Gott kann fliegen

Gott kann fliegen​

Der kleine Käfer hatte das Wort „Gott“ aufgeschnappt.

Es war ein schönes Wort, fand er, es war kurz und strahlte dennoch eine gewisse Grösse aus.
Eine Weile genoss der den Klang dieses Wortes, sonnte sich darin. Es begann so weich, mit dem „G“, das war fast zärtlich. Dann wuchs es heran zu einem „o“ - gross war das, man konnte es dehnen, dann bekam es etwas von der Weite des Himmels. Doch dann verschloss sich das Wort. Gleich zwei „T“ beendeten es. Die hatten etwas von einer Tür, die einem jemand vor der Nase zuknallte. Und das mochte der kleine Käfer gar nicht.
Es dauerte etwas, bis ihm klar wurde, dass er nicht wusste, was dieses Wort bedeutete. Es war weich, gross und endete aprupt. Was meinte es?

So machte sich der Käfer auf den Weg.

Er fragte den Grashalm: „Bist Du Gott?“
Der Grashalm erzitterte vor Gelächter. „Ich bin Gras“, sagte es, „nur Gras. Nicht mehr. Gott ist viel, viel grösser.“

Grösser als ein Grashalm? Das schien dem Käfer schon ziemlich gross.
So ging er zur Sonnenblume und fragte auch sie:
„Bist Du Gott? Weil – Du bist so gross!“

Die Sonnenblume neigte ihr Haupt und sah zu ihm hinunter. Es schmeichelte ihr schon etwas, für Gott gehalten zu werden. „Nein, ich bin nicht Gott,“ war ihre Antwort, „Gott ist viel, viel grösser. Aber – er hat mich gemacht!“ Sie war ziemlich stolz darauf, direkt aus der Hand des Schöpfers zu kommen, damit war sie ihm ja wirklich sehr nahe. Sie war ein Kunstwerk!

Noch viel grösser als die Sonnenblume war Gott? Den Käfer beschlich so etwas wie Ehrfurcht.
Er begann die Sonnenblume hinaufzuklettern. Das war sehr, sehr mühsam, sie war soooooo hoch. Und ab und zu fiel er hinunter, wenn ein Wind kam, oder er nicht gut aufpasste, dann musste er wieder von vorne mit der Kletterei beginnen. Es war wirklich überaus anstrengend. Er war sehr ausser Puste und furchtbar müde, als er schliesslich in der grossen Blüte angekommen war. Er war so müde, dass er fast sofort einschlief. Aber vorher fühlte er noch die Liebkosung eines einzelnen Sonnenstrahls.

Als er wieder aufwachte, war es warm, hell, die Luft schien zu leuchten. Er war sehr glücklich. Er fühlte die warmen Sonnenstrahlen auf seinem Körper und fragte einen von ihnen: „Bist Du Gott?“ Es hätte ihm gefallen, wenn der Sonnenstrahl das bejaht hätte – dann wäre Gott hell gewesen und warm. Aber auch der Sonnenstrahl verneinte, doch er fuhr fort: „Ich will meine Mutter fragen, die sieht und weiss alles. Sie ist unendlich stark und weise. Bitte warte hier, bis ich wiederkomme.“ Und der Sonnenstrahl eilte zu seiner Mutter, kuschelte sich in ihre warmen Arme und fragte sie: „Sag einmal, was ist Gott? Weisst Du das? Der Käfer hat mich das gefragt und ich habe versprochen, ihm Antwort zu bringen.“ Und er musste kichern, als ihm einfiel, dass der Käfer ihn für Gott gehalten hatte.

Die Sonne schwieg. Sie musste nachdenken. Das war eine gute Frage, die Frage nach Gott. Der Käfer musste ein sehr kluges Geschöpf sein.

Dann antwortete sie: „Ich habe den Schöpfer nie gesehen und kenne ihn nicht. Ich glaube, er ist etwas behindert. Er kann nicht reden – also reden Vögel und Tiere an seiner Statt. Er kann nicht sehr schön sein, denn er versteckt sich, so dass niemand ihn sieht. An seiner Statt zeigt er alles, was du sehen kannst: alle Blumen, Gräser, Wolken, Käfer, Würmer, Vögel, einfach alles zeigt er – an seiner Statt.

