N
Nelida
Guest
Liebestod
Das erste Mal sah ich ihn auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Er blickte gerade in ein Schaufenster, in dem Bilder ausgestellt waren. Mir war der junge Mann nicht bekannt. Aber das war es nicht, was meine Aufmerksamkeit an ihm fesselte. Es war seine Ausstrahlung. Er wirkte auf mich ganz anders als die Menschen, die an mir, wie auch an ihm, vorbei gingen. Es war auch nicht direkt seine auffallende Schönheit, obwohl sie mich natürlich anzog. Er war groß gewachsen, - sicher an die 1,90 und hatte langes blondes Haar wie ein Engel. Ich konnte sein Profil sehen. Es war fast schon zu weiblich für einen Mann, auch wenn er noch jung war, - vielleicht zwei oder drei Jahre älter als ich. Auch war er auffallend gekleidet, - mit langem schwarzen Ledermantel, den er offen trug. Darunter sah ich ein schwarzes Rüschenhemd und ebenso schwarze Hosen, die unten sehr weit ausgestellt waren.
Als ich ihn so aufmerksam beobachtete, drehte er sich plötzlich um und sah mich an. Ich erstarrte förmlich, als ich seine Augen sah. Sie waren ziemlich hell, wodurch die Pupille ganz besonders heraus stach. Ich weiß nicht mehr so genau, ob ich in seinen Augen so etwas wie Gefühle erkennen konnte. Wenn mich jetzt jemand fragen würde, müsste ich wohl sagen, dass sein Blick eiskalt war, als ob er gar keine Gefühle hätte.
Das zweite Mal sah ich ihn in einem Lokal, wo ich mit zwei Freundinnen beim Kaffee saß. Wir unterhielten uns gerade über unseren Job ein leidiges Thema, - als er herein kam und an die Bar ging. Seine Kleidung war noch immer dieselbe, obwohl es bereits drei Tage her war, als ich ihn das erste Mal sah. Ich stieß meine Freundin links von mir mit dem Arm an, um sie auf ihn aufmerksam zu machen. Sie zuckte nur mit den Achseln. Im Moment war sie auf alle Männer sauer, weil ihr Freund sie gerade sitzen gelassen hatte. Auch Marion, meine andere Freundin, schenkte ihm kaum Beachtung.
Findet ihr ihn nicht süß? fragte ich enttäuscht, da ich dachte, auf so einen Mann müssten doch alle Frauen total abfahren.
Das ist einer für nur eine Nacht, meinte Susanne. Und darauf habe ich zur Zeit ganz sicher keinen Bock.
Der junge Mann sah rüber zu mir. Es war wieder derselbe eiskalte Blick. Und doch fühlte ich mich geschmeichelt. Jetzt fiel mir auch seine überaus blasse Haut auf. Ich sah, dass er ein Mineralwasser bestellt hatte. Er hielt das Glas nur in der Hand, trank aber nicht.
Ich sah ihn auch an und lächelte. Mein Lächeln wurde nicht erwidert. Stattdessen starrte er mich weiter an.
Flirtest du mit ihm? fragte mich Marion lachend.
Ich versuche mein Bestes. Er gefällt mir eben, sagte ich, ohne meinen Blick von ihm zu wenden.
Er unterbrach unseren Blickkontakt als erster, als er der Kellnerin zuwinkte, bezahlte und wieder ging, ohne etwas getrunken zu haben.
Der ist doch nicht ganz dicht, meinte Susanne. Bestellt etwas und trinkt es nicht einmal.
Vielleicht kam er nur meinetwegen herein, scherzte ich.
Das dritte Mal stieß ich mit ihm vor der Haustür zusammen. Ich kam gerade heraus, als er ziemlich knapp an der Mauerwand vorbei kam.
Entschuldigung, stieß ich mit hochrotem Kopf hervor.
Er stand nur da und sah mich unverwandt an. Ich wusste nicht, was ich tun oder sagen sollte. Stehen bleiben und warten, bis er auch etwas sagt, oder sollte ich einfach weiter gehen?
Aber plötzlich nahm er meine rechte Hand, führte sie nah an seine Lippen und hauchte mir einen Kuss auf den Handrücken. Seine Lippen berührten nicht, dennoch schien ich sie zu spüren. Ich sah an seiner Hand unter dem Ärmel des schwarzen Ledermantels die Rüschen des Hemdes hervor lugen. Noch immer trug er dieselbe Kleidung.
Jetzt, wo ich ihm so nahe war, wirkten seine Augen auf mich noch anziehender. Nein, nicht anziehender, sondern viel mehr hypnotisch, als wollte er mich in seinen Bann ziehen.
Als er meine Hand los ließ, spürte ich sie noch immer. Sie war kalt. Wir hatten eine Temperatur von 25° Celsius. Für diese Temperatur war er eindeutig zu warm angezogen, und doch hatte er eiskalte Hände.
