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19. September 2004
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Es ist schrecklich, zur Zeit kostet es mich jedes Mal Überwindung die Nachrichten laufen zu lassen. Danach geht es mir meist schlecht deshalb setzte ich mich an den PC und schreibe was. Die Geschichte hier ist auch so entstanden, es hat ziemlich lange gedauert, ich weiß gar nicht, wann ich damit angefangen habe. Es kamen mir abschnittweise Gedanken, wenn der Fluss beendet war habe ich aufgehört zu schreiben. Nun ist sie fertig, also...

Es war ein lauter Knall der mich aufschrecken ließ und plötzlich geriet alles in einen gigantischen Wirbel aus Staub und Rauch. Ich merkte wie mir die Einkaufstasche mit dem gerade erst gekauftem Brot aus den Händen gerissen wurde und mein Körper, jeglichem Eigenwillen entzogen, durch die Luft schleuderte. Seit wann konnte ich fliegen? Ich konnte es wohl doch nicht, der Aufprall war hart und unsanft, jedoch blieb er ohne das Gefühl von Schmerz. Um mich herum wurden Stimmen laut die riefen und schrieen, ein unglaubliches Getöse einzig und allein noch durchdrungen von diesem Weinen. Oh wie ich es hasse, wenn Leute weinen, es löst in mir jedes Mal dieses Gefühl von innerem Schmerz aus, dass ich nicht los werde, bevor geholfen wird. Im Grunde ist dieses Gefühl gut, es ist mein Mitgefühl und mein Bedürfnis nach Führsorglichkeit, doch wenn ich nicht helfen kann? Das ist wie ein tiefer Stich ins Herz.
Ich muss aufstehen, muss schauen warum sie weinen, vielleicht sind sie verletzt. Was ist überhaupt passiert? Ein Sprengsatz? Ein Anschlag? Das ist in letzter Zeit Alltag, aber warum gerade hier? Hier sind Frauen und Kinder, unschuldige Leute, warum trifft es immer die Unschuldigen? Damit es irgendwann niemanden mehr gibt der gegen Mord, Folter und Krieg ist? Vermutlich, andere Gründe lassen sich nicht erklären, wenn man davon ausgeht, dass die Menschen immer noch Menschen sind.

Die Leute sind überall, einige liegen, andere sitzen, wenige laufen umher und tun ihr möglichstes um zu helfen. Viele sind verletzt oder tot, die Zahl kann ich nicht erfassen, warum auch? Sollen das die Nachrichten später tun, ich werde ihnen die Namen nennen, die hinter den Nummern stecken. Freunde und Nachbarn, mit manchen habe ich gerade noch gesprochen und jetzt sind ihre Körper entstellt und ohne Leben. Es tut weh, aber ich kann den Weinenden nicht helfen, ich muss erst einmal selbst begreifen. Wo sind meine Tränen? Wo ist das Salz auf den Lippen und das Gefühl brennender Haut? Es ist nicht da, meine Tränen sind versiegt, ich trauere still. Vermutlich der Schock, sage ich mir doch es hilft mir nicht über diese Unruhe hinweg, irgendetwas stimmt nicht, das spüre ich genau.

Da endlich, ich höre die Sirenen. Krankenwagen und Feuerwehr, vermutlich auch die Polizei. Wenn vorher ein Hauch von Ruhe eingekehrt wäre, so hätte er sich jetzt verloren. Ruhe, ha, ein schlechter Scherz, ich sollte mich für diesen Gedanken entschuldigen.
Ich bin erleichtert und damit eine von vielen. Die Menschen die können, laufen den Helfern entgegen, reden auf sie ein, ziehen sie mit zu ihren verletzten Bekannten und Verwandten, hoffen, dass der Tod nur ein Fehlschluss war.
Diese Hoffnung in ihren Augen und Stimmen beruhigt mich weit mehr als der Grund für jene, es nimmt mir etwas von der Hilflosigkeit, jetzt bin ich mir sicher, dass die Tränen verstummen können. Weit gefehlt- auf Freude folgen Verzweiflung und ein weiterer Schwall Fassungslosigkeit. Wie ich, können viele nicht den Grund solcher Grausamkeit verstehen, bis jetzt hatten sie jene nur aus Fernsehbildern, dem Radio oder der Zeitung gekannt. Es war nahe gehend, sicher, aber es war auch fern und unwirklich gewesen. Die Realität hatte uns alle eingeholt, nun gab es kein Entkommen mehr. Wer einmal die Augen öffnet, wird sie so schnell nicht mehr verschließen können.

