Der unsterbliche Wassertropfen

Whitewolf1960

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Der unsterbliche Wassertropfen

Es war einmal ein Wassertropfen, den die große Langeweile plagte. Das war nicht immer so gewesen, denn er hatte die ganze Welt gesehen und konnte sehr viel erzählen. Er war einer der Tropfen, die kurz nach der Geburt der Erde entstanden waren. Fast die komplette Erdgeschichte hatte er erlebt, von der Entstehung der ersten Einzeller über die Dinosaurier bis zu den heutigen Menschen. Unzählige Male hatte er sich von der Sonne verdunsten lassen und war als Regentropfen wieder zur Erde zurück gekommen. Oft war er auch von Lebewesen getrunken worden und hatte zu deren Überleben beigetragen. Besonders gern erzählte er den jüngeren Tropfen von seinen Erlebnissen. Alle großen Flüsse hatte er mit vielen anderen Tropfen gebildet und war von den Quellen bis zur Mündung ins Meer geflossen.

Wenn er verschmutzt war, brauchte er, um wieder sauber zu werden, nur zu verdunsten und sich wieder herab regnen zu lassen. Sein Leben war einfach. Bis zu dem Moment, als es ihm zu einfach erschien. Er hatte es langsam satt, immer nur zu fließen und von der Sonne verdunstet zu werden. Es musste doch noch etwas anderes geben. Nur was? Ein anderer Tropfen berichtete ihm von etwas Besonderem, was es bei den Menschen geben sollte. Sie nähmen aus einem Fluss sehr viele Tropfen und die hätten bei der Rückkehr kein Gedächtnis mehr. Das wollte er aber nicht und fragte sich weiterhin, was es noch gäbe. Noch einer erzählte ihm von einem riesengroßen Ding, das andere Welten besuchen würde und auch Wasser brauchte. Dann könnte er doch noch viel mehr sehen. Das wollte er auch nicht, bedankte sich und floss weg.

Jeden Tag wurde seine Langeweile größer, sie quälte ihn schon richtig. Da durchzuckte es ihn: „Warum willst du etwas anderes sein, als du bist? Wassertropfen sind und bleiben eben Wassertropfen. Was gefällt dir daran nicht?“ „Ich bin es Leid, immer und ewig nur zu verdunsten und wieder herab zu regnen. Das ist furchtbar langweilig. Es muss doch was anderes geben!“ „Wenn du ein Tropfen bleibst, gibt es nichts anderes für dich. Du musst dich von allem trennen, dich völlig aufgeben, erst dann kannst du etwas an dir ändern. In was sollte ich dich verwandeln, wenn du so weit wärst?“ „Alles aufgeben, alles zurück lassen? Ist das nicht sehr schwer?“ „Wenn du so denkst, dann lassen wir alles am besten fallen. Bleibe einfach ein Tropfen und langweile dich unendlich, denn sterben kannst du ja nicht.“ „Na gut. Kann ich in einen Menschen verwandelt werden?“ „Dann müsstest du aber sterben, nach dem du in Schmerz und Mühsal dein Leben verbracht hast.“ „Was? Sterben? Wie geht das? Das kenne ich doch nicht.“ „Weißt du, dass Menschen eine unsterbliche Seele haben?“ „Dann möchte ich eine Seele werden.“ „Als Seele ist alles noch viel schwieriger. Du musst mit ansehen, wie das Ego des Menschen, in dessen Körper du dich befindest, ihn dauernd quält und niemals mit ihm zufrieden ist. Selbst wenn du ihn mit deiner zarten Stimme zu erreichen versuchst, so wehrt dich sein Ego ab und verdrängt dich. Willst du das wirklich?“ „Wenn ich dafür nicht sterben muss, dann schon.“ „Bevor du Seele wirst, musst du aber Alles aufgeben, sonst kannst du nicht verwandelt werden.“ „Muss das denn sein?“ „Du wirst nicht darum herum kommen.“ „Bevor ich der unendlichen Langeweile ausgesetzt bin, mache ich es. Können wir jetzt sofort die Verwandlung durchführen?“ „Natürlich. Aber ich habe dich gewarnt. Beklage dich nicht und ertrage dein Los. Es wird sehr schwer werden.“ „Egal, ich will es!“

Die Seele geriet in den Körper eines gesunden männlichen, noch nicht geborenen Kindes. Sie erlebte die Qualen der Geburt und die völlige Unmöglichkeit, auf irgendeine Weise, außer durch Schreien, mit der Umwelt in Kontakt zu treten. Nach dem der Junge sprechen gelernt hatte, meinte sie, jetzt ginge es aufwärts und sie könnte sich endlich mit Allen verständigen. Leider nahm niemand einen Dreijährigen für voll. Er hatte so viel zu erzählen, aber alle Menschen in seiner Umgebung hielten seine Worte für kindlichen Unsinn und geboten ihm öfters zu schweigen. Als er Schreiben und Lesen gelernt hatte, brachte er seine Gedanken zu Papier, aber niemand wollte sie lesen. Die Erzieher unterdrückten frühzeitig seine Fantasie und lehrten ihn, nur mit einer Gehirnhälfte zu denken und zwar der linken. Darin war nur die kalte Logik und das Einteilen in Gut und Schlecht enthalten, mit anderen Worten, er be- und verurteilte seine Welt. Außerdem lernte er nebenbei, berechnend zu sein und nur dann ein guter Mensch zu sein, wenn es ihm nützte. Sozusagen beschnitten sie ihn geistig, wie es mit fast allen Menschen auf der Welt geschah. Als er verheiratet und Vater geworden war, machte er mit seinen Kindern das Gleiche, was ihm widerfahren war. Er unterdrückte ihre Kreativität und ließ sie zu gut funktionierenden Mitgliedern der Gesellschaft ausbilden.

Die Seele hatte so oft versucht, ihn von Dummheiten abzuhalten, aber wie ihr prophezeit worden war, gelang ihr das fast nie. Nur mit einer zarten Stimme allein kann keiner viel ausrichten aber mehr stand ihr nicht zur Verfügung. Ihr Mensch hörte immer auf sein Ego, das sich schlimmer als jeder Sklaventreiber aufführte und ihn oft in die fürchterlichsten Situationen geraten ließ. Es war grausam, nichts dagegen unternehmen zu können und hilflos alles mit ansehen zu müssen.

Kurz bevor der Mensch starb, stellte sie fest, dass sie nicht ein Beobachter gewesen war, sondern ein Teil von ihm. Alle von ihm gemachten Erfahrungen waren ihre eigenen geworden, ohne das sie es bemerkt hatte. Nach seinem Tod gelangte sie in einen unendlich großen Raum, in dem sich viele andere Seelen befanden. Jede hatte andere Erfahrungen gemacht, die sie jetzt untereinander austauschten. Sie kam sich vor wie in einem großen Ozean. Eine Unterhaltung versetzte ihr fast einen Schock: „Man kommt sich vor wie ein Wassertropfen. Das Leben ist ein ewiger Kreislauf. Wie eine Quelle wird der Mensch geboren, fließt dem Meer entgegen und der Tod ist die Mündung.“ „Und dann landest du wieder hier bis zur nächsten Geburt. Wenn doch die Menschen wüssten wie sie das ändern könnten. Sie brauchen nur Alles zu lieben oder in Liebe anzunehmen und schon wären sie vom Kreislauf erlöst.“ „Frage doch mal die Egos, was die davon halten.“ Verstört begab sie sich woanders hin und hatte eingesehen, dass es sehr schwer war, vom Werden und Vergehen erlöst zu werden.
 
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