Waldfeen betrügen nicht

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ricochet

Guest
Freundlich lacht die Augustsonne vom Himmel. Da es vorgestern ausgiebig geregnet hat, möchte ich wetten, dass inzwischen eine Menge Schwammerl im Wald sprießen. Auf wen warten sie wohl, wenn nicht auf mich?! Ich öffne Geronimo, meinem jungen Dackel, die Tür zur Veranda, damit er Auslauf in den Garten hat. Mitnehmen will ich ihn nicht, auf Schwammerlsuche bleibe ich lieber ungestört. Sonst bin ich ohnehin den lieben langen Tag für ihn da. Und ab geht’s, auf meinen Lieblingsberg, den Plabutsch!
Bald stehe ich rund dreihundert Meter über der Stadt. Ausnahmsweise ist die Luft der Umgebung klar und gewährt einen beeindruckenden Ausblick über das Häusermeer von Graz. Ich genieße die weite Sicht und lasse den Sauerstoff tief in meine Lunge strömen. Wie wohl das tut!
Den Blick auf den Boden gerichtet, damit mir keiner meiner geliebten Pilze entgehe, nähere ich mich einer kleinen Lichtung, umsäumt von Fichten und Buchen. Auf einer umgestürzten Buche nehme ich Platz und besehe meine bisherige, leider spärliche Beute: drei Eierschwammerl, ein Parasol, ein paar Schopftintlinge. Letztere sind kaum als Speisepilz bekannt, obwohl sie häufig anzutreffen sind. Deswegen konnte ich gleich sechs ausgewachsene Stück erwischen und das kleine Exemplar rechne ich gar nicht. Aber wird schon werden, die ergiebigen Schwammerlplätze kommen noch.
Weit und breit ist niemand zu sehen. Wie die Sonne durch die Bäume scheint, wieviele leuchtende, grüne Lichtspiele sie in den Büschen zaubert, wenn ein Windhauch die Blätter rascheln lässt! Immer wieder faszinierend! Dazu verwöhnt der Duft von Harz und verschiedenen Hölzern meine Nase. Es fällt mir auf, dass ich diesen Platz gar nicht kenne, obwohl der Plabutsch seit Jahren mein Hausberg ist.
Die fast unwirkliche Idylle des Ortes inspiriert mich. Das ist doch der richtige Schauplatz für ein Märchen, drängt es sich mir auf, fehlt nur noch die Waldfee, jawohl, die mit den berühmten drei Wünschen. Aber bis diese auftaucht nehme ich einen kräftigen Bissen von meiner Salami und esse ein Stück Vollkornbrot dazu.
Als ich gerade meine Jause mit einem Schluck Orangenlimonade abzurunden gedenke, und dabei die Flasche zum Mund führe, steht eine junge Frau neben mir. Hoppla, die habe ich gar nicht kommen gesehen! Ich erschrecke so sehr, dass ich mich mit der Limonade ankleckere; peinlich.
Blonde, lange Haare zieren ein freundliches Gesicht. Und glücklicherweise haben die Frauen im Sommer sowieso weniger an, da sieht man gleich, ob eine eine gute Figur hat. Diese Frau hier kann sich ohne Zweifel auf dem Laufsteg eines jeden Designers in Paris sehen lassen. Also, so wie die aussieht, würde ich am liebsten mit ihr hinter dem nächsten Gebüsch verschwinden.
Nun sieht sie mich leicht säuerlich an. Was ist denn, habe ich etwa laut gedacht? So wie die Frau auf mich zugeht, will sie etwas von mir. Bin schon ganz gespannt, um was es sich handelt.
„Nein, Sie wollen etwas von mir, das ist es“, sagt sie plötzlich. „Vermutlich die berühmten drei Wünsche, die alle haben. Also bitte, ich höre.“
Das ist ganz nach meinem Geschmack: knapp, präzise, kein Geschwätz. Indes, ich möchte wissen, mit wem ich rede.
„Wie heißen Sie denn?“
„Sie dürfen sich einen Namen aussuchen“, antwortet sie. „Aber gefallen muss er mir schon.“
Klar, war nicht anders zu erwarten.
„Hippolita“
Die Miene der Unbekannten verfinstert sich.
„Okay, okay, war nur ein Scherz. Klytemnästra.“
Jetzt ist sie kurz davor, böse zu werden. Übermäßig Humor scheint die Gute nicht zu haben. Ich stelle plötzlich fest, dass mir etwas daran liegt, meine Gesprächspartnerin nicht vor den Kopf zu stoßen.
„Valentina“, mache ich den nächsten Vorschlag. Das gefällt mir selbst und erinnert mich an die „Valentyne-Suite“ der Gruppe „Colosseum“, eine Kultplatte aus der Hippie-Zeit. Auf dem Plattencover steht eine wunderschöne, aber bleiche, geisterhaft wirkende Frau, umgeben von zwei mannshohen, brennenden Kerzen, mitten in einer Einöde.
„Ja, das erfreut mich schon eher“, sagt Valentina zu meiner Erleichterung.
Allerdings denke ich nicht im Traum daran, dass Valentina eine Waldfee sein könnte, wenn es diese überhaupt gibt, aber bitte, sie soll ihr Chance haben. Es wird vermutlich viel Spaß machen, wenn sie versuchen wird, sich herauszureden, weil sie es nicht geschafft hat, das, was ich mir gewünscht habe, herbeizuzaubern.
Ich beschließe, Valentina vor eine echte Aufgabe zu stellen: „Ich will einen Blick in Anfang und Ende der Welt tun.“

