Ich komme nicht aus Hollywood

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Alicebergamo

Guest
Eine merkwürdige Überschrift, vielleicht vermag sie dazu beitragen, dass mich einige besser verstehen. Wie man aus meiner Erzählung „Erinnerungen an meine Kindheit“ bei Texte, schon zu erkennen vermag, hatte ich keine leichte Kindheit.
Auf Rosen wurde ich wirklich nicht gebettet, was aber den Vorteil hatte, dass ich schnell selbständig wurde. Meine positive Seite war völlig unterdrückt und schaute nur hie und da mal kurz heraus. Später irgendwann begriff ich alles als Kampf und viel später, in der Lebensmitte, begriff ich worum es wirklich geht. Sich selbst anzunehmen und zu lieben, bedingungslos. Aber bis dahin war es noch ein langer Weg…


ich habe vor hier ab und zu mal ein paar Episoden zu posten
so beginne ich zu berichten aus einer Zeit, wo ich etwas über sechzehn war




Die Mathearbeit​


Mein Vater kam mit dem Studium nicht klar und bekam eine Stellung als Waldorflehrer in Strasbourg. Nebenbei arbeitete er an der Zeitung Dernière Nouvelle, als Correcteur. So kam mein Vater zum Journalismus und begann eine Laufbahn, die ihn immer weiter nach oben führen sollte.
Nach zwei Jahren zogen wir nach Oberösterreich, ins Mühlviertel. Ich war inzwischen sechzehn. Meine Eltern hatten ein bruchfälliges Bauernhäuschen im Dreiländereck: Deutschland, Österreich, Tschechien, gekauft.
Mein Vater arbeitet in Linz an den Linzer Nachrichten. Ich besuchte die Kunstschule dort und wir lebten insgesamt zwei Jahre im Mühlviertel.
Es war am Ostermontag 1966. Mein Vater war in der Zeitung und meine Mutter irgendwo in Deutschland Mode-Kollektionen erstellen. Da machte ich mich zusammen mit den Jungen vom Bauernhof nebenan auf die Wanderschaft. Auf in die Tschechei. Damals hieβ das noch Tschechoslowakei.
Am nächsten Tag hätte ich eine wichtige Matheprüfung in der Kunstschule in Linz gehabt, und so wollt ich lieber in die Tschechei und dort erwischt werden und ins Gefängnis nach Prag kommen. So jedenfalls dachte ich mir das mit dem Franzl, gerade Zehn und dem Loisl, vierzehn Jahre, aus. Es lag noch Schnee, unser Haus befand sich auf 1200 Meter. Wir zogen los, Franzl im Schnee mit seinen Filzhausschuhen, war schon ein wenig kindisch. Die Berge hinauf bis zum Steinernen Meer und oben dann auf der anderen Seite hinunter. Und da war dann der Stacheldrahtzaun und die Millitärs, die im Laufschritt mit Maschinengewehren im Anschlag, den Weg neben dem Stacheldraht, von oben her auf uns zu rannten. „Jetzt die Ruhe bewahren“, raunte ich meinen Freunden zu. Wir spielten die Rolle der unschuldigen, unwissenden Kinder, standen da mit hocherhobenen Armen und sagten immer: „Austria, Austria…“, so als haben wir uns verlaufen. Die tschechischen Soldaten riefen über Funk nach einem Offizier, denn sie wussten nicht, was sie mit uns machen sollten. Ich bat erst mal höflich um eine Zigarette. Ich erinnere mich, wir drei Kinder saβen auf einem Baumstamm. Ich glaube langsam, wenn ich das hier schreibe, ich komme doch aus Hollywood…jedenfalls gab es in meinem Leben Abenteuer genug, die ich mir selbst erschuf!
Ich bekam die Zigarette und dann kam der Offizier mit dem Jeep angefahren, und er konnte gebrochen Deutsch. Der Offizier fuhr uns zur Kaserne. Die Fenster des Hauses waren schwarz von den vielen Soldaten, so was hatten die noch nie erlebt. Normalerweise flieht man eher aus ihrem Land. Wir aber kamen freiwillig auf Erkundigungsreise um mal ein Abenteuer zu erleben. Wir blieben dort einige langweilige Stunden vor dem Fernseher verbannt, verstanden nichts davon, versorgt mit leckeren Wurstschnitten. Zwischendurch wurden wir auch einzeln verhört und sagten jeder unser vorher einstudiertes Geschichtlein auf. Endlich dann, spätabends gegen zehn oder elf Uhr wurden Warnböllerschüsse am inoffiziellen Grenzübergang abgegeben. Der Offizier fuhr uns dort hin und übergab uns dem österreichischen Grenzschutz. Mein Vater holte uns ab. Er sprach kein Wort, eine Woche lang. Die Mathearbeit musste ich am nächsten Tag trotzdem machen...



wird fortgesetzt...
 
