Ach ja, und wie ist es mit dem Alterungsprozess?“
„Du wirst tot sein, Verena. Tote altern nicht mehr.“
„Stimmt, sie zerfallen – und übrig bleiben ein paar Knochen“, sagte ich schnippisch.
„Du wirst auch nicht zum Knochenskelett. Schau mich an. Ich blieb so wie ich gestorben bin. Wir sind nur etwas blasser als die Lebenden, - und kalt.“
„Ja, das fiel mir an dir auf. Deine Hände sind eiskalt.“
„Unser ganzer Körper ist eiskalt. Selbst dann, wenn wir gerade Blut getrunken haben.“
„Okay. Also – beiß mich schon!“ sagte ich ungeduldig, nahm mein Halstuch ab und lehnte mich zurück.
„Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Ich und zwei andere Vampire werden dich ganz sicher aus deinem Grab befreien.“
„Rechtzeitig?“ fragte ich zur Vorsicht.
„Nachdem ich dich zum dritten Mal gebissen habe, wird es für dich keine Zeit mehr geben. Ab diesem Moment gibt es für dich selbst keine Veränderung mehr. Du bleibst so, wie du jetzt bist.
Es ist also egal, wann wir dich aus dem Grab holen. Aber ich verspreche dir, wir tun es, bevor dich der Blutdurst überkommt.“
Ich nickte und schloss meine Augen, als sich Aleksander über mich beugte.
Er biss zu. Mir war, als würde alles aus mir herausgesaugt werden, nicht nur eine große Menge Blut, sondern viel mehr meine gesamte Seele.
Für einen kurzen Moment sah ich mich selbst unter mir auf der Couch liegen, wie Aleksander an meinem Hals saugte. Mich ekelte nicht vor dem Vampir, sondern vor mir selbst.
Dann wurde alles dunkel.

Ich weiß nicht mehr, wie lange ich mich in der Dunkelheit befand. Als ich aufwachte, war mir, als läge ich in meinem Bett. Einige Menschen standen im Zimmer herum, - darunter auch meine Eltern. Meine Mutter weinte. Sie saß auf einem Sessel, der ihr zu meinem Bett gestellt wurde. Mein Vater stand neben ihr. Seine rechte Hand lag auf ihrer Schulter. Ein Arzt untersuchte mich. Die anderen, - zwei Männer und eine noch sehr junge Frau von der Ambulanz, - standen an der anderen Seite des Bettes.
Ich konnte alles sehen und alles hören, obwohl ich wie tot da lag – starr und mit geschlossenen Augen. Aleksander hatte recht. Da war keine Angst, geschweige denn Panik. Ich war innerlich vollkommen ruhig. Ich war gleichgültig all dem gegenüber, - dem Schmerz meiner Eltern und den Bemühungen des Arztes, herauszufinden, woran ich gestorben bin.
Auf jeden Fall bekam ich alles mit, - wie ich ins Leichenhaus gebracht wurde, wie meine Leiche gewaschen und angezogen wurde und wie ich in einen Sarg gelegt wurde. Es machte mir nichts aus, als sie den Deckel über mich legten und alles schwarz war. Normal hätte ich Platzangst bekommen müssen, aber mich beunruhigte absolut nichts.
Früher wünschte ich mich oft in so einen Zustand, wo mich nichts aufregen kann und ich immer und überall absolute Ruhe aufbringe. Ja, ich wünschte mich stets nur in einen gleichgültigen oder viel mehr zufriedenen Zustand. Aber das schaffte ich nie aus eigenen Kräften.
Da musste erst ein Vampir, namens Aleksander, kommen, der mich durch drei Bisse in diesen herrlichen Zustand versetzte.
Ich bekam auch mit, dass der Sarg, in dem ich lag, in die Kirche geführt wurde, - in diese Kirche, in der ich vor meinem so genannten Tod war und die heilige Maria und ihren Sohn um einen Rat bat.
In der Kirche fühlte ich so etwas wie Langeweile und hoffte, dass sie mich bald eingraben werden, um endlich wirklich Ruhe zu haben. Ich dachte nicht einmal mehr an meine Eltern und ihre Trauer um mich, und dass sie vielleicht total gebrochen sind. Ebenso wenig dachte ich an meine Freundinnen und Freunde, die beim Begräbnis anwesend waren und einige von ihnen sogar laut weinten.
Zu meinen Lebzeiten hätte es mich Stolz erfasst, weil ich so beliebt war, dass um mich geweint wurde, - dass so viele Menschen zu meinem Begräbnis kommen. Aber, als ich im Sarg lag und all das mit bekam, erfasste mich nur Langeweile, die aber meiner Gleichgültigkeit nicht allzu viel anhaben konnte.

Endlich war es so weit. Das Grab wurde zugeschüttet. Und da lag ich nun und wartete auf meine Befreier, die sogar noch in derselben Nacht kamen.
Aleksander erklärte er mir, als ich vor ihm stand, der Vampir in mir habe sich früher als sonst gemeldet, weshalb sie mich noch in dieser Nacht aus dem Grab holen mussten. Normal, so meinte er, würde es gute drei oder vier Tage dauern.
Ich hörte ihm nur halb zu, da ich mich über das Kleid ärgerte, das meine Mutter für mein Begräbnis ausgesucht hatte. Es war neu und sah fast wie ein Brautkleid aus, - lang, weiß und mit vielen Rüschen.
„Du musst es nicht anbehalten“, sagte Aleksander. „Wenn du eine andere Kleidung möchtest, werde ich sie für dich stehlen. Der Vorteil bei uns Vampiren ist, dass sich die Kleidungsstücke, die wir anziehen, genauso wie wir auch nicht verändern. Wir können jahrhunderte lang dieselbe Kleidung tragen, - sie wird nie zerschlissen.“
Ich nickte und sah auf seine Kleidung, die noch immer dieselbe war, seit ich ihn das erste Mal gesehen hatte.
 