Ratsch! Bumm, zack, blaff – ein Riss in Raum und Zeit ...

Als ich wieder zu mir komme, liege ich an den Stamm einer Buche gelehnt, habe einen benommenen Kopf und einen ungewohnten Geschmack im Mund. Was immer geschehen sein mag, ich habe keine Erinnerung.
Valentina sitzt auf einem Baumstumpf neben mir und sagt: „Sie haben zwar einen Blick in Anfang und Ende der Welt getan, aber das übersteigt Ihren menschlichen Horizont. Es ist nur zu Ihrem Schutz, dass Sie sich nicht mehr erinnern.“
Mag ja sein, trotzdem bin ich leicht verärgert. Also gut, sage ich mir, dann will ich wenigstens reich werden. Das wird ja wohl meinem Horizont entsprechen. Und schon ergehe ich mich in Fantasien von Karibikurlauben. Ich, an Bord einer Luxusjacht, flotte Mädchen ringsum, eine hübscher als die andere, sie beugen lachend den Kopf zurück, strecken dabei die Brüste raus, ja, ganz wie in der Werbung ... Der Champagner wird gereicht ... Ups, da fällt mir ein, ich trinke gar keinen Alkohol. Dann ist es eben ein Dingsbums-Drink, auch egal, Hauptsache was Sauteures ...
Andererseits, sich jetzt einfach einen Haufen Geld zu wünschen wäre fantasielos und ohne jeden Unterhaltungswert. Das wäre unter meiner Würde. Gott sei Dank habe ich eine Idee ...
„Ich möchte ein Los mit dem Lottosechser für heute Abend in meiner Hosentasche vorfinden.“

Ratsch! Bumm, zack, blaff – ein Riss in Raum und Zeit ...