Darf ich Sie auf einen Kaffee einladen? fragte er mit der dunkelsten Stimme, die ich je gehört habe.
Ich nickte nur stumm. Er bot mir seinen Arm an. Ich hängte mich ein, und wir gingen langsam weiter.
Du meine Güte, er war ein Gentleman! Oder tat er nur so, um mich noch mehr zu beeindrucken? Manieren dieser Art waren schon lange out. Wer von den Jugendlichen gibt seiner Angebeteten schon einen Handkuss? Wahrscheinlich war er der Typ, der wenn er ein Auto hätte seiner Beifahrerin die Wagentür öffnet würde, bevor er selbst einsteigt.
Oh ja, er spielte den Gentleman perfekt! Als wir das Café betraten, öffnete er kavaliersmäßig die Tür und neigte sogar seinen Kopf wie zu einer Verbeugung. Im Café hielt er mir den Stuhl bereit und nahm erst dann Platz, als ich mich gesetzt hatte.
Was darf ich Ihnen bestellen? fragte er mich, als die Kellnerin an unseren Tisch kam.
Ich hatte meinen Mund schon offen, um eine Melange zu bestellen. Nun gut ich sagte ihm leise, dass ich gerne eine Melange trinken würde.
Zwei Melange, bitte sehr! sagte er zur Kellnerin.
Befremdend war für mich, dass er Sie zu mir sagte. Unter Jugendlichen gab es das schon lange nicht mehr! Und ich war mir sicher, dass er kaum älter als 25 war. Zumindest sah er nicht älter aus.
Woher kommst du? fragte ich frei heraus und verbesserte mich sofort: Entschuldige, - ich wollte fragen, - woher kommen Sie? und betonte das Sie ganz besonders.
Sein schönes bleiches Gesicht war wie eine Maske. Ich konnte einfach keine Regung entdecken.
Ich bin ein Reisender ohne Heimat, sagte er blumig mit seiner tiefen Stimme, die so ganz und gar nicht zu seinem Äußeren passte.
Aber irgendwo müssen sie doch geboren worden sein.
Nun lächelte er das erste Mal. Aber es war eher eine Grimasse, - wenn auch eine hübsche.
O ja, irgendwo wurde ich sicher geboren.
Und wo? fragte ich hartnäckig.
Irgendwo in Rumänien, sagte er, - wieder ohne Regung.
Sie sprechen aber gut deutsch. Oder sprechen sie mehrere Sprachen?
Er nickte stumm.
Wie viele Sprache?
Er schien zu überlegen.
Fünf, vielleicht sechs, oder gar sieben. So genau weiß ich das nicht.
Ich staunte!
Und wovon leben Sie, wenn ich fragen darf?
Er schnitt wieder diese Grimasse, die ein Lächeln sein sollte.
Ich bin sehr genügsam. Aber warum sprechen wir nicht von Ihnen?
Ach, über mich gibt es nicht viel zu sagen. Ich bin hier geboren, hier aufgewachsen, hier zur Schule gegangen und machte eine Ausbildung, um nun als Sekretärin in einem kleinen Betrieb zu arbeiten. Ich arbeite übrigens erst ein Jahr lang, bin aber stolz darauf, auf eigenen Füßen zu stehen und nicht mehr von meinen Eltern abhängig zu sein.
Er nickte nur und schien eigentlich gar nicht so sehr an meinem Lebenslauf interessiert zu sein.
Die Kellnerin kam und brachte uns die beiden Melangen.
Danke sehr! sagte er höflich nickend.
Welche Schulen haben Sie besucht? fragte ich.
Privat. Ich wurde privat unterrichtet, sagte er wie nebenbei und rührte den Kaffee um.
Oh! stieß ich hervor. Sind Ihre Eltern so reich, dass sie sich einen Privatlehrer leisten können?
Meine Eltern sind schon sehr lange tot, sagte er.
Das tut mir leid.
Das muss Ihnen nicht Leid tun. Sie hatten ein erfülltes Leben und wurden sehr alt.
Ich horchte auf. Das gibt es doch nicht! Wenn er so um die 25 sein sollte, können seine Eltern nicht sehr alt geworden sein!
Wie das?
Wie meinen Sie? fragte er.
Ich meine, Sie sind ja noch sehr jung. Wie können Ihre Eltern dann sehr alt geworden sein?
Ach, das!
Dann war Funkstille. Ich wartete einige Augenblicke, ob er noch etwas sagen würde, dann bohrte ich weiter.
Und?
Wie meinen Sie? fragte er abermals.
Na, das mit ihren Eltern!
Ach so! Nun, was verstehen Sie darunter, wenn ich sage, dass meine Eltern sehr alt geworden sind?
Unter sehr alt verstehe ich an die 90 Jahre oder gar 100 Jahre, sagte ich und nahm einen Schluck Kaffee, während er noch immer in seiner Tasse rührte.