Erst dann schaute ich mir die anderen zwei Vampire an, - einen etwas älteren Mann, der bereits graue Schläfen hatte und eine Frau in meinem Alter.
„Das ist Marcello, ein Italiener. Er wurde im sechzehnten Jahrhundert zum Vampir“, stellte mich Aleksander vor. „Und das ist Irina, eine Russin, aus der Zeit der Zarin Katharina.“
„Tja, und ich bin Verena, eine Österreicherin aus der Neuzeit“, sagte ich sarkastisch und grinste auch so. Auch vermied ich es, den beiden meine Hand zu geben, obwohl sie mir ihre Hände entgegen streckten.
Ich wandte mich um und fragte, was wir nun tun werden.
„Was immer du willst, Geliebte“, sagte Aleksander und legte seinen Arm um meine Hüften.
„Geliebte?“ stieß ich hervor, drehte mich einmal um meine eigene Achse, um seiner Umarmung zu entkommen und lachte dann laut.
Aleksander sah mich überrascht an. Seltsam, dass ich plötzlich Regungen an ihm entdeckte…
„Natürlich!“ rief er aus, - mit etwas enttäuschten Unterton in seiner tiefen Stimme. „Ich liebe dich, Verena. Ich liebte dich vom ersten Augenblick an und hoffte, du würdest meinen Biss überleben.“
„Okay, ich gebe zu, - du hast mir auch sehr gut gefallen. Aber da kann man doch nicht von Liebe sprechen.“
Aleksander senkte seinen Blick. Ich sah mich um. Die beiden anderen Vampire waren lautlos verschwunden.
„Sind sie weggeflogen?“ fragte ich.
„Wie bitte?“
„Ob sie sich in Fledermäuse verwandelt haben und weggeflogen sind?“
Aleksander lachte auf, obwohl – so spürte ich es – ihm nicht nach Lachen zumute war. Ich merkte ihm an, dass er sich Gedanken um mich machte, - um mich und unsere „Liebe“.
„Auch das ist ein Ammenmärchen, Verena, - dasselbe wie das mit den Holzpflöcken. Uns ist nichts anderes möglich, als das, was uns als Lebende möglich war. Also – keine Verwandlungen und auch keine Flüge durch den Nachthimmel.“
„Das bedeutet, wenn wir reisen wollen, dass wir mit dem Bus, mit der Bahn oder mit dem Flugzeug reisen müssen?“ fragte ich und Aleksander nickte.
„Und womit bezahlen wir?“
„Wir beschaffen uns alles, was wir brauchen.“
„Das ist Stress pur! Und was, wenn wir erwischt werden?“
„Bis jetzt ist noch keiner von uns erwischt worden. In diesen Dingen sind wir sehr geschickt und überlisten alle Alarmanlagen. Bedenke – wir sind tot, - und Tote lassen sich nicht aufspüren.“
„Aber die Menschen können uns doch sehen, oder etwa nicht?“ fragte ich und dachte an meine beiden Freundinnen Marion und Susanne und auch an Gerda, die von Aleksander nicht sehr eingenommen waren. Und auch der Taxifahrer fiel mir ein, der laut Aleksanders Anweisungen uns an den See fuhr.
„Natürlich sehen uns die Menschen! Warum sollten sie uns nicht sehen?“
„Warum überlistet ihr dann alle Alarmanlagen? Ihr seid genauso Materie wie Menschen Materie sind.“
„Ich weiß es auch nicht, Verena. Auf jeden Fall – so weit ich weiß – hat noch kein Vampir eine Alarmanlage ausgelöst. Und ich denke, zwischen Menschen und Maschinen besteht ja doch ein Unterschied. Menschen nehmen uns wahr, - Maschinen nicht. Es ist eben so, selbst wenn es sich unerklärlich anhört.“
„Und wenn ich eine Scheibe einschlage, geht der Alarm auch nicht los?“ fragte ich naiv.
„Dann geht er sicher los. Aber wir bemühen uns meistens, nichts kaputt zu machen“, sagte Aleksander und versuchte abermals seinen Arm um mich zu legen.
„Lass das! Ich bin nicht deine Geliebte“, wehrte ich ab.
Und so verließen Aleksander und ich im Respektabstand den Friedhof. Ich willigte ein, mit ihm zu gehen, da er mir sagte, er habe ein Haus gemietet, wo ich mich erst einmal an mein Vampirdasein gewöhnen könnte.

Als wir vor dem Haus standen, wunderte ich mich nicht schlecht, denn es war viel mehr eine Villa, von der ich wusste, dass sie schon lange leer stand und ihre Besitzer in den USA leben, sie aber nicht verkaufen wollen – aus welchen Grund auch immer.
Aleksander hatte schon ein Zimmer für mich hergerichtet. Er ging voraus und öffnete den Wandschrank, in dem Kleider, Jeans, Sweatshirts und T-Shirts, ein Ledermantel und ein Pelzmantel und vieles andere zu finden war.
„Bist du verrückt?“ sagte ich, als ich den Pelzmantel sah. „Glaubst du wirklich, ich trage tote Tiere!“
„Du wirst Menschen töten. Also wäre es eine Kleinigkeit für dich, tote Tiere zu tragen“, meinte Aleksander und grinste teuflisch.
„Schlafen Vampire?“ fragte ich, mit Blick auf das große Bett.
„Es ist eigentlich die schönste Zeit für uns – vor allem, wenn es sich um einen traumlosen Schlaf handelt. Der traumlose Schlaf – des Todes Bruder.“
Ich sah Aleksander von der Seite her an. Sein Blick war traurig, melancholisch – und voller Sehnsucht. Ich erinnerte mich, als er das Wort „Todessehnsucht“ flüsterte, als ich ihm über die Gothicanhänger erzählte. Aber diesmal fühlte ich es viel intensiver.
„Sehnst du den Tod herbei?“ fragte ich leise.
Aleksander sah mich an. Er sagte nichts. Dann verließ er das Zimmer, das von nun an meines war und schloss hinter sich die Tür.

Er hatte absolut recht – die schönste Zeit für einen Vampir ist der Tiefschlaf. Aber noch war ich weit entfernt davon, dies bewusst zu erkennen.
Ich verbrachte die ersten paar Tage nur in meinem Zimmer und probierte all die Kleidung, die mir Aleksander so liebevoll besorgt hatte. Es passte alles! Und es war auch alles genau nach meinem Geschmack, was mich schon irgendwie nachdenklich machte. Aber vielleicht hatte mich Aleksander schon länger beobachtet, - mich schon öfter in verschiedener Kleidung gesehen, sodass er meinen Geschmack aus diesem Grund kannte.
Ja, ich begann wirklich zu überlegen, warum er mich Geliebte nannte. War es nicht so, dass auch ich an eine Beziehung dachte? Immerhin fand ich in total süß! Aber ich fühlte mich überrumpelt und war ihm alles andere als dankbar. Und ich fand ihn zu diesem Zeitpunkt wirklich nicht mehr süß.
Ich kann auch nicht sagen, dass ich ihn hasste, aber es war ein Gefühl von Abscheu dabei, auch wenn er sich noch so sehr um mich bemühte.