Ich finde mich im Bus der Linie 40, der mich nach Hause bringen wird, wieder. Zack - meine Hand fährt in die rechte Hosentasche – nichts! Dann muss es wohl die linke sein. Zack - wieder nichts! Ich suche erneut – umsonst, da ist kein Los ... Also jetzt bin ich echt verärgert, halte mein Säckchen mit den Pilzen in der Hand und sehe zum Fenster hinaus. Der Volksmund behauptet zwar, Waldfeen betrügen nicht, aber ganz offensichtlich ist das Blödsinn. Scheiß Volksmund, scheiß Waldfeen ...
Als der Bus bei der nächsten Station anhaltet, steigt jemand ein, der mir bekannt vorkommt. Ja, der Typ hat letzte Woche in der Fünfer die Fahrscheine kontrolliert. Apropos Fahrschein! Habe ich einen? Ohje, die Monatskarte ist abgelaufen.
Ich eile zum Fahrer vor und löse eine Stundenkarte. Als ich mich umdrehe, spricht mich eine ältere Dame mit langen blonden Haaren und freundlichem Gesicht an: „Junger Mann, das ist Ihnen vorhin aus der Gesäßtasche gefallen, als Sie die Geldbörse herausgeholt haben.“
Damit übergibt sie mir mein Los! Ich glaub's ja nicht. Das Los war in meiner Gesäßtasche. Dass ich an diese nicht gedacht habe!? Manchmal sieht man den Wald vor lauter Bäumen nicht und Hauptsache, das Los ist aufgetaucht!
Eines muss man der Waldfee lassen: Sie macht es spannend. Das gefällt mir. Allerdings, wäre die alte Dame mit den langen, blonden Haaren und dem freundlichen Gesicht ... Da kommt mir ein Verdacht ... Wo ist die Frau? Muss wohl ausgestiegen sein. Merkwürdig, war doch keine Haltestelle inzwischen. Vielen Dank übrigens, dass sie mich junger Mann genannt hat, ich meine, ich bin über 50 ...
Lächelnd zeige ich dem Typ, der vorhin eingestiegen ist, meine Fahrkarte. Jawohl, er ist Kontrollorgan der Städtischen Verkehrsbetriebe.
Wie auch immer, jetzt heißt es aufpassen. Das Los ist meine Eintrittskarte in die Welt der reichen Leute. Wo bewahre ich diesen Schatz die nächsten vier Stunden bis zur Ziehung auf? In vier Stunden kann viel geschehen. Einer löst im Drogenrausch den Atomkrieg aus, oder die Küste Australiens wird von einem Tsunami verwüstet, oder ein Meteoreinschlag legt halb London in Schutt und Asche, es kann immer mal eine Kleinigkeit vorkommen. Oder auch was wirklich Wichtiges, zum Beispiel ich verliere mein Los ... Schrecklich, nicht auszudenken.
Als ich aussteige werfe ich vor Freude meine Pilze in den nächsten Mülleimer, das Arme-Leute-Essen brauche ich jetzt nicht mehr.
Kaum bin ich zu Hause überfällt mich Geronimo. Ich habe ihm mühsam beigebracht, stubenrein zu sein, dann muss ich wohl mit ihm jetzt Gassi gehen. Scheint dringend zu sein. Er zerrt unmissverständlich an meinem rechten Hosenbein.
Nein, Geronimo, vorher muss ich mein Los in Sicherheit bringen. Der Hund darf nicht dazugelangen. Wo könnte es sicher sein? Ich komme gleich, Geronimo, Geduld! Das Fernsehtischchen? Blödsinn! Der Kühlschrank? Nein, da könnte er ebenfalls hinaufgelangen ... Auf dem Wohnzimmerkasten oben, ja, das muss es sein, das liegt außerhalb seiner Reichweite. Her mit dem Stuhl!
Als ich mit zittrigen Fingern meinen Schatz über die Oberkante des Möbels schieben will, passiert es – das Los fällt hinunter. Wie in einem Alptraum sehe ich sozusagen in Zeitlupe das Los hämisch schaukelnd zu Boden schweben, dort wo – oh Schreck!, Geronimo steht! Freudig mit dem Schwanz wedelnd erwartet er das Objekt, mit dem ich offenbar mit ihm zu spielen gedenke ...
Blitzschnell, wenigstens für meine Begriffe, schnappe ich nach dem Los, aber der Hund ist schneller. Geronimo, los, sei ein braver Junge und gib's Herrl ... Nein! Neiiiin ..! Ich kann nur noch zusehen, wie das Papier zwischen seinen Kiefern zermalmt wird. Fassungslos setze ich mich auf den nächstbesten Stuhl, atme hörbar aus und schüttle nur noch den Kopf. Minutenlang kann ich es nicht glauben ...
Wie in Trance gehe ich mit Geronimo die übliche Runde in den nächsten Park. Es nützt ja doch alles nichts. Und wer kann einem jungen Dackel wirklich böse sein, wenn er winselnd mit seinen Schlappohren wackelt? Ich jedenfalls nicht.
Nachdem ich vom Gassi gehen wieder zurück bin, steht die Lottoziehung im Fernsehen auf dem Programm. Ich schalte meine Glotze nicht einmal ein. Was gäbe ich jetzt darum, hätte ich meine Pilze noch. Herrgott nochmal, hat dieser Parasol geduftet ... Und was gibt es Besseres als frische Eierschwammerl? Mir rinnt das Wasser im Mund zusammen.
Ob ich will oder nicht, ich bin ein wenig enttäuscht von meiner Bekanntschaft mit Valentina. Also bis jetzt hat es offen gesagt nichts gebracht. Plötzlich höre ich ihre Stimme: „Da trifft mich aber keine Schuld. Sie haben immer noch einen Wunsch frei. Was soll's denn diesmal sein?“
„Ich will etwas Wichtiges tun in meinem Leben, für mein Leben, durch mein Leben.“

Ratsch! Bumm, zack, blaff – ein Riss in Raum und Zeit ...