Plötzlich stand er auf und ging an die Bar. Ich saß mit dem Rücken zur Bar, dass ich mich umdrehen musste, um zu sehen, was er dort machte. Er winkte der Kellnerin und bezahlte.
Dann kam er wieder zurück an den Tisch.
Verzeihen Sie, sagte er.
Was soll ich verzeihen? fragte ich.
Dass ich Sie eine Weile alleine gelassen habe.
Ich schaute ihn groß an.
Was spielen Sie hier für eine Rolle? fragte ich gerade heraus, weil mir das alles wirklich nur gespielt erschien.
Wie bitte?
So verhält sich doch kein Mensch mehr, sage ich. Sie geben mir einen Handkuss, reichen mir den Arm, stellen mir den Stuhl zurecht. So was taten die Männer vor 100 Jahren!
Dann bitte ich Sie abermals um Verzeihung, falls ich Ihnen damit zu nahe getreten bin, sagte er artig.
Sie sind mir ganz und gar nicht zu nahe getreten! Als ich sie das erste Mal auf der Straße gesehen habe, sind Sie mir wegen ihrer seltsamen Kleidung aufgefallen, obwohl Ihre Kleidung gar nicht so seltsam ist. Es gibt einige Jugendliche, die sich gerne so kleiden. Aber meist haben sie schwarzes Haar und lieben es, auf Friedhöfe zu gehen. Sie hören gerne düstere Musik und haben meist Todessehnsucht. Man nennt diese Richtung Gothic.
Todessehnsucht , murmelte er und plötzlich sah ich in seinen Augen so etwas wie Wehmut.
Ja! Haben Sie etwa auch Todessehnsucht? fragte ich und hoffte endlich, die Mauer zwischen uns gebrochen zu haben.
Aber er setzte abermals dieses maskenhafte Lächeln auf.
Nein, keine Todessehnsucht. Aber es ist interessant, was Sie da eben sagten. Wo kann man jene Jugendlichen treffen, deren Kleidung meiner ähnelt?
Ich dachte, ich höre nicht recht.
Also, ehrlich. Ich hab genug, sagte ich und wollte aufstehen.
Bleiben Sie, bitte, sagte er schnell. Ich wollte Sie nicht verärgern. Verzeihen Sie mir.
Sind Sie wirklich so, wie Sie tun? fragte ich ihn.
Ich ich verstehe nicht, was Sie meinen.
Haben Sie mir vorhin nicht zugehört, als ich sagte, dass sich Männer vor 100 Jahren so verhalten haben, wie Sie es tun?
Er lehnte sich zurück und sah mich durchdringend an.
Was ist daran falsch, wenn man Damen respektvoll behandelt? Mir gefallen die Manieren der heutigen Jugend nicht sehr. Ich bin jedes Mal sehr erstaunt, wenn ich beobachte, wie sie sich untereinander verhalten. Auch muss ich Ihnen gestehen, dass ich das Verhalten den Eltern oder älteren Menschen gegenüber missbillige. Die heutige Jugend hat vor nichts mehr Respekt. Ist das nicht ein Zeichen dafür, dass die Menschheit verroht?
Dieser Mann war ein Wunder!
Woher kommen sie wirklich? fragte ich. Sind Sie vielleicht ein Zeitreisender, - einer der aus der Vergangenheit kam?
Das war aber wirklich nur scherzhaft gefragt!
Vielleicht bin ich das? tat er geheimnisvoll und lächelte wieder.
Man könnte ihnen fast glauben. Übrigens, warum trinken sie Ihren Kaffee nicht? fragte ich, da ich meinen bereits ausgetrunken hatte.
Ich wollte nur Ihre Gesellschaft, sagte er leise.
Ich fühle mich geehrt! lachte ich.
Oh nein, ich bin es, der sich geehrt fühlen muss.
Okay, auch gut. Aber ich muss jetzt wirklich los. In einer viertel Stunde muss ich im Büro sein. Eigentlich wollte ich heute schon früher dort sein, weil im Moment viel Arbeit ist, - aber diese Einladung von Ihnen konnte ich mir nicht entgehen lassen, sagte ich und stand auf.
Auch er erhob sich schnell.
Verzeihen Sie, wenn ich sie aufgehalten habe
Hören Sie bitte damit auf. Sie haben mich nicht aufgehalten. Ach ja, - danke für den Kaffee!
Nichts zu danken. Es war mir eine Ehre, sagte er und ging voraus.
Draußen bot er mir wieder seinen Arm an.
Darf ich sie zu Ihrem Büro geleiten? fragte er.
Das ist sehr nett, - aber es ist nur zwei Häuser weiter.
Dann gehen wir zwei Häuser weiter, sagte er lächelnd, wobei mir sein Lächeln diesmal schon etwas wärmer erschien.