Oskar Kleingeist war ein Mann mittlerer Höhe und durchschnittlicher Breite, sein Horizont war ein wenig eng, aber dafür sehr leicht zu überblicken. Kleingeist war, um seinem Namen auch gerecht zu werden, nicht weit gereist in seinem Leben und seine Ausflüge beschränkten sich auf ein paar wenige, eher heruntergekommene Stammlokale der Umgebung, Donauschiffer und Halbweltspelunken, wo er sich mit den anderen Zechern, oft recht rauhe Gesellen mit schwieriger Vergangenheit, manchmal recht gut, dann wieder weniger gut verstand. Kleingeist war sehr dem billigen Fusel zugetan. Von Jugend an. Eine seiner schlimmsten Eigenheiten. Das war eben Oskar Kleingeist, da konnte man nichts machen. Manchmal war er so sehr Kleingeist, dass selbst die anderen Gäste sich verzweifelt die Haare rauften oder vor Schmerzen im Kopf am Boden wälzten, obgleich die ganze Atmosphäre nicht unbedingt von großem Geist getragen war.
Hin und wieder ging Oskar auch ein wenig in die Tiefe, aber das konnten vorbeigehende Passanten oder beschwippste Kollegen meist nicht erkennen, denn es war Ossi Kleingeists eigener Abgrund, in den er da manchmal stürzte. Die wenigsten wollten da einen Blick hinein werfen und seinen Schilderungen zu folgen fiel einem Außenstehenden nicht immer gerade leicht.
Wenn Kleingeist nicht trank, war er manchmal traurig über Kleingeist und diese Traurigkeit vertrieb er sich hin und wieder mit kleingeistigem, ordinärem Humor, den er ungeniert und hemmungslos in öffentlichen Foren verzapfte. Zunächst in Singletreffs, später, zum Leidwesen der Betreiber und manch zartfühlendem User, auch in einem Esoterikforum. Absichtlos wie er war und dem Vorbild eines Freundes folgend hatte er sich mal nur zum Spaß bei den Websingles eingetragen. Und ... in der Tat, siehe da, man glaubt es kaum: lernte er bereits vor drei Jahren in diesem Singleforum ein paar wenige, aber recht nette Damen im Alter zwischen Vierzig und Fünfzig kennen.
Kleingeist hatte kein Interesse an einer herkömmlichen Partnerschaft mit einer Frau und auch an erotischen Begegnungen war er nicht interessiert. Er wollte sich nur ein wenig die Einsamkeit erleichtern. One Night Stands gabs da auch im Angebot, aber es gab bei der Profilerstellung auch die Möglichkeit, andere Optionen anzukreuzen, wie Freundschaft, Interessensgemeinschaft, Briefmarkenclub und so weiter ... und naiv wie Kleingeist nun mal war, kreuzte er einfach E-Mail bzw. Brieffreundschaft an, denn ihm ging es nur darum, im mittlerweile fortgeschrittenen Alter die Mauer wieder einzureissen, die er im Laufe der Jahre um sich errichtet hatte und ein wenig unter die Leute zu gehen und sei es auch nur im WWWeb. Wie weit ihm überhaupt bewusst war, worum es ihm ging, sei allerdings dahin gestellt. Oskar Kleingeist eben.
Frech und Hemmungslos breitete Kleingeist sich mit kleingeistigem Witz in der entsprechenden Community aus, doch nie sprach er eine der suchenden Damen in ihrer Privatnachrichtenbox persönlich an sondern reagierte nur auf Ladys, die ihrerseits auf sein Profil reagiert hatten. Er war einfach nicht soweit, direkt auf einen Menschen zuzusteuern und diesen mit seinem Charme zu beglücken. Dafür war Kleingeist immer schon zu wenig überzeugt von sich selbst und wissend um seine labile Natur auch sehr unsicher. Und er wollte niemandem persönlich zu nahe treten und war im Grunde gar nicht auf der Suche nach einer Dame; also warum hätte er eine anschreiben sollen? Und er dachte auch nicht wirklich über seine Motivation nach, sondern belustigte sich einfach über die kreativen Möglichkeiten, die allein in der Profilerstellung lagen. An sich war Kleingeist ja eher sehr unkreativ, aber hier konnte er sich spielerisch entfalten, wenn es darum ging, Charaktere zu entwerfen oder zum Leben zu erwecken und den Damen, die ja aus einigermaßen kultiviertem Ambiente kamen, wie sich später heraus stellte, gefiel die Art und Weise, wie er über seine eigenen, dunklen und oft unschönen Seiten lachen konnte. Kleingeist konnte nur noch über sich selbst lachen, wenn er seine Profile reflektierte, sonst wäre er auf der Stelle gestorben.