Das Gefühl welches ich gerade habe lässt sich nur schwer beschreiben, ich weiß nicht was ich täte, ständen die Verantwortlichen des Anschlages jetzt vor mir. Würde ich sie voll Zorn anbrüllen? Was sie sich dächten, ob ihnen die Menschen mit ihren Familien und Freunden, ihren Aufgaben, Wünschen und Träumen vollkommen egal wären?
Würde ich sie stumm anstarren, kein Wort sagen können vor kaltem, tiefgründigem Hass? Vor innerem Zorn?
Würde ich ihnen das antun, was sie den Menschen hier angetan haben? Würde ich mich rächen wollen?
Oder würde ich weinen, sie anschauen und verzweifelt über den Mangel meines Verstehens fragen: Warum?
Meine Gefühle leiten mich vom einen zum anderen, ähnlich wie in einer Achterbahn, auf und ab, zu schnell um das eine zu begreifen, ohne schon beim Nächsten zu sein.

Keiner scheint mich zu registrieren. Sanitäter, Helfer, Hilfesuchende, sie alle laufen einfach an mir vorbei. Nicht ein einziger Blick, kein einziges Wort. Ich muss wohl unverletzt und verwirrt wirken. Es gibt viele die dringender Hilfe brauchen, aber mich diese Hilfe ausführen zu lassen, mich zu fragen, dazu kann sich keiner überwinden. Wie mag ich wohl aussehen? So hilflos?
Das ist zum verrückt werden, eigentlich, denn seltsamerweise bin ich noch immer vollkommen ruhig. Als gehe mich das alles nicht wirklich etwas an, als wäre es noch immer eine Meldung im Fernseher. Sollte es wirklich so einfach sein? Müsste ich nur einen Knopf drücken und all dieses Leid hier würde mich bewegen aber nicht mitreißen? Würde mich nichts mehr angehen? Schön wäre es, aber Realität bleibt Realität.

Ich muss an meine Familie denken, die zu Hause auf das Essen wartet. Meine Eltern und Geschwister die vor dem Fernseher sitzen und den Luxus genießen den sich in diesem Moment so viele wünschen- einen Ausschaltknopf. Würden die Nachrichten schon Übertragungen senden? Ich schaue mich um, kann aber nichts dergleichen entdecken. Vermutlich lässt man sie noch nicht her, die Bilder sind zu schrecklich, vor den Apparaten zu Haus könnten Kinder sitzen, die nicht verstehen. Alles ist zu unfassbar um es zu erklären, wie sollte ich später bloß berichten? Es war verwirrend? Es war schrecklich? Es war...unmenschlich? All diese Worte werden meinen jüngsten Erlebnissen nicht gerecht, aber bessere fallen mir nicht ein. Barbarisch, unfassbar, traurig. Hass, Verachtung, Mordlust. Vielleicht sollte ich einfach beim Naheliegensteen bleiben- Krieg. Ja, das trifft es nur zu gut, auch wenn es lediglich fünf Buchstaben sind.

In all meiner Unschlüssigkeit sehe ich plötzlich die Gestalt. Sie lächelt und winkt mir zu, ich meine das Gesicht eines Mannes zu erkennen, bin mir aber nicht sicher, noch immer erschwert der Rauch mir eine klare Sicht. Diese Person ist hell gekleidet, ihre Gestik wirkt ruhig und entspannt. Man möchte meinen die Grau-Schwarze Wolke von Erschütterung und Leid sei an ihr vorüber gezogen.
Wie kann sie so unbeschwert sein? Ich möchte, kann aber keine Wut darüber empfinden, alles was ich fühle ist eine unsagbare Erleichterung.
Ich sehe mich, sehe meine Schritte die meinen mit einem Male so leichten Körper zu der Gestalt hin tragen und als ich dann vor ihr stehe, ihr Gesicht sehe mit diesem so warmen und herzlichen Lächeln, da merke ich, wie sie endlich fließen- meine Tränen. Ich bin befreit von meiner eigenen Stummheit.