Dann kam der Moment, wo ich richtig „hungrig“ wurde. Der erste Blutdurst meldete sich.
Als ich aus dem Zimmer kam, stand Aleksander vor der Tür.
„Gehen wir?“ fragte er lächelnd, und ich nickte stumm.
Diesmal war ich ihm dankbar, dass er mich führte. Wahrscheinlich hätte ich mich alleine auf den erstbesten Menschen gestürzt, so durstig war ich, als ich die Menschen roch. Ich roch sie wirklich, und zwar so, wie man gutes Essen riecht und der Hunger dabei fast automatisch größer wird.
Ich musste also erst lernen, meinen Hunger zu kontrollieren und im richtigen Moment zustoßen, - sozusagen unbemerkt.
Aleksander und ich warteten in einer dunklen Hintergasse. Ich wusste zwar, dass es dort dunkel war, aber für mich schien es taghell zu sein. Ich sah jedes kleinste Steinchen auf dem Boden. Meine Augen schienen so scharf geworden zu sein wie die eines Adlers und meine Nase konnte wahrscheinlich besser als Hunde jeden Geruch wahrnehmen und identifizieren.
Und dann kam mein erstes Opfer – ein junger Mann, der wahrscheinlich gerade in der Disco und nun auf dem Heimweg war. Aleksander versteckte sich in einer Hauseinfahrt, während ich dem jungen Mann etwas aufreizend entgegen ging.
„Hallo“, sagte ich mit rauchiger Stimme. „Noch so spät unterwegs?“
Der junge Mann blieb stehen und sah mich neugierig an.
„Das kann ich von dir auch sagen“, meinte er arglos, aber ich fühlte, dass er interessiert war.
„Machen wir es gleich hier, oder nimmst du mich zu dir mit nach Hause?“ fragte ich keck und lehnte mich an Häuserwand.
Er atmete tief durch und überlegte. Aber ich ließ ihm nicht viel Zeit zum Überlegen. Mit einer Hand zog ich ihn am Nacken zu mir herunter und küsste ihn. Er erwiderte meinen Kuss ziemlich leidenschaftlich. Aber die Leidenschaft war einseitig, - zumindest jene, die ihm vorschwebte. Meine war eine ganz andere, die er im nächsten Augenblick spürte, als sich meine spitzen Eckzähne in seine Halsschlagader bohrten.
Aleksander sagte, der Tiefschlaf das Schönste im Vampirleben, - aber in diesem Moment hätte ich nichts dafür gegeben. Das Blut dieses jungen Mannes strömte wie ein Orgasmus durch meinen Körper, dass ich auf alles vergaß.
Aleksander musste mich von dem Jungen wegzerren, sonst hätte ich ihn blutleer gesaugt. Es lag nicht am Geschmack des Blutes, auch nicht an meinem Hunger, sondern einfach an diesem echt geilen Gefühl, das ich so lange wie nur möglich auskosten wollte.
Ich war fast ohnmächtig, als der junge Mann vor mir zu Boden ging. Er war tot.
Aleksander brachte mich nach Hause und führte mich in mein Zimmer. Er half mir sogar ins Bett und deckte mich zu. Und ich lächelte selig und freute mich auf einen ergiebigen Schlaf.

In den nächsten drei Tagen und Nächten blieb ich wieder in meinem Zimmer. Erst dann schlich ich mich nachts wieder heraus, ohne von Aleksander bemerkt zu werden. Wenigstens hatte ich das Gefühl, dass er mich nicht bemerkte.
Mich zog es zum Friedhof. Ich wollte mir mein eigenes Grab ansehen, das die beiden Vampire wieder brav zugedeckt hatten, um keinen Verdacht auf Grabschändung aufkommen zu lassen.
Als ich dann vor dem Grab stand, fühlte ich nichts. Ich besah mir zwar die vielen Kränze und die Abschiedsgrüße, auf den Schleifen, aber selbst bei all den liebevollen und zum Teil traurigen Sprüchen hatte ich absolut kein Gefühl.
Also ging ich wieder in Richtung Friedhofsausgang und fand dort mein zweites Opfer. Es war eine ältere Frau. Gott weiß, was sie um diese Zeit noch am Friedhof zu schaffen hatte. Ich überfiel sie von hinten, riss sie zu Boden, kniete mich nieder und bohrte meine Saugzähne in ihren Hals. Es war wieder ein herrliches Gefühl, wie das Blut durch meinen ganzen Körper brauste.
Das mit den Zähnen war auch so eine Sache, denn ich bemerkte die Veränderung selbst nicht. Meine Eckzähne waren schon immer ziemlich spitz und auch um einiges länger als die Vorderzähne, dass das Vampirische in mir gar nicht sonderlich auffiel.
Bis jetzt hatte ich nicht sehr auf die anderen Vampire geachtet. Außerdem kannte ich nur Aleksander und die beiden, die ihm halfen, mich auszugraben. Bei Aleksander fielen die spitzen Eckzähne auch nicht sehr auf.
Wie ich so da kniete und mir meine Lippen abwischte, hörte ich ein Geräusch hinter mir. Ich sprang auf und drehte mich um – bereit, gleich mein nächstes Opfer anzugreifen. Aber es war kein Opfer, - es war Aleksander, der mir ja doch gefolgt ist.
„Das hast du gut gemacht“, sagte er lächelnd.
„Warum, zum Teufel, verfolgst du mich?“
„Es ist nur zu deiner Sicherheit. In ein paar Jahren wirst du so eingeübt sein, dass du keinen Aufpasser mehr brauchst“, sagte er – und wieder hörte ich eine gewisse Traurigkeit in seiner Stimme.
Wir gingen zusammen nach Hause, und er brachte mich, wie damals, wieder ins Bett.

Aleksander war wirklich sehr besorgt um mich. Und ich stellte fest, dass er mir jeden Wunsch erfüllte. Meist musste ich meine Wünsche gar nicht aussprechen.
Eines Tages sah ich im Fernsehen – ja, es gab auch einen Fernseher in der Villa! – eine Sendung über Fernreisen. Ich hatte schon immer eine Schwäche für Südseeinseln.
Und siehe da, am nächsten Tag kam Aleksander in mein Zimmer und hielt mir zwei Flugtickets unter die Nase, die uns auf die Seychellen bringen sollten. Ich konnte gar nicht anderes, als ihm um den Hals fallen. Ja, ich küsste ihn sogar auf die Lippen. Und Aleksander strahlte!

Es waren herrliche 14 Tage! Und zum ersten Mal sah ich Aleksander in einer Badehose und durfte seinen ewig jungen, athletischen Körper bewundern. Auch wenn er ziemlich blass war, so fand ich, war er unter all den anderen „Gestalten“ eine wahre Schönheit. Und auch ich konnte mich sehen lassen!
Wir genossen die warmen Sonnenstrahlen und das herrlich türkise Meer. Dazu muss ich sagen, dass ich die Wärme gar nicht spürte. Nicht weit von uns lag ein Paar am Strand, das mächtig schwitzte und ständig eine Abkühlung im Meer brauchte. Das hatten Aleksander und ich nicht nötig. Wir schwitzten nicht ein bisschen.
Es war auch so, dass wir keine Kälte spürten, - also absolut keine Temperaturunterschiede. Klar, wir waren gewisserweise tot…
Unser „Hunger“ wurde auch gestillt, - ein paar Touristen und eine einheimische Kellnerin mussten daran glauben. Seltsam, dass wir nicht verdächtigt wurden, da wir die Einzigen waren, die sich nur auf Zimmerservice beschränkten – kein Frühstück, kein Mittag- und kein Abendessen.
Ich fragte weder mich, noch Aleksander, woher das Geld für die Tickets und den Aufenthalt war. Ich genoss einfach diese Tage, bis wir wieder ins bereits winterliche Österreich zurück flogen.
Noch etwas sei gesagt, - Aleksander war ein vorbildlicher Reisebegleiter! Er wurde niemals zudringlich und führte mich an die schönsten Plätze der Insel.
 