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Brasilien​



Es war sechs Uhr morgens, als ich aufgeregt erwachte, denn heute kam endlich der groβe Tag. Unser Schiff, die Japejú, sollte in Rio de Janeiro einlaufen. Ich kleidete mich rasch an und eilte an Deck, aber ich wurde enttäuscht, noch nichts war zu sehen. Weder Brasilien noch andere Passagiere. Seit zehn Tagen waren wir unterwegs. Die Reise ging, zusammen mit meinem Vater, von Amsterdam los, in ein neues, unbekanntes Leben, und nun stand ich an der Reling und konnte es kaum erwarten. Damals war ich ein zehnjähriges kleines Mädchen, voller Neugierde und Hoffnungen, und voller Vertrauen, dass alles gut wird. Dass ich mich dort gut einleben würde, in Brasilien. Mein Vater sagte zwar drei Jahre später, er wolle in Brasilien nicht begraben werden, aber das wussten wir an dem Tag der Ankunft noch nicht.
Langsam begann es zu dämmern, die Sonne würde bald aufgehen und ich blickte gespannt zum Horizont und musste an meine Mutter denken. Meine Mutter, die erst in sechs Monaten nachkommen konnte, weil sie noch zwei Modekollektionen fertig zustellen hatte und dafür noch viel Geld erhalten sollte.
Nach einer letzten Umarmung, stieg ich klopfenden Herzens die Gangway des groβen Ozeandampfers hinauf. Dann stand ich zusammen mit meinem Vater und den anderen Passagieren an der Reling und winkte hinunter zu den vielen Menschen. Ich konnte meine Mutter genau sehen. Das Schiff entfernte sich langsam von der Kaimauer, zuerst kaum bemerkbar, dann aber wurde der Abstand gröβer und gröβer, immer mehr Wasser war zwischen uns und die Menschen und meine Mutter wurden immer kleiner, dann war sie nur noch ein winziger Punkt in der Ferne, der schlieβlich auch verschwand.
Die Überfahrt war abenteuerlich. Es gab damals noch dritte Klasse, die vor allem von Zigeunern belegt war. Sie kamen im spanischen Hafen Vigo an Bord und wollten zu einem Zigeunertreffen nach Buenos Aires. Jeden Abend feierten sie Feste auf dem Achterdeck, zu Gitarrenmusik und sangen dazu mit melancholisch rauen Stimmen. Wir waren mehrere Kinder an Bord und fühlten uns wie magisch von den nächtlichen Festen angezogen. Zusammen gedrängt in einer Ecke, schauten wir heimlich ihren wilden Tänzen zu, dem Aufstampfen der Füβe und dem Klappern der Kastagnetten, lauschten ihrer schwermütigen Musik bis in die halbe Nacht.

Inzwischen hatten sich ein paar schaulustige Passagiere an Deck versammelt, jemand deutete nach vorne: „Da!“ Und wirklich, ich erblickte die dunkle Silhouette der Berge Brasiliens. Endlich sah ich Brasilien!
Ein unbeschreibliches Gefühl, hatte mich gepackt. Eine Art Euphorie zusammen mit so vielen Fragen, die in meinem Kopf herumwirbelten, wie es ein wird, wie es wohl sein wird, mein neues Leben.
Mein Vater war endlich gekommen, stumm blickten wir auf die dunklen Konturen einer noch fernen Küste im Morgengrauen. Brasilien voller Verheiβungen, wo das Geld auf der Straβe liegen sollte. So jedenfalls hörte ich einmal meine Eltern darüber sprechen. Diese Hoffnung sollte sich für sie nicht erfüllen, denn es folgten erst einmal Arbeitslosigkeit für meinen Vater und für meine Mutter Krankheit und eine Operation die sie viele Monate ans Bett fesselte.

Aber eines Tages, wir lebten in São Vicente, ein Badeort neben den berühmten Kaffee-Ausführhafen Santos, ging es meiner Mutter wieder besser und mein Vater hatte eine gute Anstellung als Betriebswirt in São Paulo gefunden.