Die Beschäftigung mit der menschlichen Psyche war ja eines der wenigen Dinge, wo Kleingeist sich auch ein wenig im realen Leben in der eigenen Tiefe vergehen konnte. Hatte er doch im Laufe der Jahre ziemlich viel von dem, was er früher in seiner Umgebung für verachtenswert, böse und beängstgend, aber auch belustigend bis lächerlich eingestuft hatte, in sich selbst gefunden. Hatte er ein Profil fertig, war er mit einem Profil zufrieden, löschte er es und erschuf ein Neues. Diese Profile waren wie kleine Kunstwerke eines Straßenmalers, die sich nach einem heftigen Regen wieder in nichts auflösen. Mal nannte er sich einfach "Kleingeist", dann nannte er sich wieder "Der Profilator". Irgend ein Name fiel ihm immer ein und auch entsprechende Kurzgeschichten, die er in sein Profil einbaute. Das war Kleingeist. Ein Schauspieler mit einer gewissen Rollenerfahrung im Leben. Die Rollen, die er hier im Singletreff spielte, hatte er auch im Leben gespielt. Oft auch nur kleine, unwichtige Nebenrollen, aber keine war ihm fremd und keine war gelogen oder nur erfunden.
Um Kleingeist bildete sich eine kleine aber treue Fangemeinde nicht zwingend kleingeistiger Damen, mit denen er in der öffentlichen Privatnachrichtenbox fröhlich scherzte. So konnte Oskar seine Kleingeistigkeit recht gut vergessen. Mit einigen wenigen pflegte er dann regelmäßigen, eher oberflächlichen E-Mail-Tausch und mit noch einer kleineren Auswahl intensivierte sich der Mailkontakt zu einem Austausch kilometer und nächtelanger Gedankengänge, bei denen es oft auch um essentielle, existentielle und spirituelle Fragen ging, die in einem Menschen so stecken und an manchen Tagen hochkommen können. Zwei der Damen lernte Kleingeist auch persönlich kennen und es entwickelte sich eine reale Freundschaft. Kleingeist war im Lauf des Lebens, trotz oder gerade wegen seiner Einfachheit, Begrenztheit, Beschränktheit und Verkommenheit ein recht gläubiger Mensch geworden, der sich auf einem etwas seltsamen, aber immer noch religiösen Weg wiedergefunden hatte, auf dem man um eine Auseinandersetzung mit dem Gottesbegriff und allem, was sich damit verbindet, nicht herum kam.
Oskar K. mußte sich selbst als Begrenzt und Beschränkt erkennen, auch da kam er nicht drum herum, denn er war großgeistig und realistisch genug, um zu sehen, wo und wie er dastand, im Leben und am Ende des Jahres 2007 in einer kühlen Winternacht, einen Monat vor Heilig Abend. Ein Mensch, der seinen Lebensweg weise und achtsam beschreitet und nicht immer den selben Irrtümern erliegt, steht am Ende anders da, schlussfolgerte Kleingeist. Er war gerade noch wahrnehmend genug, um an manchen Tagen an seiner Kleingeistigkeit zu leiden und er kannte auch den Grund dafür. Das war seine Neigung zum Alkohol, der ihm in jungen Jahren bereits die Sinne trübte und seine Entfaltung und Entwicklung störte und behinderte und den er doch nicht lassen konnte. An dem er festhing und klebte, bis seine ganze Persönlichkeit zerstört und zerfressen war. Und statt auf Reisen zu gehen und die Welt rundherum zu ergründen und sich auch kulturell ein wenig zu bilden, vertrieb er sich die Zeit in lauter, gröhlender Gesellschaft, in der abgestandenen Luft heruntergekommener Spelunken. Und in den Zeiten wo er nicht in dieser Atmosphäre versank, vergrub er sich in einer tiefen Einsamkeit und verlor sich in sinnierenden Gedanken, wie er denn diesen Kerker, dieses kleingeistige Ich zertrümmern könnte.