Während der winterlichen Tage und Nächte in der Heimat fielen mir wieder die seltsamen Schatten auf. Ich hatte schon öfters daran gedacht, Aleksander danach zu fragen, - aber diesmal, als sie mir irgendwie lästig wurden, ging es nicht mehr anders.
Wir saßen im großen Raum der Villa auf einer teuren Ledergarnitur. Hinter uns flackerte das Feuer im offenen Kamin.
„Mir sind diese Schatten, glaube ich, schon nach dem ersten Biss aufgefallen. Und an dem Tag, als ich mich entschloss, Vampir zu werden, sah ich sie in der Kirche. Sie wirkten ängstlich, - so als ob sie Angst vor mir haben“, erzählte ich Aleksander.
„Sie haben keine Angst vor uns. Es ist nur so, - sie wollen uns nicht unbedingt zu nahe kommen.“
„Sind es Seelen von Verstorbenen? Zumindest war das mein erster Eindruck.“
Aleksander lachte auf.
„Nein, es sind keine Seelen. Es sind Lebewesen, - wie Menschen, nur bewegen sie sich in einer anderen Dimension. Von Menschen werden sie nur selten wahrgenommen, aber wir, die so genannten Untoten können sie wahrnehmen“, klärte er mich auf.
„Wesen aus einer anderen Dimension?“ fragte ich erstaunt. „So etwas wie Außerirdische?“
Aleksander lachte wieder auf.
„Sie leben hier auf der Erde, also sind sie keine Außerirdische. Ihnen gehört die Erde gewissermaßen genauso wie den Menschen, und sie greifen auch ordentlich am Geschehen mit ein.“
„Wie meinst du das?“
„Nun, sie handeln wie Menschen handeln, - nur eben auf ihre Art. Hast du noch nie etwas von Elfen oder Kobolden gehört?“
„Ach, es sind Elfen und Kobolde?“
„Nun, manche Menschen bezeichnen sie so.“
„Aber sie sehen gar nicht wie Elfen und Kobolde aus. Sie sind doch nur Schatten, durch die man sogar hindurchgehen kann. Letztens habe ich zwei Schatten gesehen, die mit zwei Menschen zusammen gestoßen sind. Das heißt, sie sind gar nicht zusammen gestoßen, - denn die Schatten gingen unbemerkt durch die Menschen hindurch, als ob die Menschen kein Hindernis für sie wären.“
„Das ist, weil es sich hier um zwei unterschiedliche Dimensionen handelt. Es ist auch so, dass diese Schatten die Menschen nicht immer wahrnehmen, da sie in einer ganz anderen Welt existieren, - und doch ist es ein und dieselbe Welt, nämlich die Erde.
Du könntest die Dimensionen der Erde mit einer Zwiebel vergleichen. Jede einzelne Dimension steht für sich selbst, und doch gehören alle zur Ganzheit, genannt Erde.“
„Dann sind diese Schatten nur Wesen einer Dimension? Gibt es noch mehrere Dimensionen?“ fragte ich.
„Es gibt unzählige Dimensionen der Erde. Du wirst sie nach und nach wahrnehmen können. Aber natürlich wirst du nicht alle Dimensionen der Erde wahrnehmen können, da viele davon einem anderen Bewusstseinsbereich angehören. Das heißt, sie existieren jenseits unseres Bewusstseins, - und zwar so weit weg, dass wir nicht einmal die so genannten Schnittstellen wahrnehmen können.“
„Schnittstellen?“
„Ich meine damit eine Art Grenze zwischen den Dimensionen. Nimm einmal an, die Dimension der Menschen ist die oberste Schicht der Zwiebel. So gesehen wäre es einfach, die zweite, also – die darunter liegende Schicht wahrzunehmen. Bei der dritten Schicht wird es schon etwas schwieriger. Und so geht es eben weiter, bis zur letzten Schicht, die logischerweise von der ersten Schicht sehr weit entfernt und demnach nicht mehr wahrnehmbar ist.“
„Nimmst du mehrere Schichten – also, Dimensionen wahr?“
„Im Moment nehme ich etwa sieben Dimensionen wahr. Einer der ältesten Vampire, den ich kenne, schafft es, fünfzehn Dimensionen wahrzunehmen.“
„Ach, ja, andere Vampire! Warum trefft ihr euch nicht öfter? Ich meine, du könntest doch einmal ein kleines Fest veranstalten und einige Vampire einladen. Ich würde gerne einige kennen lernen, vor allem ältere.“
Aleksander überlegte eine Weile.
„Es ist nicht üblich, dass wir uns treffen, Verena. Ganz im Gegenteil, wie meiden die Gesellschaft untereinander, außer, es liegt ein triftiger Grund vor, - so wie es bei dir war, als wir dich ausgegraben haben. Sechs Hände schaffen mehr und schneller als zwei.“
„Also trefft ihr euch nur zufällig, wenn ihr euch mal über den Weg rennt?“
„So ist es, Verena.“
„Es muss ein einsames Leben sein“, sagte ich – mehr zu mir selbst.
„Das ist es“, sagte Aleksander leise – auch mehr zu sich selbst.

Aber Aleksander war weiterhin für mich da und erfüllte mir alle meine Wünsche.
Erst nach einiger Zeit kam ich drauf, dass dies genau das war, was er wollte – und was er mit dem Wort „Geliebte“ auch ausdrückte, was ich anfangs falsch verstanden hatte und viel mehr auf das Körperliche bezog.
Unter Vampiren gab es keine geschlechtliche Liebe. Wozu auch? Wir können uns nicht fortpflanzen und wir fühlen nichts in dieser Hinsicht. Sexuelle Erregung ist uns fremd. Das war wohl die krasseste Veränderung in meinem Leben als Vampir. Das einzig Erregende war das Trinken von frischem Blut…

An meinem „Jahrestag“ bereitete mir Aleksander eine Überraschung. Ich lag im Bett, als er ohne anzuklopfen herein kam und ein Tablett in seiner linken Hand trug. Auf diesem Tablett waren Blutkonserven in Form einer Torte angeordnet.
Natürlich unterließ ich es, ihn zu fragen, wo er sie gestohlen hatte. Ich wollte es auch gar nicht wissen.
Auf jeden Fall fand ich es richtig süß von Aleksander, dass er daran dachte und mich selbst daran erinnerte, dass ich nun schon ein Jahr lang ein Vampir war.
Das Blut hatte zwar nicht die Wirkung wie ich sie von „frischen Blut“ kannte, aber es löschte ebenso gut meinen Hunger.

Und so vergingen weitere zwei Jahre, bis Aleksander und ich uns entschlossen, unseren Standort zu wechseln. Wir wanderten aus – nach Frankreich, - an die Küste, wo es bekanntlich noch immer sehr teuer war. Aleksander war zu viel Geld gekommen, dass wir uns dort auch eine Villa leisten konnten. Ehrlich, ich fragte ihn nie nach Einbrüchen oder Überfälle aus. Es war für mich bereits zur Gewohnheit geworden, dass er für mich sorgte und für mich da war. Wir waren wirklich ein Paar, - und zu diesem Zeitpunkt wünschte ich mir, dass es für immer so bleiben würde.