Dann aber reiste meine Mutter nach Nordamerika und besuchte dort meine ältere Schwester. Von Amerika schrieb sie, wir sollten kommen. Und da mein Vater immer wieder verlauten lieβ, er wolle in Brasilien nicht begraben werden, klapperte ich als Vierzehnjährige sämtliche Schiffsagenturen in Santos ab, auf der Suche nach günstigen Schiffreisen in die USA. Ich las Namen wie: New Orleans, Philadelphia, New York, Boston, Chicago, und träumte von Amerika. Mein Vater arbeitet damals in einer Firma in São Paulo, er hatte keine Zeit und kehrte abends spät nach Hause. Dann berichtete ich ihm über Auslaufdaten und Preise. Zwei oder drei Monate waren inzwischen vergangen, und mein Vater meinte: „Wenn wir nach USA auswandern können, dann lass uns doch gleich nach Europa zurückkehren.“ Er sah mich an. „Also, wo wollen wir hin? Nach den USA oder Europa?“, fragte er mich ernsthaft. Ich kam mir damals bereits wie Erwachsen vor und hatte immerhin jede Menge Verantwortungen, denn ich versorgte unseren Haushalt. Unser Dienstmädchen schickte ich nach Hause und wollte das Geld von meinem Vater dafür erhalten. „Bist du zufrieden mit unserem Haus?“, fragte ich ihn eines Tages. Denn ich wusch die Wäsche und bügelte seine Hemden, erledigte die Einkäufe, fuhr mit einem groβen Eimer in der Straβenbahn zum Schlachthof und besorgte dort Hundefutter. Auch kochte ich abends und holte meinen Vater dann gegen zehn Uhr von der Bushaltestelle ab. „Ja, alles bestens“, meinte er. „Ich habe Olga nach Hause geschickt“, antwortete ich ihm. Olga hat ein kleines Feuer mit Zeitungspapier, mitten auf dem Fuβboden der Küche gemacht und das konnte ich nicht verantworten. Ihr Gehalt kannst du ja dafür mir geben.“ Mein Vater nickte, aber aus dem Geld wurde nichts, es war für andere Ausgaben wichtiger.

Ich lieβ mir diese Frage meines Vaters, diese so wichtige Frage, die Kardinalfrage, die immerhin die Weichen für mein weiteres Leben stellen würde, erst mal einige Minuten durch den Kopf gehen. „ Nach Deutschland!“, sagte ich daraufhin entschlossen…

 


Und so besorgte ich uns die Schiffspassagen vom Brasilianischen Lloyd, brachte dem Direktor ein Bild mit, mein Vater bat mich es ihm zu überbringen. Es war eines seiner wunderschönen Aquarellbilder, mit einem Holzrahmen versehen und hieβ die hohe Tatra. Ich sehe mich noch heute mit dem groβen Bild unterm Arm in den Raum kommen, wie die Angestellten mich ein wenig neugierig ansahen, ja es war unglaublich, was ich damals alles so erledigte.
Wir bekamen die Passagen besonders günstig. Alle hatten sie ein Herz für das kleine blonde Mädchen, egal wo. Ob am Markt, wo ich alles zur Hälfte des Preises herunterhandelte, oder beim Brasilianischen Lloyd, wo ich mich ernsthaft nach Schiffsverbindungen mit Frachtern, erst nach den USA, und dann nach Europa erkundigte.
Mein Vater erschien ganz zum Schluss im Büro des Senhor Dinarte, um die Passagen zu bezahlen und sie waren, wie mein Vater sagte, zu einem so guten Preis, wie er es sich nicht erträumt hatte.
Aber auch einen günstigen Transport für unsere Sachen besorgte ich durch eine Gesellschaft, welche Waren verschiffte. Ich hatte diese Agentur irgendwann kennen gelernt und die Männer freuten sich immer, wenn ich ab und zu dort am Nachmittag vorbeischaute und mit ihnen ein wenig plauderte.

