Auf der Suche nach der güldenen Mitte wurde ich müde, zog mich in ein leeres, erträglich klimatisiertes Abteil zurück und versank in einem schönen Traum von gutartigen Eisbären und freundlichen Drachen...
aus dem gab es ein jähes Erwachen.
"Zugestiegen?" donnerte fragend aber bestimmt die Stimme des Schaffners aus nicht mehr all zu großer Ferne an mein Ohr. Mit einem Schlag war ich aus meiner Traumwelt erwacht und wusste: "Ich muss das Abteil wechseln!" Nun war ich nicht mehr auf der Suche, sondern auf der Flucht.
Man konnte in diesem Zug in zwei Richtungen flüchten. Nach vorne, wo es unerträglich heiß wurde. Von da kam auch der Schaffner und der war ein hünenhaftes Kontroll-Organ. Ein uniformierter, pflichtbewusster Beamter, der vergessen hatte, dass auch er nur ein Reisender war
ein Reisender, der sich irgendwann im Traum, Schaffner zu sein, verloren hatte.
Dunkel erinnerte ich mich an flüchtige Begegnungen mit ihm, bei denen ich immer den Kürzeren gezogen hatte. Drei oder viermal bereits war ich ihm im letzten Moment entwischt und konnte die Flucht nach hinten antreten. Doch in der Regel schickte er alle, die keinen Fahrschein hatten, nach vorne
ganz nach vorne zum Heizer der Lok und wer sich quer legte, stieg vorzeitig aus. Wie man sich auch entschied, wenn der Schaffner kam, war die Niederlage vorprogrammiert. Außer man war Opportunist und wurde Hilfsschaffner.
Ich hatte zwar eine Meldekarte vom Arbeitsamt bei mir, doch die reichte nicht für die Reise im klimatisierten Mittelbereich dieses seltsamen Zuges. Und da ich nicht auf die Begegnung mit dem Schaffner reflektierte, drängte es mich auch diesmal wieder zur Flucht nach hinten, wo die Nacht war und die Eisbären um die Wette brummten.
Viele Menschen traf ich auf der Flucht. Wie eine Wand kamen sie mir entgegen und nicht alle hatten einen Fahrschein. Doch die Menschen kamen aus der Kälte und viele waren zum Äußersten bereit. Das war verständlich. Es zog sie hin, zur Wärme und zum Licht und der Schaffner würde alle Hände voll zu tun haben.
Mich zog es wo anders hin. Ich hatte diesen Zug nicht betreten um mich an den Gefechten um meine Mitfahrberechtigung zu beteiligen und ich kannte auch niemanden, der den Krieg und seine Folgen wirklich liebte. Mich zog es immer schon hin zur güldenen Mitte, seit besteigen des Zuges. Und so betrat ich nach Einbruch der Dunkelheit das Internetcafe, drückte mir eine heiße Schokolade aus dem Automaten und setzte mich an einen Rechner. Hier war ich vorübergehend vor dem Schaffner sicher und konnte in alle Ruhe meinen Status auf Facebook aktualisieren.