In Frankreich blieben wir etwa vier Jahre, dann zogen wir weiter nach Südafrika, wo wir fünf Jahre blieben.
Ich möchte jetzt nicht alle unsere ehemaligen Wohnsitze aufzählen. Aber ich kann durchaus sagen, dass wir sehr viel in der Welt herum gekommen sind.

Und das mit den Dimensionen – Aleksander hatte recht! Zuerst war es ziemlich verwirrend für mich, mehrere „Schichten der Erde“ auf einmal wahrzunehmen, da ich mich fragte, welche die „wirkliche Schicht“ ist. Aber es gibt keine wirkliche Schicht, - alle sind sie wirklich, genauso wie die der „normal wahrnehmenden“ Menschen. Es ist nur ungewohnt, gleich mehrere auf einmal zu sehen und sie auch unterscheiden zu können.
Ich kam auch drauf, dass es für Menschen mehrere Schichten gibt, - so genannte Parallelleben. Dabei dachte ich an das Beispiel einer Kreuzung, an der ein Mensch steht und sich entscheidet, welchen Weg er einschlägt. Logisch gesehen kann er nur einen Weg gehen, - entweder gerade aus, links oder rechts oder den Rückweg. In seinen Parallelleben jedoch geht er alle möglichen Wege. Mich wunderte das, weil sich die Menschen oft lange Zeit mit Entscheidungen herumschlagen und sie ganz besonders wichtig nehmen. Hätte ich gewusst, dass es egal ist, wofür ich mich entscheide, da ich in meinen anderen Parallelleben ohnehin die anderen möglichen Entscheidungen treffe, hätte ich mich niemals so abgeplagt. Andererseits muss ich aber sagen, ist es oftmals besser, das nicht zu wissen…

Wir waren in Südamerika – genau gesagt in Venezuela, in der ehemaligen Hauptstadt Caracas. Auch dort bewohnten wir ein herrliches Domizil. Auch wenn ich kleinere Städte oder Dörfer bevorzugte, so waren Großstädte für uns doch um einiges sicherer und wir konnten uns auch länger dort aufhalten, bevor wir in Verdacht kamen, mehrere Menschen getötet zu haben.

Ob ich Gewissensbisse deswegen hatte? Nein, hatte ich nicht! Ich hatte ja auch mehrmals den Pelzmantel getragen und musste Aleksander recht geben, in dem, was er damals zu mir sagte, als ich mich wegen des toten Tieres aufregte.
Das Blut der Menschen war meine Nahrung. Und es war auch nicht so, dass wir unersättlich waren – Aleksander und ich. Wir zögerten unseren Blutdurst oft lange hinaus, - manchmal sogar, bis es uns unerträglich wurde und unsere Körper furchtbar schmerzten. Aber das war nicht aus Nachsicht wegen der Opfer, sondern unseretwegen. Je weniger Opfer – je weniger Aufsehen.

Ob Vampire Egoisten sind? Das kann ich so nicht sagen. Ich glaube, es gibt unter den lebenden Menschen weitaus ärgere Egoisten. Vor allem ist unter den Menschen noch immer dieses „wie du mir, so ich dir“ stark verbreitet, - und auch die Profitgier hat sich in all diesen Jahren keineswegs verringert.
Aleksander sagte oft, dass die Menschen eben so sind, wenn ich mich darüber aufregte und mit ihm über die Mensch philosophieren wollte.
Ich kam auch auf das Thema, das damals ziemlich kursierte – vor allem habe ich es damals im Internet oft entdeckt, - in gewissen Foren, wo sich so genannte „Lichtarbeiter“ trafen und über den „Aufstieg“ sprachen. Sie meinten, die Menschen werden in höhere Dimensionen aufsteigen und sich dadurch bessern, oder sich näher zu Gott erheben. Manche sprachen davon, wenn sie sterben, dass sie ihren Körper mitnehmen und nicht, wie üblich, dass der Körper begraben wird und nur die Seele aufsteigt.
In all diesen Jahren, wo ich bereits mehrere Dimensionen auf einmal wahrnehmen konnte, ist mir noch kein „aufgestiegener Mensch“ begegnet. Auch Aleksander konnte mir darüber nichts berichten, - und selbst einer der ältesten Vampire – derjenige mit den fünfzehn Dimensionen – den ich in London kennen lernen durfte, hat noch nie so einen Menschen gesehen, der den Tod auf diese Art überlistete.
Es kann gar nicht möglich sein, weil die Lebewesen, natürlich mit eingeschlossen der Mensch, zu vielfältig sind. Würde es so etwas einen „Aufstieg“ geben, müsste er das Gesamtwesen betreffen, aber nicht einen einzelnen Aspekt seines Selbst.
So aber kann die gesamte Existenz eines Lebewesens gar nicht benannt werden. Auch wenn ich mich jetzt „Vampir“ nenne, so bin ich doch sehr viel mehr. In der Gesamtheit meines Selbst hat der Vampir kaum eine Bedeutung, - genauso wenig Bedeutung wie der Mensch, der ich in den menschlichen Parallelleben geblieben bin, - oder der Mensch, der sich nicht für den Vampir, sondern für den Tod entschieden hat.
Das heißt nicht, dass der Mensch, der sich für den Tod entschieden hat, vollkommen von der Bildfläche verschwunden ist. Tod bedeutet nicht verschwinden. Tod bedeutet viel mehr einen bestimmten Zeitraum der Existenz eines der unzähligen Aspekte. Und in genau in dem bestimmten Zeitraum ist der Aspekt immer existent. Aus diesem so genannten höheren Blickwinkel gibt es keine Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. All das sind eine Art Mosaike, wobei es sich bei jedem einzelnen Steinchen um eine Existenz des Ganzen handelt.
Ich bin mir meines Daseins jetzt bewusst. Und es wird für mich nie etwas anderes geben als nur dieses Jetzt. Es wird kein „nach dem Jetzt“ geben, denn nach dem Jetzt gibt es kein Bewusstsein.
Fakt ist auf jeden Fall, dass wir genauso vielschichtig sind, wie unsere Erde und das gesamte Universum.
Aber genug von diesen Philosophien, denn es gibt noch immer so viel, worüber nicht einmal Vampire, die den Tod quasi überlistet haben, Bescheid wissen.

Es war gerade Mitternacht, nachdem ich meinen Blutdurst an einem jungen Mädchen – einer Prostituierten – gestillt hatte und den Heimweg antrat, als mir eine Gestalt – keine drei Meter vor mir – auffiel. Sie trug einen langen, dunklen Umhang und hatte die Kapuze tief in die Stirn gezogen, dass ich das Gesicht nicht richtig sehen konnte. Mir fiel schon auf, dass es menschlich aussah, - aber die Wirkung, die diese Gestalt auf mich hatte, war eine ganz andere als menschlich, oder vampirisch oder aus anderen Dimensionen. Ich fühlte eine immense Kraft von ihr ausgehen, - so als würde sie nicht nur allen Erddimensionen angehören, sondern dem gesamten Universum.
Ich beeilte mich an ihr vorbei zu gehen, denn je näher ich ihr kam, umso mehr spürte ich ihre Kraft, die mich fast umhaute.