Ich lackierte einige unserer Möbel und färbte die Sitzpolster der Sessel mit Hilfe einer Insektizidspritze und dunkelblauer Stoffarbe ein, aber wehe, man setzte sich drauf… Eine belgische Familie übernahm unser Haus mit Möbeln und jenen Sachen, die wir nicht mitnehmen konnten. Wir packten viel ein, so auch die Weltgeschichte in zwölf Bänden, die nun erneut den Atlantik überqueren sollte, einiges an Geschirr und Wäsche.
So endete die Zeit für uns in Brasilien und ich feierte meinen vierzehnten Geburtstag an Bord des Schiffes, sogar eine Torte hatte der Küchenchef für mich gebacken. Unser Schiff war die Tidecrest, ein englischer Bananedampfer. Das Schiff war weiβ angestrichen und es gab sogar ein winziges Schwimmbecken. Wir speisten mit dem Kapitän und dem Chefingenieur am Tisch sehr vornehm. Einmal fielen mir die Erbsen von der Gabel und kullerten auf den Fuβboden, aber alle taten so, als wenn sie nichts sehen und unterhielten sich normal weiter. Ich fragte dann leise meinen Vater, was ich machen solle das war mir so peinlich…
Während der Reise wurde es von Tag zu Tag kälter, kurz bevor wir in die Irische See kamen war der 21 Dezember und mein Vater sprach von der längsten Nacht, daran erinnere ich mich noch genau. Das Wasser der Irischen See war von einem wunderschönen Flaschengrün. Am 23 Dezember liefen wir in Liverpool ein. Alles lag in dichtem Nebel und die Kälte war ein Schlag, ich besaβ keine richtigen Wintersachen und nur sehr leichte Schuhe. Es war jenes Jahr 1962, wo eine Kältewelle, Europa heimsuchte. Zwanzig Grad Minus. Die Heizung im Zug, der uns am nächsten Tag nach London bringen sollte, war zugefroren. In London einige Stunden Aufenthalt, dann nach Doover und von dort mit der Fähre nach Dünkirchen. So verbrachten wir Heilig Abend auf dem Englischen Kanal unter lauter fröhlich singenden Betrunkenen, die aber nach und nach verschwanden, denn es war Windstärke Acht und alle wurden seekrank. Nur mein Vater und ich nicht, wir kamen ja gerade von der rauen See.
Frühmorgens in Dünkirchen in den Zug nach Basel. Es folgte ein langer Tag auf Reisen, über Lille, Metz, Strasbourg, Colmar, Mühlhausen, bis Basel. Abends von Basel mit einem weiteren Zug nach Dornach, dann ein Taxi hinauf zum Goetheanum Hügel. Dort wartete meine Mutter in einer winzigen Wohnung mit geschmücktem Weihnachtsbaum, brennenden Kerzen und einem Brathähnchen und Knödeln als Essen und vielen Geschenken, warme Kleidung für uns, die sie aus Amerika mitbrachte und der Tisch war gedeckt und ich fiel meiner Mutter endlich in die Arme.

Brasilien war tausende Kilometer weit in die Ferne gerückt. Brasilien, wo ich vier Jahre lebte. „Brasil, ame o, ou deixe o!“ So lautet ein Spruch. Brasilien, liebe es, oder lasse es. Das Land mit seiner unbändigen Kraft, eine Kraft, die ich nicht mehr in meinem Inneren auszulöschen vermochte. Später, bereits als erwachsene Frau kehrte ich dorthin zurück, an der Seite meines Ehemannes und unserer kleinen Tochter, damals gerade zwei Monate alt. Zusammen verbrachten wir dort sieben Jahre.
Der Spruch, „Brasilien liebe es oder lasse es.“ Dieser Spruch hätte auch heiβen können:“ liebe es, oder hasse es“, denn ich liebte dieses Land und ich hasste es.
Heute liebe ich dieses Land nur noch mit seinen wunderbaren Menschen. Ein Volk, welches die Leichtigkeit des Seins wie kein anderes Volk besser beherrscht… in Brasilien tanzen die Gene der Menschen im Blut.

Einmal im Jahr, packt mich, die „saudade“, wie Sehnsucht in Portugiesisch genannt wird. Dann fliege ich mit meinem Mann nach Bahia in unser Paradies und stille den Durst meiner Seele, wenn ich träge in der Hängematte liege und dem Wind lausche, der den Abend bringt. Der sanfte Wind in den Kokospalmen, in den ruhigen Räumen ohne Gestern, ohne Morgen…


 



„Auf Wiedersehen!“, rief ich meinem Vater aus dem Zugfenster zu und winkte. Der Zug setzte sich in Bewegung und rollte aus dem Bahnhof von Köln. Es war ein Gefühl von Abenteuer und Aufbruch ins Unbekannte, das mich seit Wochen gepackt hatte. Jetzt endlich rückte der Augenblick näher. Dieser Zug fuhr ihm entgegen. Ich zündete mir eine Zigarette an und blies den Rauch zum Fenster hinaus, blickte auf die Bäume und die Felder. Dann wieder eine Stadt und erneut Felder, Bäume und Hecken und Hügel. Ein Hauch von Frühling kam in mein Zugabteil und umspielte mich, vermischte sich mit meinen Träumen von weiter Ferne.

Über mir im Gepäcknetzt thronte mein groβer Koffer und noch ein kleinerer Koffer und mein Schallplattenspieler. Mein Hab und Gut, welches mich die nächsten Monate begleiten sollte.