Ein Duft von Harz steigt mir in die Nase. Vor mir steht ein Hackstock. Ich halte eine Axt in der Hand. Links und rechts neben mir türmen sich die gehackten Holzscheite. Reinhold fährt sie mit der Scheibtruhe zu Helmut. Der steht zwanzig Meter weiter des Weges hinunter und baut die Rotte auf. Er tut dies in der für ihn eigentümlichen Mischung aus großväterlicher Ruhe und Beharrlichkeit. Ein Stück weiter weg rücken Andreas und Bernd einer entwurzelten Buche mit der Motorsäge zu Leibe. Neben mir stehen zwei Schwarzafrikaner, deren Namen ich mir nicht merken kann. Sie sägen den dünnen Stamm einer Fichte mit der Handsäge. Stefan ist im Urlaub, Markus beim Zahnarzt. Der Stadtförster und der Beamte von der städtischen Liegenschaftsverwaltung waren auch schon da, sind aber wieder abgefahren. Business as usual, sagt der Engländer. Wie auch immer, all das sind prima Kollegen, die ein wechselvolles Geschick hier an meine Seite, mitten auf den Plabutsch gestellt hat.
Über viele Jahrtausende hinweg haben Männer Gemeinschaften gebildet und sind in Gruppen durch die Wälder auf die Jagd gegangen. Insofern sehe ich mich in einer archetypischen Situation. Der innere Zusammenhalt in diesen Gruppen entschied über den Jagderfolg und damit über den Fortbestand des Stammes. Ich weiß nur, wenn ich den Plabutsch verlasse, werden mir meine Kollegen unvergesslich bleiben.
Durch den Arbeitshandschuh aus Schweinsleder fühle ich den Holzstiel meiner Axt in der Rechten. Die Hacke saust hinunter und spaltet das Holz auf dem Stock. Gestern wurde unser Werkzeug von Mike repariert und das hat er gut gemacht. In drei Stunden wird er uns mit seinem VW Transporter abholen.
Ausnahmsweise ist die Luft klar und gewährt einen Ausblick weithin über Graz, sogar bis zur Ferdinandshöhe am gegenüberliegenden Stadtrand, wo die zweite Gruppe die gleiche Arbeit verrichtet. Ich genieße die weite Sicht über das Häusermeer und lassen den Sauerstoff tief in meine Lunge strömen. Wie wohl das tut!
Das Holz, das wir hier aufbereiten, wird eines Tages bedürftigen Menschen zugutekommen. Sie werden es geschenkt erhalten, sie werden es verheizen, im Winter, wenn es draußen kalt und finster ist. Für diese Menschen bedeutet das Wärme, Behaglichkeit, ein Stück Lebensqualität. Es geht mir gut bei dem Gedanken, dabei mitgeholfen zu haben.
Offenbar ist es nicht mein Weg, durch einen Lottosechser reich zu werden, wahrscheinlich ist mein Weg ganz anders. Sollte ich Erfolg haben, wird es vermutlich die Folge jahrelangen, aufrechten Bemühens sein. Recht so, ich bin ohnehin nicht der Typ, der etwas geschenkt haben will.
Mich kümmert nicht Anfang und Ende der Welt, lebe ich doch im Hier und Jetzt. Und wenn ich es recht bedenke, fühle ich mich auch reich; reich an Freunden, an Erfahrungen, an Erkenntnissen. So gesehen meine ich, dass es wichtig ist, was ich hier und jetzt tue, unabhängig vom Prestigewert meiner Tätigkeit. Es ist schon richtig, was man sagt: Waldfeen sind vielleicht eigenwillig, aber sie betrügen nicht. Da spüre ich einen sanften, liebevollen Kuss auf meiner Wange.
 
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