Aleksander war zu Hause. Er war meistens vor mir daheim. Ja, wir gingen stets getrennt auf „Raubzug“, - nicht mehr so wie anfangs, als Aleksander noch auf mich aufpassen musste.
Ich erzählte ihm von dieser geheimnisvollen Gestalt. Aleksander erstarrte und sah mich groß an.
„Das war der Tod“, sagte er mit einer Grabesstimme, dass es mir kalt den Rücken runterlief, obwohl ich immun gegen Temperaturunterschiede war.
„Was?!“
„Das war der Tod“, wiederholte Aleksander. Er wirkte besorgt.
„Und was bedeutet das?“ fragte ich.
„Dass du abermals die Wahl hast“, sagte er leise und bedrückt.
„Die Wahl zu sterben oder als Vampir weiter zu leben? Ich dachte, das geht nicht. Ich dachte, es gibt nur eine einzige Entscheidung und dass wir unsterblich sind.“
„Das sind wir auch, - aber manchen von uns ist es vergönnt, mit dem Tod zu gehen.“
Plötzlich lachte ich auf.
„Es ist doch komisch, dass der Tod eine Person ist!“
 
„Er ist keine Person, Verena. Der Tod ist das Unpersönlichste im Universum. Aber uns Vampire erscheint er als Person. Das ist alles.“

Es beunruhigte mich. Zum ersten Mal seit meinem Vampirdasein – und das waren jetzt immerhin fast 200 Jahre – fühlte ich etwas ziemlich intensiv.
Ich war nie neugierig, was aus meinen Eltern geworden, oder aus den anderen Verwandten. Aleksander war da etwas anders. Er sagte zwar, es habe ihn nicht gefühlsmäßig berührt, aber doch war er neugierig. Und ich war nicht einmal neugierig.
In diesen Tagen dachte ich seit langem wieder einmal zurück an die Zeit, als ich Aleksander kennen lernte. Mir gefiel sein Äußeres besonders gut, aber seine Ausstrahlung war kalt, - genauso kalt wie seine Berührungen. Ich sah keine Regungen in seinem Gesicht. Selbst seine Augen drückten damals für mich nichts aus. Er hatte ein wunderschönes Puppengesicht, mit ausdruckslosen Glasaugen. Das waren meine ersten Eindrücke. Als ich aber selbst zum Vampir wurde, war Aleksander plötzlich ein ganz Anderer für mich. Mehr und mehr fiel mir auf, dass er doch so etwas wie Gefühle hat und sich auch extrem von den anderen Vampiren, die ich im Laufe der Jahre kennen lernte, unterschied. Die anderen waren genauso gleichgültig wie ich. Viele von ihnen nahmen sich ihre Opfer, wann immer Gelegenheit dazu war. Nicht so Aleksander, denn er wartete – wie ich bereits sagte – bis zum letzten Augenblick, wo es ihm bereits unerträglich wurde. Und genauso hatte er mich in das Vampirleben eingewiesen, obwohl ich keine Skrupel hätte, mehreren Menschen das Blut auszusaugen. Man könnte sagen, bei mir war es Gewohnheit, obwohl ich in den letzten 20 Jahren oft daran gedacht hatte, diese Gewohnheit zu ändern. Denn wenn ich mir den Schmerz ersparen kann, warum sollte ich es dann nicht tun?
Ich hatte mich anfangs sehr in Aleksander getäuscht, als ich noch den eiskalten Engel in ihm sah. Für Vampire war er durchaus ein Engel, aber keineswegs eiskalt. Er – obwohl er bereits so lange schon Vampir war, bedauerte sein Dasein noch immer. Ich glaube, er bereut seine Entscheidung, die er damals fällte, indem er einwilligte, ein drittes Mal gebissen zu werden, noch heute. Aleksander hatte zwar nie darüber gesprochen, aber ich merkte es ihm an.
Mir kam auch vor, dass er mich beneidete, als ich ihm von der dunklen Gestalt erzählte. Aber ich sah auch eine tiefe Traurigkeit in seinen stahlblauen Augen. Er war traurig, weil er wusste, dass er mich verlieren und wieder einsam sein könnte. Aleksander brauchte Gesellschaft. Deshalb ließ er sich tagsüber auch oft bei Menschen blicken und unterhielt sich mit ihnen.
Es gab nur wenige Vampire, die so etwas taten. Die meisten verließen ihre Häuser oder Wohnungen erst nachts – und dann auch nur, um auf Raubzug zu gehen. Mit Raubzug meine ich nicht nur den Blutdurst, sondern auch Einbrüche, um an Geld zu kommen.

Ich dachte also in dieser Nacht sehr viel über mein Leben nach, - und auch über Aleksander. Plötzlich überkamen mich auch Schuldgefühle. Konnte ich überhaupt mit dem Tod gehen, falls das möglich war? Konnte ich Aleksander einfach so verlassen, wo er doch so viel für mich getan hatte? Ich musste mich nie um irgendetwas kümmern, außer natürlich um meine Nahrung. Das konnte er mir nicht abnehmen, - und ich wette, hätte er es tun können, - er hätte es ohne wenn und aber getan.
Aleksander war alles für mich, - Freund und Vater und sicher noch sehr viel mehr. Nicht, dass mir das erst jetzt bewusst wurde. Außerdem habe ich in meinen Aufzeichnungen oft genug erwähnt, wie behütet ich unter seiner Aufsicht war. Aber in dieser Nacht wurde es mir mehr als sonst bewusst.
Ich stellte mir auch vor, wie Aleksander als Mensch gewesen ist. Er muss einfach ein Prachtexemplar gewesen sein, mit einem Herzen voll Liebe und Güte. Eigentlich schade, dass er zum Vampir wurde, denn er hätte viel für sein damals doch sehr armes Heimatland tun können.
Einmal sprachen wir über die Verhältnisse im damaligen Rumänien. Aleksander sagte, er hasste es, reich zu sein, - ein Sohn reicher Eltern zu sein, die sich alles leisten konnte, während das arme Volk Nahrung in den Müllhalden suchte. Er war damals schon in dem Alter, dass ihm seine Eltern monatlich Geld gaben, was er aber nicht für sich selbst ausgab. Aleksander schlich sich oft unbemerkt aus der Residenz, wie er sein Heimathaus nannte, und mischte sich unters Volk, unter dem er sein „Einkommen“ unauffällig verteilte. Er sagte mir, falls er einmal sehr viel erben geerbt hätte, dass er auch das mit den Armen geteilt hätte.
Damals ging mir ein Licht auf, warum sich Aleksander noch immer gerne in menschliche Gesellschaft begab. Es war für ihn ein Leichtes, zu Geld zu kommen. Als Einbrecher war er ein absolutes Genie. Er brach auch nicht wahllos irgendwo ein, sondern suchte sich stets sehr reiche Betriebe aus, wo jede Menge zu holen war. Auch vor großen Banken scheute er nicht zurück. Ich erinnere mich noch, als vor einigen Jahren in allen Zeitungen vom größten Bankraub aller Zeiten geschrieben wurde. Das war mein Aleksander, der da dahinter steckte. Ich kam nicht drauf, wie er dieses Kunststück vollbracht hatte, - und er verriet mir nichts.
Aleksander und ich lebten wahrlich auf sehr großen Fuß, was unsere Wohnkultur anbelangte und unsere Reisen, die wir immer wieder unternahmen. Aber wir konnten nie und nimmer all den Reichtum verbrauchen, den er von den Reichen stahl.
Mein Aleksander war der Robin Hood der Vampire. Wo immer er Gelegenheit hatte, steckte er den Armen etwas zu, - und oft war das nicht wenig. Er nahm sich auch die Zeit und überprüfte sehr genau, wo es sich lohnte und auch Früchte trug. Es waren meist Familien mit vielen Kindern, denen er unter die Arme griff. Ja, Kinder liebte er aus ganzem Herzen. Aleksander würde einem Kind nie etwas zuleide tun.
Man wird sich jetzt fragen, wie das zusammen passt – ein mörderischer Vampir und ein Robin Hood. Ich glaube, Aleksander nahm das Vampirleben nur deshalb auf sich, weil er so die bessere Möglichkeit sah, den Armen immer helfen zu können. Hätte er sich anders entschieden, wäre sein Leben vorbei gewesen – und auch die Möglichkeit, den Armen zu helfen, wäre vorbei gewesen. Es gab nur einen Haken, nämlich den Blutdurst. Aber den zögerte er so lange hinaus, bis er sich fast vor Schmerz am Boden krümmte und sich schnellstens ein Opfer suchen musste. Und auch das tat er nicht wahllos, obwohl die Zeit drängte. Aleksander wählte sich seine Opfer genauestens aus. Nie hätte er übers Herz gebracht, einen Familienvater zu töten, oder zum Vampir zu machen, wenn dies das Schicksal des Opfers war.