Beruhigend reicht man mir die Hand und ich ergreife sie. Mein Weinen kann ich kaum zügeln, alles schwemmt es aus mir heraus. All den Schmerz, die Trauer, die Zweifel und verwirrenden Gedanken. Es ist, als würde man eine unglaublich schwere Last von mir nehmen, alles was ich kenne, das Leben.
„Du bist gekommen.“, höre ich mich schluchzen und sehe das Nicken jener Gestalt. Meinem Engel, den ich so lange nicht gesehen hatte, nicht seit ich für ein Menschenleben auf diese Erde gekommen war.

Alles ist auf eine Art und Weise endlos geworden, hat keine Grenzen mehr und endlich dämmert es mir. Ich bin tot. Mir war klar dass ich irgendwann sterben würde, dass wusste ich von dem Tag an, an dem man mir erklärte was Sterben ist, doch was der Tod bedeutet, dass weiß ich erst jetzt da ich ihn durchlebe. Ja durchlebe, er ist wie das Leben selbst, ich spüre mich, sehe mich, denke. Denke ich wirklich? Nein, vielmehr ist es ein tiefes Wissen welches mir vor Augen tritt, denken kommt dem nicht nahe genug.

„Lass uns gehen.“, spricht mein Engel und zögerlich gehe ich mit ihm hinfort. Ich weiß wohin, auch wenn ich einen Weg nicht erkennen kann. Ich gehe einfach, schwebe leicht dahin zu jenem goldenen Tor im Mittelpunkt des Himmels. Dann, bevor ich hindurchgehe, bleibe ich noch einmal stehen und schaue zurück. Jetzt da ich mich umschaue sehe ich die Welt zum ersten mal richtig an. Ich sehe die Erdkugel als Ganzes, sehe einzelne Länder, Städte, wenn ich will dann auch die Raupe die gerade in diesem Moment an einem grünen Blatt, an einem kleinen Strauch, in einem kleinen Vorgarten knabbert. Ich muss lächeln bei diesem Anblick, der Moment erscheint mir so vollkommen.
„Warum nur das alles? Warum müssen Menschenleben so voller Leiden sein?“ Mein Engel streift mich mit einem Blick voll Liebe und Verständnis. Ein jedes Mal, wenn er mich ansieht, spüre ich, wie meine Seele heilt und ich mich ein Stück weit mehr erinnern kann. Ob es der Erde auch so geht? Ob sie unter jenem bedingungslos liebendem Blick ebenfalls heilen kann? Ob sie ihn überhaupt spürt unter jener Schicht von Hass, Angst und Verzweiflung?
„Denke nicht zu düster.“, spricht die zarte Lichtgestalt zu mir. „Erinnere dich an die Familie die du liebst, an das Kinderlachen. An die salzigen Tränen des Mitgefühls, an die Menschen die bei dir waren und dich begleiteten auf deinem Weg, so wie ich es nun tue. Es gibt mehr als das Leid, die Menschen müssen nur lernen dies zu verstehen. Auf die kleinen Augenblicke des Glücks zu achten und sie nicht selbst zu begraben unter ihrer Unsicherheit. Sie werden lernen, du hast gelernt. Irgendwann, da werden die Menschen damit aufhören Mensch zu sein. Sie werden wieder sie selbst sein, jenseits von irgendeiner Rolle.“

Ich weiß, er hat recht. Ich kann es deutlich fühlen. Was ich jetzt tun würde, würden die Verantwortlichen des Anschlages vor mir stehen? Ich würde ihnen ein Lächeln schenken, würde sie an die Hand nehmen und mit ihnen ein Stück gehen. Durch jenes Tor aus strahlendem Licht, hinein in eine andere Welt...
 
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