Oskar Kleingeist hatte in jungen Jahren zu trinken begonnen, weil er Angst hatte vor dem Leben. Aber nicht so sehr vor der weite des Lebens oder vor dem Fliegen, sondern vielmehr vor diesen engen Stellen des Lebens, die er aus der Ferne sah, die er gern umgangen wäre, wo aber sein Weg unweigerlich hindurch führte, denn er konnte seinen Blick nicht mehr abwenden. Menschliche Abgründe, moralische Abgründe, die eng wie ein Nadelöhr seine freie Atmung blockierten. Man hatte ihn gelehrt, das müsse so sein, das Leben sei Kampf und Krampf und nur die Starken kämen durch, doch für diese Stellen im Leben, wo es Krieg gab und Kampf, Bösartigkeit, Zorn und Rache, da brauchte er einen Verbündeten, der ihn empfindungslos für Schmerzen und Gefühle verschiedenster Art machte. So trank er und trank, bis er nichts mehr spürte. Jetzt war er bereit für den Kampf, nur konnte er, so betrunken wie er war, nicht mehr sehen was er rundherum zerstörte. Das war Ossi Kleingeist. Da konnte man nichts machen. Blöd von Geburt an.
Ja, Kleingeist war Großgeist genug um unter seinem Namen zu leiden und in dieser Winternacht vom 16. zum 17. November 2007 war es wieder mal soweit, dass er am liebsten an sich selbst gestorben wäre, denn er begriff sich selbst als eine einzige, schwere Krankheit, als eine Verirrung der Natur und so wollte er nicht mehr sein. Nichts wusste Kleingeist von dieser Welt, nichts hatte er je gesehen, nirgendwo war er hingereist, über nichts konnte er berichten und mit nichts konnte er die Herzen seiner Mitmenschen erfreuen, denn immer, wenn er von seiner seltsamen Reise erzählte, begannen alle zu weinen und wollten ihn heilen. Und immer wenn ihn jemand fragte, was machst du, wo warst du, wo gehst du hin, konnte er immer nur sagen: "Ich weiß es nicht. Ich glaube nach Nirgendwo?"
Es war aber eigentlich nicht sein Name, der ihm zu schaffen machte. Kleingeist wollte gar nicht Großgeist sein. Eher war es die materialistische Ausrichtung des schnelllebigen, gewalttätigen und aufgeblasenen Geistes der Zeit, die ihn so plagte. Hier fand Oskar Kleingeist nicht sein zu Hause, hier hatte er keine Heimat und keine Mitte und so wendete er sich wieder einmal ab vom hastenden Geist der Zeit und betete zum ewig unveränderlichen, immer eins seienden Großgeist: Ach du guter Großgeist, hilf mir, laß mich nicht im Stich und lass mich nicht soviel über meinen Namen nachdenken und wie ich ihn in diese Zeit integrieren könnte, sondern lass mich ihn lieber mit Dankbarkeit annehmen und tragen. Heile mich von dem Größenwahn, ein anderer sein zu wollen, als Ossi K. und vergib mir meine Schuld, wie auch ich meinen Schuldigern vergeb. In Ewigkeit, Amen.
Dein Dich liebender Oskar Kleingeist.
Hin und wieder ging Oskar auch ein wenig in die Tiefe, aber das konnten vorbeigehende Passanten oder beschwippste Kollegen meist nicht erkennen, denn es war Ossi Kleingeists eigener Abgrund, in den er da manchmal stürzte. Die wenigsten wollten da einen Blick hinein werfen und seinen Schilderungen zu folgen fiel einem Außenstehenden nicht immer gerade leicht.
Wenn Kleingeist nicht trank, war er manchmal traurig über Kleingeist und diese Traurigkeit vertrieb er sich hin und wieder mit kleingeistigem, ordinärem Humor, den er ungeniert und hemmungslos in öffentlichen Foren verzapfte. Zunächst in Singletreffs, später, zum Leidwesen der Betreiber und manch zartfühlendem User, auch in einem Esoterikforum. Absichtlos wie er war und dem Vorbild eines Freundes folgend hatte er sich mal nur zum Spaß bei den Websingles eingetragen. Und ... in der Tat, siehe da, man glaubt es kaum: lernte er bereits vor drei Jahren in diesem Singleforum ein paar wenige, aber recht nette Damen im Alter zwischen Vierzig und Fünfzig kennen.
Kleingeist hatte kein Interesse an einer herkömmlichen Partnerschaft mit einer Frau und auch an erotischen Begegnungen war er nicht interessiert. Er wollte sich nur ein wenig die Einsamkeit erleichtern. One Night Stands gabs da auch im Angebot, aber es gab bei der Profilerstellung auch die Möglichkeit, andere Optionen anzukreuzen, wie Freundschaft, Interessensgemeinschaft, Briefmarkenclub und so weiter ... und naiv wie Kleingeist nun mal war, kreuzte er einfach E-Mail bzw. Brieffreundschaft an, denn ihm ging es nur darum, im mittlerweile fortgeschrittenen Alter die Mauer wieder einzureissen, die er im Laufe der Jahre um sich errichtet hatte und ein wenig unter die Leute zu gehen und sei es auch nur im WWWeb. Wie weit ihm überhaupt bewusst war, worum es ihm ging, sei allerdings dahin gestellt. Oskar Kleingeist eben.