In dieser Nacht wurde Aleksander ein Heiliger für mich. Es war, als würde mein gesamtes Leben, vom Moment an, als ich ihn das erste Mal sah – bis zu dieser Nacht, an mir vorbei ziehen. Und je näher ich bis zu dieser Nacht kam, umso größer wurde der Heiligenschein und Aleksanders blondes Engelshaupt.

Nach all diesen Gedanken verließ ich mein Gemach und ging raus zu Aleksander, der in der Halle vor dem Kamin saß. Wir hatten übrigens immer einen offenen Kamin, da es Aleksander liebte, ins Feuer zu schauen.
Er hockte im Schneidersitz am Boden, ganz nah neben dem Feuer. Sein Rücken war gerade durchgestreckt und die langen blonden Locken fielen sanft über sein weißes Rüschenhemd. Stimmt, - er hatte auf meinen Wunsch hin, einige Male ja doch seine Kleidung gewechselt, aber auf Rüschen verzichtete er nie.
Von hinten hätte ihn wohl jeder für eine ziemlich große Frau gehalten.
Ich ging leise zu ihm und setzte mich auch im Schneidersitz neben ihn. Als ich ihn von der Seite her anblickte, sah ich Tränen an seinen Wangen. Vampire weinen doch nicht! Für Vampire gibt es keine Körpersäfte! Sie schwitzen nicht, sie müssen nicht auf die Toilette, als haben sie auch keinen Tränen!
Ich berührte seine Wange und ließ eine Träne auf meinen Zeigefinger tropfen, um sie zu kosten. Mein Geschmacksinn war zwar nicht so gut, obwohl die anderen Sinne immens gestärkt waren, seit ich Vampir bin, - aber ich schmeckte dennoch das Salzige der Träne.
„Du wunderst dich, nicht wahr?“ fragte Aleksander.
„Ja, ich wundere mich wegen deiner Tränen.“
„Es stimmt schon, dass Vampire nicht weinen können. Aber es gibt stets Ausnahmen. Und eine dieser Ausnahmen besteht darin, dass wenn sich Vampire unsterblich verlieben, ihr Herz bricht, wenn die Geliebte sie verlässt. Ich gebe zu, es ist ebenso eine Seltenheit, dass sich Vampire verlieben, denn meist sind sie Einzelgänger und meiden jede Gesellschaft. Aber bei mir ist es nun mal anders.“
Ich staunte über seine Worte und auch über den Klang seiner Stimme, der so weich war.
Er sah mich nicht an, während er sprach. Sein tieftrauriger Blick galt dem Feuer.
„Woher willst du wissen, dass ich mit dem Tod gehen werde?“ fragte ich leise.
Aleksander zuckte mit den Schultern.
Ich neigte mich vor, um ihm besser ins Gesicht zu sehen. Der Schein des Feuers machte es noch interessanter und ließ es nicht so blass erscheinen.
„Nun? Woher weißt du es?“ ließ ich nicht locker.
„Ich weiß es einfach, weil sich noch nie ein Vampir diese Chance entgehen ließ.“
Ich legte meine Hand auf seinen Unterarm.
„Schau mal, Aleksander. Wir beide sind doch wirklich ein seltenes Paar. Du bist ganz anders als alle anderen Vampire, - und ich denke, durch dich bin ich es auch. Und vielleicht bin ich deshalb der erste Vampir, der sich diese Chance doch entgehen lässt.“
Aleksander sah mich an. Sein Blick ging mir durch und durch, was mich abermals wunderte.
„Das darfst du nicht, Verena“, sagte er etwas lauter. „Es ist eine einmalige Chance, die du dir nicht entgehen lassen darfst. Du weißt nicht, was dich alles noch erwartet, wenn du dir diese Chance entgehen lässt. Bedenke, dass sich alles im Universum verändert. Was wird aus uns, wenn die Sonne nicht mehr scheint? Was wird aus uns, wenn die Menschheit ausstirbt? Was, wenn nichts mehr so ist, wie es jetzt ist? Wir Vampire überleben all das. Aber wenn nichts mehr da ist, - und nur wir überleben, werden wir furchtbaren Qualen ausgesetzt sein – und das für alle Ewigkeit. Kannst du dir das überhaupt vorstellen?“
Nein, ich konnte es mir nicht vorstellen!
„Aber – aber, wenn es dir doch das Herz bricht“, sagte ich und schluckte.
Aleksander blickte wieder ins Feuer.
„Mein Herz würde noch viel mehr brechen, wenn ich dich leiden sehen müsste“, sagte er flüsternd.
Ich stand auf, stemmte meine Fäuste in die Hüften und starrte auf Aleksander hinunter.
„Sag mal, bist du überhaupt echt?“ stieß ich hervor. „Du hockst hier, weinst Tränen, die ein Vampir niemals weint, - dein Herz bricht, weil du befürchtest, dass ich dich verlasse, und doch redest du mir zu, dass ich dich verlassen soll? Was soll das alles?“
Aleksander sah mit den traurigsten Augen, die ich jemals gesehen hatte, zu mir hoch und sagte diese drei magischen Worte mit einer Stimme, die mich wirklich fast zerfließen ließen.
„Ich liebe dich.“
 