Als der Zug in endlich in Bremerhaven einfuhr, stieg die Spannung. Ich nahm ein Taxi und sagte dem Fahrer die Adresse. Die Fahrt dauerte nicht lange, da hielten wir vor einem mehrstöckigen Backsteingebäude. Der Pförtner erklärte mir den Weg zum Personalbüro und schickte mich in den vierten Stock. Mein Hab und Gut, durfte ich unten bei ihm lassen, und so machte ich mich auf den Weg, während die Spannung für mich ins Unerträgliche stieg.

Ich war damals gerade Einundzwanzig geworden und ausgesprochen schüchtern. Meine Schüchternheit hielt mich aber nicht davon ab, Träume zu verwirklichen oder die Welt entdecken zu wollen. Schüchternheit hin, Schüchternheit her, dachte ich seufzend. Ich würde jetzt in die Höhle des Löwen eintreten und den Herrn, der dort hinter dem Schreibtisch säβe, wenigstens versuchen anzulächeln.

„Guten Tag, Fräulein O.“, begrüβte mich der Löwe in seiner Höhle. Ich lächelte so gut ich konnte und trat näher. Der Löwe war ein hochgewachsener Mann Mitte Vierzig, er lächelte auch und forderte mich auf, Platz zu nehmen. „Wir haben sie schon erwartet, Fräulein O.“ Er sprach den typischen Akzent des Nordens, der mich die nächsten Monate begleiten sollte und an den ich mich schnell gewöhnte.
„Hier sind einige Papiere, die noch zu unterschreiben sind“, erklärte er und schob sie mir rüber. „Füllen sie die bitte in aller Ruhe aus.“ Ich begann mich sofort ans Werk zu machen und hatte das bald erledigt.
„Gut. Dann können sie jetzt in das Seemannsfrauenheim fahren und dort übernachten. Morgen in aller Früh, werden sie abgeholt und nach Hamburg an Bord gebracht.“
„Um wie viel Uhr?“
„Lassen sie mich nachschauen. Der Fahrer ist für Sieben Uhr bestellt“, sagte er und erhob sich. „Dann wünsche ich ihnen eine gute Reise, Fräulein O.“ Noch ein Händedruck und ein Lächeln und hinaus war ich, entlassen aus der Höhle des Löwen, bzw. dem Personalbüro des Norddeutschen Lloyd.

Am nächsten Morgen wartete der Fahrer des Norddeutschen Lloyd vor dem Eingang des Seemannsfrauenheims. Wir waren vier junge Frauen, hatten einander schon begrüβt und ein wenig beschnuppert. Da war Mira aus Prag. Mit ihr war ich am Vorabend noch nach Bremen gefahren. Auf der Suche nach den Bremer Stadtmusikanten, wie wir es lachend nannten. Endlich standen wir dann davor und meinten einhellig: „Die haben wir uns aber viel gröβer
vorgestellt!“
Adele und Elke, lernte ich erst an Bord richtig kennen. Der Fahrer freute sich, vier hübsche Mädels nach Hamburg zu fahren. Wir stellten ihm jede Menge Fragen über die Seefahrt, aber er wusste nicht viel zu berichten. Die Landschaft bestand aus ein paar flachen Hügeln und er meinte stolz: „Das ist die Holsteinische Schweiz.“ Meine Anspannung war nun einer freudigen, irgendwie euphorischen Erwartungsstimmung gewichen, als wir über die Elbbrücken kamen.