Frech und Hemmungslos breitete Kleingeist sich mit kleingeistigem Witz in der entsprechenden Community aus, doch nie sprach er eine der suchenden Damen in ihrer Privatnachrichtenbox persönlich an sondern reagierte nur auf Ladys, die ihrerseits auf sein Profil reagiert hatten. Er war einfach nicht soweit, direkt auf einen Menschen zuzusteuern und diesen mit seinem Charme zu beglücken. Dafür war Kleingeist immer schon zu wenig überzeugt von sich selbst und wissend um seine labile Natur auch sehr unsicher. Und er wollte niemandem persönlich zu nahe treten und war im Grunde gar nicht auf der Suche nach einer Dame; also warum hätte er eine anschreiben sollen? Und er dachte auch nicht wirklich über seine Motivation nach, sondern belustigte sich einfach über die kreativen Möglichkeiten, die allein in der Profilerstellung lagen. An sich war Kleingeist ja eher sehr unkreativ, aber hier konnte er sich spielerisch entfalten, wenn es darum ging, Charaktere zu entwerfen oder zum Leben zu erwecken und den Damen, die ja aus einigermaßen kultiviertem Ambiente kamen, wie sich später heraus stellte, gefiel die Art und Weise, wie er über seine eigenen, dunklen und oft unschönen Seiten lachen konnte. Kleingeist konnte nur noch über sich selbst lachen, wenn er seine Profile reflektierte, sonst wäre er auf der Stelle gestorben.
Die Beschäftigung mit der menschlichen Psyche war ja eines der wenigen Dinge, wo Kleingeist sich auch ein wenig im realen Leben in der eigenen Tiefe vergehen konnte. Hatte er doch im Laufe der Jahre ziemlich viel von dem, was er früher in seiner Umgebung für verachtenswert, böse und beängstgend, aber auch belustigend bis lächerlich eingestuft hatte, in sich selbst gefunden. Hatte er ein Profil fertig, war er mit einem Profil zufrieden, löschte er es und erschuf ein Neues. Diese Profile waren wie kleine Kunstwerke eines Straßenmalers, die sich nach einem heftigen Regen wieder in nichts auflösen. Mal nannte er sich einfach "Kleingeist", dann nannte er sich wieder "Der Profilator". Irgend ein Name fiel ihm immer ein und auch entsprechende Kurzgeschichten, die er in sein Profil einbaute. Das war Kleingeist. Ein Schauspieler mit einer gewissen Rollenerfahrung im Leben. Die Rollen, die er hier im Singletreff spielte, hatte er auch im Leben gespielt. Oft auch nur kleine, unwichtige Nebenrollen, aber keine war ihm fremd und keine war gelogen oder nur erfunden.
Um Kleingeist bildete sich eine kleine aber treue Fangemeinde nicht zwingend kleingeistiger Damen, mit denen er in der öffentlichen Privatnachrichtenbox fröhlich scherzte. So konnte Oskar seine Kleingeistigkeit recht gut vergessen. Mit einigen wenigen pflegte er dann regelmäßigen, eher oberflächlichen E-Mail-Tausch und mit noch einer kleineren Auswahl intensivierte sich der Mailkontakt zu einem Austausch kilometer und nächtelanger Gedankengänge, bei denen es oft auch um essentielle, existentielle und spirituelle Fragen ging, die in einem Menschen so stecken und an manchen Tagen hochkommen können. Zwei der Damen lernte Kleingeist auch persönlich kennen und es entwickelte sich eine reale Freundschaft. Kleingeist war im Lauf des Lebens, trotz oder gerade wegen seiner Einfachheit, Begrenztheit, Beschränktheit und Verkommenheit ein recht gläubiger Mensch geworden, der sich auf einem etwas seltsamen, aber immer noch religiösen Weg wiedergefunden hatte, auf dem man um eine Auseinandersetzung mit dem Gottesbegriff und allem, was sich damit verbindet, nicht herum kam.
