Kshemaraja schrieb:PRATYABHIJNAHRDAYAM - Das Herz der Erkenntnis
Dieser Text wurde ca. 1020 n. Chr. von dem indischen Weisen Kshemaraja verfasst.
Er besteht aus 20 kurzen, prägnanten Absätzen, von denen Muktananda sagt:
“Wenn du diese 20 Absätze verstanden hast, brauchst du keinen 21. mehr zu verstehen”.
1. CITIH SVATANTRA VIŚVA-SJDDHI-HETUH
Das absolute Bewußtsein, Citi, erschafft das Universum aus Ihrem eigenen freien Willen.
Das absolute Bewußtsein ist absolut frei, es entscheidet sich dazu, das gesamte Universum zu erschaffen, zum gesamten Universum zu werden. Es wird zu allem Unterscheidbaren: einzelnen Gedanken, Gefühlen wie Freude und Schmerz, allem, was wir in den Träumen wahrnehmen und allem Materiellen, sinnlich Wahrnehmbaren. Es wird zu allem Erscheinenden in Raum und Zeit. Alle möglichen Bewusstseinszustände sind Abwandlungen des Einen, absoluten Bewusstseins. Alles, was existiert, ist ein Ausdruck des freien Willens und der Existenz von Gott (Citi, das absolute Bewusstsein). Trotzdem bleibt es auch jenseits von Raum und Zeit, jenseits von Unterscheidung und Trennung immer ganz, immer vollständig, immer Eins.
2. SVECCHAYĀ SVABHITTAU VIŚVAM UNMĪLAYATI
Allein durch die Kraft ihres eigenen freien Willens entfaltet Sie das Universum auf ihrem eigenen Schirm (auf sich selbst als Grundlage)
Citi braucht nichts zweites, um das gesamte Universum zu manifestieren. Sie selbst ist die Leinwand, der Projektor, der Film, der Regisseur, die Schauspieler, die Handlung, die Kulisse und der Betrachter. Nichts geschieht gegen ihren höchsten freien Willen. “Kein Blatt fällt zu Boden, ohne dass Gott es weiß”. Wie sollte es anders sein, wenn das gleiche Bewusstsein in allem und als alles gegenwärtig ist?
3. TANNĀNĀ ANURŪPA GRĀHYA-GRĀHAKA-BHEDĀT
Das Universum ist vielfältig (besteht aus vielen Dingen) aufgrund der Unterscheidung gegenseitig aufeinander abgestimmter (anurupa) Objekte (grahya) und Subjekte (grahaka).
Dieser Absatz ist sehr interessant, denn er hebt den Widerspruch zwischen Idealismus (das Bewusstsein bestimmt das Sein) und Materialismus (das Sein bestimmt das Bewusstsein) auf und gibt beiden Recht. Hier ist die Rede von “gegenseitig aufeinander abgestimmten Subjekten und Objekten”, es gibt kein Überwiegen, nur ein sich gegenseitig Bedingen. Einerseits macht es klar, dass wir zu dem werden, was wir sind, durch das, was wir erlebt haben. Alle sinnlichen und seelischen Eindrücke formen unsere Identität. In diesem Sinn wird das Subjekt durch die Wahrnehmung der Objekte erschaffen. Andererseits können wir dadurch, dass wir unser Subjekt, unser Bewusstsein, verändern, einen großen Einfluss auf die äußere Realität nehmen. Sobald wir uns innerlich verändern, wird uns die Welt anders begegnen, werden auch andere Objekte für unser Bewusstsein wahrnehmbar. Subjekt und Objekt sind gegenseitig aufeinander abgestimmt.
4. CITI SANKOCĀTMĀ CETANO'PI SANKUCITA VIŚVAMAYAH
Eine individuelle Person (das Erfahrung machende Individuum) ist jemand, in dem sich Bewußtsein (chiti) zusammengezogen hat; sie besteht aus dem Universum in kontrahierter Form (hat das Universum in kontrahierter Form als seinen Körper).
Auch wir, als die einzelne, die Erfahrungen machende Person, sind nicht verschieden vom absoluten Bewusstsein. Citi ist auch, durch ihren eigenen freien Willen, zu uns geworden, so wie wir sind. Das universelle Bewusstsein hat sich zu einem individuellen Bewusstsein zusammengezogen, freiwillig beschränkt, um individuelle Erfahrungen machen zu können. Trotzdem ist und bleibt es wesentlich Citi, das universelle Bewusstsein, das die gesamte Potentialität des Universums enthält.
5. CITIREVA CETANA PADĀDAVARŪDHĀ CETYA SANKOCINĪ CITTAM
Citi selbst wird, indem Sie von ihrer Ebene des reinen Bewusstseins (chetana) herabsteigt, zum menschlichen Geist (chitta - Engl.: mind) während sie sich in Übereinstimmung mit den wahrgenommenen Objekten (chetya) zusammenzieht.
Schon aus den verschiedenen Worten, die im Sanskrit für bestimmte Formen des Bewusstseins und Bewusstseinsinhalte – Objekte – verwendet werden wird deutlich, dass es sich um verschiedene Formen ein und derselben “Substanz” handelt. Sie alle haben denselben Wortkern, Chit oder Chet. “Gold bleibt Gold, auch wenn es zu verschiedenen Schmuckstücken verarbeitet wird”, sagt Muktananda.