Und jetzt war es wirklich soweit, als wir in den Hamburger Freihafen hineinfuhren. Da lag unser Schiff und zukünftiges Zuhause: die M.S. Friesenstein, ein Schnellfrachter und besonders modernes Schiff von der Flotte des Lloyd.
„Die Friesenstein ist heute Morgen erst eingelaufen. Sie kommt vom Südostasien Turn“, erklärte uns der Fahrer und parkte seinen Wagen direkt vor der Gangway.
Rings um Das Schiff waren die Hafenarbeiter voll beschäftigt mit der Löschung der Ladung. Ladebäume wurden hin und her bewegt und Ladekrähne waren im Einsatz, was mich sehr beindruckte. Dann nahm ich mein Hab und Gut und schleppte es die Gangway rauf. Irgendein Offizier brachte uns zu unseren Kabinen. Ich hatte meine Kabine zusammen mit Adele.
Alles war noch fremd, die winzige Kabine mit den beiden Kojen, ein Tisch eine Bank mit zwei Hockern. Eine Art Spind für unsere Kleidung und ein kleines Bullauge, wo ein wenig Tageslicht hineinkriechen konnte. Wir zogen unsere Uniformen an. Lachend begutachteten wir uns gegenseitig: Dunkelblauer Rock und weiβe Bluse, dazu ein dunkelblaues Käppi. Dann hinauf und den Dampfer inspizieren. Neugierige Blicke der Mannschaft, die meisten auch nicht viel älter als wir. „Na, das kann ja heiter werden“, meinte Adele leise zu mir. „Vierzig Mann an Bord und nur Vier Frauen.“
Dann gab es erst mal Mittagsessen in der Offiziersmesse, und da es Samstag war, gab es Eintopf, so wie jeden Samstag und auf allen Schiffen des Norddeutschen Lloyd.
Anschlieβend begann bereits die Arbeit. Die Stewardessen, die vor uns an Bord waren, wollten so schnell wie möglich nach Hause, was nach einem monatelangen Turn normal ist.
Mein Aufgabenbereich war die Offiziersmesse und Pantry. Vormittags hatte ich die Kabinen der Offiziere zu reinigen. Nachmittags Kaffe und Tee auf die Brücke zu bringen. Insgesamt ein Elfstunden Arbeitstag. Morgens um Viertel vor Sechs wurden wir durch Klopfen eines Matrosen an die Tür und der Aufforderung: „Reise, Reise“, geweckt, was soviel wie arise, arise heiβt. Die Zwei Stunden Mittagsruhe waren immer eine Wohltat. Wenn wir auf See waren, nutzte ich diese Zeit und sonnte mich auf dem Peildeck.
„Wann laufen wir endlich aus?“, fragten wir ungeduldig den ersten Offizier, der uns am Nachmittag im Salon empfing und begrüβte.
„In ungefähr drei Wochen wird es soweit sein“, meinte er. „Wir haben auf dem Rückweg in der Straβe von Madagaskar, Orkan abbekommen. Die ganze Bag vorne ist eingedrückt worden, das wird im Trockendock erst in Ordnung gebracht.“
„Das war sicher dramatisch?“, fragte ich. Er nickte. „Wir mussten brennende Phosphorfässer über Bord werfen. Ja, da war was los!“
Dann kam der Schiffsarzt und verpasste uns jede Menge Impfungen. „Beginnt keine Affäre mit einem verheirateten Mann an Bord“, ermahnte er noch und gab jeder von uns Mädchen vier Packungen Antibabypillen, die wir errötend entgegen nahmen.

Drei Wochen später stachen wir endgültig in See. Über Rotterdam führte die Route zum Panamakanal und weiter nach Japan und Südkorea.
Zusammen mit Adele stand ich Achterbord, wir blickten zurück nach Europa, das mehr und mehr in der Ferne verschwand.

 
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9.Juli Donnerstag

Wir lagen auf Reede, Nebel… man konnte nur die umher liegenden Schiffe bewundern, mehr leider vorerst nicht! Von Yokohama nichts zu sehen.
Ich war gespannt auf Japan und auf seine Menschen. Am Abend ging es nach Dienst dann endlich los, wir hatten inzwischen Ferryboat- Verbindung bekommen und tuckerten 45 Minuten durch die Bay von Yokohama zur Center Pier.

Yokohama Center Pier… grelle Leuchtreklamen, nur japanische Schriftzeichen und riesengroβ. Sie sind es, die das japanische moderne Straβenbild beherrschen. Es ist nahezu unmöglich alles mit den Augen aufzunehmen, aber sie sind ganz anders, die Japaner: Männer die in dicken Holzschuhen herumlaufen, Frauen in Kimonos.



Montag 13.Juli Tokyo


Am Montag wagte ich das Abenteuer: allein nach Tokyo, denn keiner wollte mitkommen. Das Schwierigste erschien mir erst mal das Hinkommen, aber es war leichter als ich gedacht hatte.
Taxi nach Yokohama Central Station, ein bisschen mit Händen und Füssen reden… hai, hai
und dann so nebenbei aufpassen, nicht in den falschen Zug zu steigen.

Aber es ging alles gut, in zwanzig Minuten mit dem Express, war ich da. Tokyo damals mit 14 Millionen, ein überdimensionaler Bahnhof mit fünf Stockwerken und Rolltreppen.

Als erstes fuhr ich zum Tokyo Tower, dann Rikshafahrt um Imperial Pallace Garden
und dann nach Ginza…

Nirgends normale Schrift an den Straβenschildern, ich verstand nix. So fragte ich den ersten Japaner: „Ginza?“
„Hai, hai“, kam zur Antwort.
Das wiederholte sich mehrmals…

Irgendwann merkte ich, dass der ganze Stadtteil Ginza hieβ. Ich kaufte mir Japanische Hozdrucke auf Reispapier und schaute mir die Ginza an. Die Menschen hatten es alle so eilig und auf einmal inmitten dieser Menschenmassen fühlte ich mich einsam.