Oskar K. mußte sich selbst als Begrenzt und Beschränkt erkennen, auch da kam er nicht drum herum, denn er war großgeistig und realistisch genug, um zu sehen, wo und wie er dastand, im Leben und am Ende des Jahres 2007 in einer kühlen Winternacht, einen Monat vor Heilig Abend. Ein Mensch, der seinen Lebensweg weise und achtsam beschreitet und nicht immer den selben Irrtümern erliegt, steht am Ende anders da, schlussfolgerte Kleingeist. Er war gerade noch wahrnehmend genug, um an manchen Tagen an seiner Kleingeistigkeit zu leiden und er kannte auch den Grund dafür. Das war seine Neigung zum Alkohol, der ihm in jungen Jahren bereits die Sinne trübte und seine Entfaltung und Entwicklung störte und behinderte und den er doch nicht lassen konnte. An dem er festhing und klebte, bis seine ganze Persönlichkeit zerstört und zerfressen war. Und statt auf Reisen zu gehen und die Welt rundherum zu ergründen und sich auch kulturell ein wenig zu bilden, vertrieb er sich die Zeit in lauter, gröhlender Gesellschaft, in der abgestandenen Luft heruntergekommener Spelunken. Und in den Zeiten wo er nicht in dieser Atmosphäre versank, vergrub er sich in einer tiefen Einsamkeit und verlor sich in sinnierenden Gedanken, wie er denn diesen Kerker, dieses kleingeistige Ich zertrümmern könnte.
Oskar Kleingeist hatte in jungen Jahren zu trinken begonnen, weil er Angst hatte vor dem Leben. Aber nicht so sehr vor der weite des Lebens oder vor dem Fliegen, sondern vielmehr vor diesen engen Stellen des Lebens, die er aus der Ferne sah, die er gern umgangen wäre, wo aber sein Weg unweigerlich hindurch führte, denn er konnte seinen Blick nicht mehr abwenden. Menschliche Abgründe, moralische Abgründe, die eng wie ein Nadelöhr seine freie Atmung blockierten. Man hatte ihn gelehrt, das müsse so sein, das Leben sei Kampf und Krampf und nur die Starken kämen durch, doch für diese Stellen im Leben, wo es Krieg gab und Kampf, Bösartigkeit, Zorn und Rache, da brauchte er einen Verbündeten, der ihn empfindungslos für Schmerzen und Gefühle verschiedenster Art machte. So trank er und trank, bis er nichts mehr spürte. Jetzt war er bereit für den Kampf, nur konnte er, so betrunken wie er war, nicht mehr sehen was er rundherum zerstörte. Das war Ossi Kleingeist. Da konnte man nichts machen. Blöd von Geburt an.
Ja, Kleingeist war Großgeist genug um unter seinem Namen zu leiden und in dieser Winternacht vom 16. zum 17. November 2007 war es wieder mal soweit, dass er am liebsten an sich selbst gestorben wäre, denn er begriff sich selbst als eine einzige, schwere Krankheit, als eine Verirrung der Natur und so wollte er nicht mehr sein. Nichts wusste Kleingeist von dieser Welt, nichts hatte er je gesehen, nirgendwo war er hingereist, über nichts konnte er berichten und mit nichts konnte er die Herzen seiner Mitmenschen erfreuen, denn immer, wenn er von seiner seltsamen Reise erzählte, begannen alle zu weinen und wollten ihn heilen. Und immer wenn ihn jemand fragte, was machst du, wo warst du, wo gehst du hin, konnte er immer nur sagen: "Ich weiß es nicht. Ich glaube nach Nirgendwo?"
Es war aber eigentlich nicht sein Name, der ihm zu schaffen machte. Kleingeist wollte gar nicht Großgeist sein. Eher war es die materialistische Ausrichtung des schnelllebigen, gewalttätigen und aufgeblasenen Geistes der Zeit, die ihn so plagte. Hier fand Oskar Kleingeist nicht sein zu Hause, hier hatte er keine Heimat und keine Mitte und so wendete er sich wieder einmal ab vom hastenden Geist der Zeit und betete zum ewig unveränderlichen, immer eins seienden Großgeist: Ach du guter Großgeist, hilf mir, laß mich nicht im Stich und lass mich nicht soviel über meinen Namen nachdenken und wie ich ihn in diese Zeit integrieren könnte, sondern lass mich ihn lieber mit Dankbarkeit annehmen und tragen. Heile mich von dem Größenwahn, ein anderer sein zu wollen, als Ossi K. und vergib mir meine Schuld, wie auch ich meinen Schuldigern vergeb. In Ewigkeit, Amen.
Dein Dich liebender Oskar Kleingeist.