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Nun verstand ich überhaupt nichts mehr. Ich brauchte natürlich eine Weile, bis ich etwas sagen konnte, denn dieser höchst außergewöhnliche Mann, der noch dazu ein Vampir war, stellte meine Welt nun total auf den Kopf.
„Aber wenn du mich liebst“, begann ich, „dann müsstest du um mich kämpfen. Du müsstest darum kämpfen, dass ich bei dir bleibe.“
Aleksander schüttelte seinen Kopf.
„Nein, Verena. Ich liebe dich und will nur das Beste für dich.“
„Und du? Was ist mit dir?“
Er blickte wieder ins Feuer und schwieg.
„Das ist doch nicht möglich!“ schrie ich wütend auf. „Warum bekomme ausgerechnet ich diese Chance? Ich habe noch nie Gutes getan. Ich habe noch keinen Armen etwas gegeben. Ich war in meinem ganzen Leben nur auf mich selbst fixiert, - auch damals, als ich noch kein Vampir war. Mir waren all die Armen und Hungernden vollkommen egal. Nun, - nicht direkt egal, - aber ich unternahm nichts dagegen und schöpfte aus dem Vollen, ohne jemals etwas zu spenden. Ich achtete nicht einmal auf Biokost, um damit der Umwelt zu helfen.
Du aber hattest immer und überall Nachsicht. Du quälst dich selbst, um nicht zu vielen Menschen das Leben zu nehmen. Du gibst, was du geben kannst.
Wo, um Himmels Willen, bleibt da die Gerechtigkeit?“
„Wenn es eine Gerechtigkeit geben würde, hätten wir das Paradies“, sagte Aleksander leise.
„Ach ja?“
„Ja!“ sagte er fest und blickte zu mir hoch. „Denn niemand verdient es wirklich, aus Mülleimern zu essen, oder nachts auf den Straßen zu erfrieren. Kein Mensch ist so schlecht, dass er das verdient.“
„Du hast ja eine hohe Meinung von den Menschen.“
„Würden wir die Hoffnung aufgeben, wäre alles verloren“, sagte mein Engel.
Ich hielt es nicht mehr aus und ging wieder in mein Gemach.

In der nächsten Nacht sah ich „ihn“ wieder, bevor ich zu unserer Villa hoch gehen wollte. Er stand etwa an derselben Stelle wie letzte Nacht. Diesmal ging ich auf ihn zu und sprach ihn an. Ich fragte ihn geradewegs, ob er etwas von mir will.
„Ich will dich“, hörte ich eine überaus sanfte Stimme.
„Mich? Und was hast du vor mit mir?“ fragte ich tapfer.
Glaubt mir, ich war wirklich tapfer, denn die Ausstrahlung dieser Gestalt war so enorm, dass mir sogar schwindlig wurde.
„Ich führe dich ins Licht.“
Jetzt wurde ich neugierig.
„Was ist das Licht?“
„Es ist die Einheit dessen, was ist.“
„Gott?“
„Manche nennen es so.“
„Und warum ausgerechnet mich?“ fragte ich.
„Weil die Wahl auf dich gefallen ist.“
„Wer hat das entschieden?“
„Das Licht.“
Nun war ich genauso schlau wie vorher. Aber ich versuchte noch etwas.
„Darf ich jemanden mitbringen, wenn wir ins Licht gehen?“
„Die Wahl ist nur auf dich gefallen.“
Natürlich dachte ich an Aleksander, an sein gutes Herz, an die Gerechtigkeit! Und als ob „er“ meine Gedanken lesen könnte, sagte „er“: „Das Licht unterscheidet nicht zwischen gut und böse, schwarz und weiß. Es trifft seine Entscheidung und basta.“
Na, toll! Ich hatte schon immer das Gefühl, dass Gott die Gerechtigkeit völlig fremd sein muss.
Ich war neugierig auf „sein“ Gesicht, aber wenn immer ich knapp dran war, es zu sehen, wandte „er“ sich geschickt ab. Ich sah zwar so etwas wie Schatten, das ein ziemlich schönes Gesicht vermuten ließ, - aber es blieb bei der Vermutung. Auf jeden Fall hatte „er“ eine angenehme Stimme, wodurch seine streng anmutende Ausstrahlung etwas geschwächt wurde.
„Wie lange habe ich Zeit, mich zu entscheiden?“ fragte ich.
„Drei ist eine magische Zahl“, sagte der Tod geheimnisvoll.
„Aha! Das bedeutet, dass du morgen noch da bist und ich mich morgen entscheiden muss.“
„Das bedeutet es“, sagte er, wandte sich von mir ab und verschwand in der Dunkelheit.

Nun, und so sitze ich hier und schreibe meine Memoiren, die ich Aleksander überreichen werde, bevor ich ihn verlassen werde.
Wenn mich jemand fragen würde, warum ich mich für Bruder Hein entschieden habe, - ich könnte es nicht sagen. Vielleicht aber lag es an diesem schrecklichen Szenario, welches mir Aleksander beschrieben hatte. Es muss doch wirklich fürchterlich sein, ewig zu „sein“, selbst wenn alles bereits vergangen ist. Und es war auch unvorstellbar. Außerdem hatte ich die Hoffnung, dass Aleksander auch diese Chance haben wird, bevor es wirklich so weit sein sollte. Auf jeden Fall, so denke ich, werde ich beim „Licht“ ein gutes Wort für ihn einlegen.
Bevor ich in mein Gemach ging und damit begann, diese Seiten hier aufzuschreiben, sahen Aleksander und ich uns in die Augen. Wir mussten nichts sagen. Er wusste von selbst, wie ich mich entscheide. Und ich sah in seinen Augen auch eine große Befriedigung, als wäre eine große Last von seinem Herzen genommen worden. Ich spürte, dass es ihm so lieber war, obwohl er darunter litt, dass ich ihn verlasse.
Und ich fühlte, dass Aleksander mich wirklich liebt und zwar so, wie mich sicher kein Mensch je geliebt hätte, - nicht einmal meine Eltern, denn seine Liebe war selbstlos.

Was soll ich zum Abschluss noch schreiben? Tröstende Worte für Aleksander? Ich glaube nicht, dass er so etwas nötig hat. Und ich glaube, in all diesen Zeilen, die ich ja hauptsächlich für ihn geschrieben habe, obwohl ich ihn darin nie persönlich ansprach, wird er fühlen können, dass ich ihm für alles dankbar bin und ihm keineswegs nachtrage, dass er mich zum Vampir machte. Ganz im Gegenteil, denn dadurch durfte ich Erfahrungen machen, die mir im relativ kurzen Menschenleben nie gewährt worden wären.

Nach diesen letzten Zeilen werde ich also mein Gemach das letzte Mal verlassen. Meine Memoiren werde ich aufs Bett legen, wo Aleksander sie ganz sicher finden wird. Dann werde ich ihm noch einen letzten Blick schenken und die Villa verlassen.
Draußen wird der Kapuzenmann auf mich warten, und ich werde mit ihm gehen. Ich werde ins Licht gehen, was immer das auch ist…

Ende
 
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