Zurück auf den Dampfer, dachte ich. Während das Taxi zur Tokyo Station fuhr, fiel mir ein
dass es nicht sicher war, ob wir an der Homuko Pier bleiben würden… wir sollten an die Boje verholt werden, entweder heute Nacht oder noch heute Nachmittag. Es war inzwischen 17 Uhr und rush hour in Tokyo...



Als ich mit dem Taxi die Homuko Pier erreichte und mein Dampfer da ruhig lag, da kam er mir auf einmal wie ein Stück Heimat vor… ich atmete auf und stieg die Gangway hinauf. Alles klar vordern und achtern murmelte ich dankbar.


Wir wurden noch abends an die Boje verholt, ungefähr dreihundert Meter von der Pier entfernt… das war auch die Nacht, wo Tarzan, nach seinem Landgang an Bord zurückschwamm, denn es war kein Boot in Sicht und seine Wache sollte bald beginnen.
Seinen Ausweis gab er zwischen die Zähne und dann schwamm er los…
Es gab viel Gelächter an Bord der Friesenstein, aber Tarzan bescheerte uns in Nagoya noch eines seiner Tarzanabenteuer…


wir blieben sechs Wochen in Japan
und besuchten die Häfen: Yokohama, Kobe, Nagoya
dann Süd Korea und erneut Yokohama...





in unserer Kabine am feiern​

 


Aber zurück in meine Kindheit nach Brasilien:

Ich erinnere mich auch an lustige Begebenheiten. Der Ameisenhaufen, in den ich mich bei dem Versteckspielen setzte. Ich rannte nach Hause, am ganzen Körper übersät mit Ameisenstichen und kam unter die kalte Dusche. Oder die rote Chilli-Schote, die ich beim Gemüsehändler mutig hinunterschluckte.
Der Gemüsehändler staunte nur so. Ich ging lächelnd von dannen. Kaum aber war ich um die Ecke, rannte ich zum nächsten Wasserhahn um das teuflische Brennen zu löschen.

Später lebten wir in São Vicente am Meer. Es gab da den alten, verwilderten Kater in unserer Strasse, der unserem kleinen Kater Murli so schwer zusetzte.

Der alte Kater hatte nur noch ein Auge und war riesengroβ. So fing ich eines Tages den alten Haudegen ein und fuhr mit ihm, in einer Einkaufstasche verborgen mit dem Bus bis zur Ferry Boot Station nach Guarujá.
Die Leute im Bus fragten mich, was ich da täte und ich erzählte ihnen die Geschichte von dem alten Kater. Alle nickten beifällig, während es aus der Tasche miaute. Sogar der Busfahrer hatte Verständnis, obwohl der Transport von Tieren verboten war, drückte er auf brasilianische Art ein Auge zu.
Ich nahm dann mit dem alten Kater das Ferry-Boat bis zur Insel Guarujá und setzte ihn dort aus. Wir sahen ihn nie mehr wieder.