Wir sollten unseren Geist nicht unterdrücken, wenn wir meditieren, denn damit würden wir das unterdrücken, was wir eigentlich in der Meditation suchen. Außerdem würden wir uns in diesem Versuch erschöpfen, denn der Geist lässt sich nicht unterdrücken, er ist das eigentlich Lebendige. Anstatt zu versuchen, den Geist auszuschalten sollten wir den menschlichen Geist als das sehen, was er ist, als eine Form des göttlichen Bewusstseins, die in uns spielt. Wenn wir dies tun, werden wir “von Selbst” ruhig und es öffnet sich eine Tür zum universellen Bewusstsein. “Der Yogi behält seine Göttlichkeit auch inmitten verschiedener Gedanken und Phantasien”.
6. TANMAYO MĀYĀ PRAMĀTĀ
Deshalb ist derjenige, der Einschränkungen erfährt, diese individuelle, kontrahierte Bewusstheit.
Wenn sich Chiti zusammenzieht, verbirgt sie ihre wahre Natur. Sie wird dann zur māyā pramātā, der individuellen Seele, die von māyā geleitet wird. Maya ist der Begriff für Täuschung, Fehlwahrnehmung. Als individuelle Wesen nehmen wir die Welt aus einem eingeschränkten und damit einseitigen, “falschen”, Blickpunkt wahr. Es ist, wie in einen zerbrochenen Spiegel zu schauen. Wir sehen nur Bruchstücke, Ausschnitte. Die Ganzheit ist unserem Blick verborgen. Wir erfahren Einschränkungen und Begrenztheiten, worunter wir leiden. Und trotzdem würden wir nicht leiden, wenn nicht etwas in uns noch um die (verlorene) Ganzheit wissen würde. Wir können uns nur nach etwas sehnen, von dem wir eine Ahnung haben, dass es existiert.
7. SA CAIKO DVIRŪPAS TRIMAYAŚ CATURĀTMĀ SAPTA PANCAKA SVABHĀVA
Und obwohl er nur einer ist, wird der Eine zweifach, dreifach und vierfach, und zu der Natur der sieben Fünfergruppen.
Mit “Er” ist hier Shiva oder Gott gemeint. Dies wird Synonym mit Chiti verwendet, wobei Chiti mehr auf den Aspekt des Bewusstseins, Shiva mehr auf den Aspekt des Göttlichen Selbst verweist. Zweifach ist die Aufteilung in Subjekt und Objekt, mit dreifach sind die drei malas gemeint, die im nächsten Absatz beschrieben werden, die übrigen Unterteilungen entsprechen einer komplizierten zunehmenden Differenzierung, die in der indischen Philosophie beschrieben wird. Hier muss ich auf weiterführende Literatur verweisen.
8. TAD BHŪMIKĀH SARVA-DARŚANA-STHITAYAH
Die Standpunkte aller philosophischen Systeme sind lediglich unterschiedliche Rollen von diesem Bewusstsein oder Selbst.
So, wie das Individuum nur immer einen Teil des Bildes sieht, können auch Philosophien nur immer Teilansichten des Ganzen darstellen.
9. CIDVAT TACCHAKTI SANKOCĀT MALĀVRTAH SAMSĀRĪ
Wegen Seiner Einschränkung (Konstruktion) der shakti wird das universelle Bewusstsein zu einem Wesen, das der Wiedergeburt unterworfen ist (samsarin) und das von den drei Unreinheiten (malas) umhüllt ist.
Die Wahrheit ist, dass der höchste Gott, reines Bewusstsein, in absoluter Freiheit lebt. Er ist all-durchdringend und allwissend. Durch Seine Shakti (schöpferische Kraft) kann Er zu jeder Zeit alles tun, was Er will. Wenn Sich das universelle Bewusstsein zusammenzieht, erlebt Gott Seine frühere Kraft der Allwissenheit, Allmacht, Vollkommenheit, Ewigkeit und Allgegenwart in einem reduzierten Zustand. Die drei malas sind Unreinheiten oder Einschränkungen, denen wir als sterbliche Wesen unterworfen sind.
• ānava mala [bringt das Gebundensein des universellen Selbst hervor und reduziert es auf ein beschränktes, individuelles Wesen; die angeborene Unwissenheit eines Individuums über seine wahre Natur; das grundsätzliche Mangelbewusstsein] ,
• māyiya mala [die Einschränkungen, die durch Maya hervorgerufen werden, welche Grundlage für das Erlebnis der individuellen Seele darstellt mit seinem subtilen und grobstofflichen Körper; das Bewusstsein von Unterschieden],
• kārma mala [die Einschränkung der Kraft zum Handeln auf eine endliche, begrenzte Fähigkeit; die Unreinheit, welche durch die Eindrücke auf den Geist verursacht werden durch das karma eines Menschen, oder durch das Handeln aus Absicht];
10. TATHĀPI TADVAT PAÑCA KRTYĀNI KAROTI
Selbst unter diesen Umständen vollbringt er die fünf Handlungen Shivas (pancha krtyana)
So wie sich der Geist nicht wesensmäßig vom universellen Bewusstsein unterscheidet, unterscheidet sich auch nicht das Handeln des Menschen vom Handeln Gottes. Es unterscheidet sich nur in der Größenskala. Die Handlungsqualitäten (siehe unten) bleiben die Gleichen, nur die Kraft und die Auswirkungen erfährt das individuelle, sterbliche Wesen als eingeschränkt.
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