Chronik

  • Autor Autor Anevay
  • Erstellungsdatum Erstellungsdatum
  • Lesezeit Lesezeit 2 Min. Lesezeit
Wie so viele vor uns feierten wir unseren Sieg, noch ehe der Krieg uns fand. Damals glichen wir den Autoren anderer, gesünderer Zeilen mindestens insofern, als wir keinen Gedanken an die Frage verschwendeten, ob es irgendein Unheil gebe, dem wir nicht gewachsen seien, und – gleichwohl wir meist müßig auf der Stelle traten – kaum ein Wegbruder, der in unserem Blickfeld erschien, vor eitlen Belehrungen und unnützen Ratschlägen gefeit war. Hätten wir auch nur erahnt, wie närrisch unser Selbstbild in Wahrheit war, wären wir gar nicht erst aufgebrochen, sondern hätten uns, so gut es gegangen wäre, in dem, was wir waren, eingeigelt. Erst wäre unser Glaube erloschen, dann unsere Träume und schließlich unser Geist. Fleisch wären wir gewesen, gleichauf mit all jenen Zeitgenossen, deren viehisches Vegetieren dieser Tage das Einzige ist, was uns noch davon abhält, den Kurpfuschern zu erlauben, unser Fieber in wattiger Chemie zu ersticken.

Lebendiger, als wir sein sollten, schleppen wir uns durch eine Ödnis voran, die längst keinen Stolz mehr zulässt, einem Horizont entgegen, an dem nekrotisch die Schwarze Sonne nagt. Spukgestalten vergangener Hoffnungen umschwirren und quälen uns, verführen uns kurzzeitig und reißen neue Wunden, wenn sie verpuffen. Unsere Zauber, früher bloß Ahnungen, entfalten sich nun, da auch sie nichts mehr bedeuten, zu erhabenen Gesichten; unsere Lieder sind albern oder verstummt. Unsere letzten verbliebenen Gefährten heißen Angst, Drangsal und Zweifel, und selbst sie straucheln immer öfter, je näher der Horizont rückt. Dies ist der einzige Weg, der den Lebenden offensteht. Er führt in den Tod, wohingegen all diejenigen, die ihn nicht auf sich nehmen oder unterwegs stehen bleiben, vom Tod erjagt werden. Es ist sinnlos, ihn zu gehen, doch wenn es überhaupt so etwas wie einen Sinn gibt, dann wartet er am Ende des Weges.

Die Kreatur, die einen unbesiegbaren Fressfeind heimsucht, ist kein heiles Wesen im Sinne des materiellen Kosmos. Sie trägt einen Schädling, einen Parasiten in sich, der sich auszubreiten trachtet, der seinen Wirt dazu zwingt, sich zu opfern, damit er selbst auf einen stärkeren übergehen kann. Dieser Parasit ist nichts weiter als unsanft in der Stofflichkeit erwachter Geist, getrieben von Heimweh und gepeinigt von der Ungewissheit darüber, ob die ersehnte Heimat mehr ist als der Fiebertraum eines depressiven Affen.
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