Ich wuchs damals wie Kraut und Rüben auf, wurde so schnell selbständig. Einmal die Woche ging ich auf den Strassen- Markt und kaufte Obst, Gemüse und Fisch besonders günstig ein. Wenn die Händler mich sahen riefen sie mir gleich zu: „Marisol komm her, ein Dutzend Orangen bekommst du für zehn Cruzeiros.“ Ich aber handelte die Orangen und alle übrigen Waren, mit einem Lächeln noch weiter runter.
Marisol war damals ein spanischer Musik-Kinderstar in meinem Alter und so wie ich blond, darum nannten die Marktleute mich Marisol. Auf dem Mart kaufte ich mir die kleinen Pasteten von den Chinesen, die in kleinen Wägelchen angeboten wurden und ganz frisch in Öl frittiert, verlockend dufteten.
Da ich die Waren günstig erstand, fiel das bei der Abrechnung zu Hause nie auf.
Ich erinnere mich dass ich dieses Prinzip später beibehielt: durch eine frisierte Abrechnung ergatterte ich mir immer ein wenig Kleingeld, warum musste ich auch immer die Einkäufe erledigen?
Am Straβenmarkt waren die Jungs mit ihren kleinen Schubkarren versammelt und warteten auf Kundschaft. So nahm ich mir auch immer einen Jungen, der den Einkauf für mich nach Hause fuhr. Mit zehn Jahren probierte ich die ersten Kochrezepte aus einem Buch aus und mit zwölf kochte ich meistens das Essen zu Hause.
Wir hatten immer eine empregada, ein Dienstmädchen, sie putzte und kümmerte sich um die Wäsche, was nicht viel Monatslohn kostete. Mit den Dienstmädchen lernte ich auch schnell Portugiesisch, nach einem Jahr hatte ich die Sprache erlernt.
In São Vicente lebte ich besonders gerne. São Vicente, ein kleiner Badeort neben dem Kaffeeausfuhrhafen Santos.
So verbrachte ich viel Zeit am Strand mit meiner Mutter, der es inzwischen wieder gesundheitlich besser ging. Wir unternahmen lange Spaziergänge am Meer und ich schloss Freundschaften mit den Kindern aus der Nachbarschaft.
In Santos besuchte ich das Gymnasium Colégio Tarquinio Silva.
Wir waren sechzig Schüler in der Klasse und wurden mit Nummer aufgerufen, ich fand das lustig, statt einem Namen hieβ es dann: Nummer 3? Wir mussten dann mit: “presente“, antworten, das hieβ anwesend. In dieser Schule lebte ich richtig auf und vermochte wieder unbeschwert zu leben. In Brasilien bestand Schuluniformpflicht, so gab es keinen Kleiderwettbewerb zwischen armen und reichen Schülern. Die Mädchen trugen einen dunkelblauen Faltenrock und weiβe Bluse. Die Jungens dunkelblaue Hosen und weiβe Hemden. Mit den Brasilianern kam ich von Anfang an klar, hatte dagegen meine Schwierigkeiten mit Deutschen. Und das setzte sich bis zu meinem vierzigsten Lebensjahr fort, ich konnte das beobachten, da ich viele Jahre abwechselnd im Ausland und in Deutschland lebte.
Warum wohl?
Meine Antwort vor einigen Jahren noch war: „Ich brauche die Wärme der
lateinischen Menschen um mein Herz zu erwärmen…mein Herz war kalt. Diese Kälte projektierte ich auf die Deutschen, die Deutschen… kalt und unnahbar. Gewissermaβen sind sie es, mit ihrem ewigen Perfektionismus. Aber das alles war ich. Ich war ein Kämpfer geworden, man hatte mir oft genug den Teppich unter den Füssen weggezogen.
Natürlich zählte ich auch die ganzen positiven Eigenschaften meiner Landsleute auf, denn ich war immer stolz Deutsche zu sein. Dadurch, dass ich so viele Jahre im Ausland lebte, kam ich mir immer als was Besonderes vor und das ist bis heute so geblieben. Ja, ich muss schmunzeln, eigentlich ist jeder Mensch etwas Besonderes.

Wie ich schrieb, kehrte ich 1962 zu Weihnachten nach Europa zurück. Wir wohnten erneut in Dornach und ich besuchte die Waldorfschule in Basel. Es war ein sehr kalter Winter und ich stand jeden Morgen um sechs auf, um mit der Tram nach Basel zu fahren.
Es war eine schwere Zeit, mein Vater auf der Suche nach Arbeit. In der Schweiz, so gut wie unmöglich. Wir lebten in einem Raum und ich flüchtete in die Welt der Bücher. Damals las ich Huckleberry Fynn von Tom Saywers und begann mit den Büchern von Karl May. Oder ich hörte den Lesungen meiner Eltern zu. Es waren die Russen, die es ihnen angetan hatten, denn meine Mutter wollte einen Roman schreiben. Ich hatte auch eine sehr liebe Freundin, sie hieβ Angelika und besuchte sie oft. Sie wohnte in Arlesheim, das Dorf neben Dornach und wir fuhren gemeinsam mit der Tram nach Basel.
Mein Vater bekam eine Stellung in Frankfurt. Ich zog zu meiner Oma nach Stuttgart und besuchte dort die Waldorfschule bis Ostern. Dann kam ich nach Frankfurt. Aber nur bis zum Herbst, dann schmiss mein Vater seine Stellung und wir zogen nach Regensburg. Er wollte unbedingt Lehrer werden, durch sein Studium der Germanistik und Kunstgeschichte, vor dem Krieg, fehlten ihm nur zwei Semester und er wäre Lehrer. Auf dem Dorf wollte er gerne leben, in Bayern. In diesem Jahr 1963, besuchte ich wohlgemerkt vier verschiedene Schulen.
Jetzt kam ich in eine katholische Schwesternschule. Ich fühlte mich dort wohl und ging morgens in die heilige Messe, weil wir einen so guten Pfarrer hatten als Religionslehrer.
Aber im Mai hieβ es erneut Abschied nehmen...




LG Ali

 
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