Er hat ja nicht nur den Himmel gemacht – er hat auch mich an ihn gesetzt. Und er hat nicht nur mich gemacht, sondern auch Dich, liebes Kind, das Du aus mir hervorgehst. Und von Dir geht die Wärme ab, die in die Welt gesandt wird, zu den Gräsern und Tieren und Blumen, zu der Erde selber.

Und diese Wärme wiederum sorgt dafür, dass Leben entsteht, alles sich regen mag, wächst und gedeiht. Und alles, was wächst und gedeiht, regt wieder anders an, auch zu wachsen. Sogar die Ausscheidungen des Käfers sind noch Grundlagen für etwas Anderes, wachsen zu können.“

Der Sonnenstrahl war tief beeindruckt. So war Gott nicht nur Schöpfung, er hatte auch aus all seinen Geschöpfen wieder Schöpfer gemacht – denn jedes brachte irgendetwas hervor, aus dem dann wieder etwas Neues entstehen konnte.

Es war schon spät, als er ausser Atem wieder bei dem Käfer ankam. Es blieb ihm nicht mehr genug Zeit, um alles weiterzugeben, was ihm seine Mutter gesagt hatte – denn sie wollte bald schlafen gehen, und alle ihre Strahlen schliefen immer mit ihr gemeinsam. Das war so gemütlich.

Also fasste er sich kurz und sagte nur: „Wir alle sind Gott, ich bin es, Du bist es und die Sonnenblume ist es auch. Denn durch uns fliesst die Schöpferkraft, durch die wir erschaffen wurden. Sie ist es, die den Schöpfer ausmacht, und auch Dich und mich.
Jetzt muss ich aber schnell wieder nach Hause, die Mutter ruft schon!“
Und er eilte wieder heim.

Es wurde dunkel. Und in der Dunkelheit traute sich der Käfer nicht, wieder hinunter zu klettern. Also beschloss er, die Nacht noch in der Sonnenblume zu verbringen. Die hatte alles mit angehört, was der Sonnenstrahl dem Käfer mitgeteilt hatte und war sehr, sehr glücklich. Sie war Gott. Und der Käfer war Gott. Und die Sonne war Gott. Und die Nacht und die Sterne und der Mond waren auch Gott.

Am nächsten Morgen kam ein Mensch und schnitt die Sonnenblume mit einem Messer ab. Das letzte, was sie dachte, war: „Auch das ist Gott. Und wie ich mich fühle, jetzt, das ist auch Gott.“ Dann dachte sie nichts mehr.

Der Käfer war auf die Erde gepurzelt. Er war einerseits froh, dass ihm geholfen worden war, und er nicht hatte klettern müssen, aber der Sturz war doch recht heftig gewesen. Schnell zählte er seine Beinchen und stellte fest, dass sie alle noch da waren.

Dann dachte er nach. Was hatte der Sonnenstrahl noch mal gesagt?
„Wir alle sind Gott. Durch uns fliesst die Schöpferkraft, durch die wir erschaffen wurden. Sie ist es, die den Schöpfer ausmacht, und auch Dich und mich,“ hatte er gesagt, jedenfalls ungefähr. Was bedeutete das?

Jeder Schritt den er machte, machte er auf Gott? Die Erde war Gott? Jedes Blatt, das ihn bedeckte, war Gott? Der Wurm, dem er jeden Morgen begegnete war Gott, der Tautropfen, den er Morgens immer zu sich nahm und auch die Ameisen, denen er hin und wieder begegnete, alles war Gott. Denn eins nährte das Andere, aus Allem, was war konnte etwas Neues entstehen.

Tiefes Vertrauen durchfloss ihn. Sie alle waren Gott, sie alle waren von derselben Schöpferkraft durchflossen. Es konnte ihnen gar nichts passieren. Er nahm sich vor, nun freundlicher zu sein zu allen. Denn er konnte schon ein rechter Griesgram sein. War Gott, wie er, ebenfalls hin und wieder ein Griesgram?

Dann erspähte ein Vogel den Käfer, flog herbei, schnappte ihn sich und flog mit ihm davon.
Das letzte, was der Käfer dachte, und reine Freude durchströmte ihn dabei, war:
„Gott kann fliegen."
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LalDed
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