FORTSETZUNG
SPIEGEL: Wann wachsen dem Embryo denn, nach Ihrer Auffassung, erstmals irgendwelche Rechte zu?
Singer: Ein wesentlicher Punkt ist das Einsetzen von Schmerzempfinden. Ab diesem Zeitpunkt verdient der Embryo einen gewissen Schutz - ähnlich wie ihn ein Tier auch verdient.
SPIEGEL: Das heißt: Vorher gleicht der Embryo, ethisch betrachtet, einer Kartoffel, nun steigt er auf zum moralischen Wert einer Ratte?
Singer: Was den Embryo selbst betrifft, würde ich die Frage mit "Ja" beantworten - allerdings mit der Einschränkung, dass es, wie schon gesagt, eine Sicht der Eltern gibt, die es zu berücksichtigen gilt.
SIEGEL: Ändert sich an diesem Status dann etwas durch die Geburt?
Singer: Nun, die Geburt ist schon von einer gewissen Bedeutung, denn von diesem Zeitpunkt an entscheidet nicht mehr die Mutter allein, ob ein Kind leben soll. Wesentlich ist zudem, dass sich von diesem Zeitpunkt an auch Adoptiv- oder Pflegeeltern des Kindes annehmen können. Trotzdem betrachte ich die Geburt nicht als einen absoluten Wendepunkt, an dem man sagen könnte: Vorher hat der Fötus keinerlei Lebensrecht, nachher hat er dasselbe Lebensrecht wie jeder gesunde erwachsene Mensch.
SPIEGEL: Verstehen wir Sie richtig? Wenn Sie ein frisch geborenes Baby ethisch gleichsetzen mit Tieren, bedeutet das, dass Babys zu essen moralisch gleichzusetzen wäre mit dem Verzehr eines Rindersteaks?
Singer: Umgekehrt: Ich habe große ethische Bedenken dagegen, dass wir Tiere essen und medizinische Experimente mit ihnen machen. Nun können wir ja nicht einfach sagen: Wenn wir Tieren Unrecht tun, dürfen wir das auch mit Babys.
SPIEGEL: Dann stellen wir die Frage anders: Ihre Kollegen hier in Princeton experimentieren mit Ratten und töten sie anschließend. Ist dies moralisch ebenso zu bewerten, wie wenn sie dasselbe mit menschlichen Babys machen würden?
Singer: Nein. Experimente mit Babys wären wohl kaum in Übereinstimmung zu bringen mit unserem generellen Wunsch, dass sich Menschen um Babys kümmern. Die meisten Eltern wollen gute Eltern sein, Beschützer ihrer Kinder. Und es wäre zu schwierig, ihnen zu erklären, dass völlig normale Kinder zu Experimenten gebraucht und dann umgebracht würden.
SPIEGEL: Es wäre aber, wenn man Ihre Gedanken zu Ende denkt, folgerichtig.
SINGER: Vielleicht in einem sehr theoretischen Sinne. Aber Sie müssen vorsichtig sein, ehe Sie daraus politische Schlussfolgerungen ziehen.
SPIEGEL: Das ist ja sehr beruhigend!
Singer: Man muss schon berücksichtigen, dass Menschen Babys starke Gefühle entgegenbringen. Diese Gefühle können Sie nicht einfach beiseite werfen ...
SPIEGEL: ... genau das scheinen Sie aber an anderer Stelle zu tun. Wenn es um Embryonen geht, dann gilt Ihnen die emotionale Beziehung wenig.
Singer: Die ist ja aber auch viel geringer.
SPIEGEL: Glauben Sie denn, dass in unserem Urteil über den Wert von Embryonen oder Babys kulturelle Überlieferungen eine wesentliche Rolle spielen?
Singer: Durchaus. Man könnte sich theoretisch eine Gesellschaft vorstellen, in der die Werte anders wären, eine Gesellschaft, die eine Unterscheidung machen würde zwischen den Babys, die wirklich geliebt und aufgezogen werden, und anderen, die man der Wissenschaft spendet. Man könnte Science-Fiction darüber schreiben ...
SPIEGEL: ... oder auch in der Wirklichkeit sich die Vorschläge einiger Forscher ansehen. Die ersten haben ja bereits über menschliche Klone nachgedacht, die einzig der Organproduktion dienen. Was halten Sie von solchen Ideen?
Singer: Man müsste solche Klone ja gar nicht bis zur Geburt reifen lassen. Es würde ja reichen, sie nur bis zu dem Punkt zu kultivieren, bis sich die Organe zu entwickeln beginnen. Dann könnten Sie diese Organe isolieren und weiterentwickeln. Wenn das erst einmal technisch möglich wäre, dann sähe ich darin nichts Schlimmes.
SPIEGEL: Sie verknüpfen das vollwertige Lebensrecht offenbar mit der Fähigkeit zur Selbsterkenntnis. Ab wann können Sie diese Fähigkeit denn bei einem Baby erkennen? Wenn es sechs Monate alt ist? Zwei Jahre? Oder vielleicht erst mit vier?
Singer: Das ist schwer zu sagen. Es hängt davon ab, was genau Sie unter Selbstbewusstsein verstehen. Ich neige dazu zu sagen, irgendwann im Laufe des ersten Lebensjahres. Bis zu diesem Zeitpunkt mag man das Leben eines sich entwickelnden Kindes auf verschiedene Weise schützen. Trotzdem finde ich, dass man nicht eindeutig sagen kann: Das Vergehen, ein solches Kind zu töten, ist ebenso schwer wie das Vergehen, einen erwachsenen, voll seiner selbst bewussten Menschen zu töten.
SPIEGEL: Sie koppeln also das Lebensrecht, das höchste aller menschlichen Rechte, an einen Zeitpunkt, den Sie allenfalls sehr vage benennen können?
Singer: Die menschliche Entwicklung ist ein gradueller Prozess. Da wäre es doch sehr seltsam, wenn dieses Recht ganz plötzlich auftauchen würde. Etwas ganz anderes ist es natürlich, dieses Recht juristisch festzulegen. Da brauchen Sie eine scharfe Trennungslinie.
SPIEGEL: Und wo soll man die ziehen?
Singer: Da können Sie sehr unterschiedlich argumentieren. Sie können sagen: Ethisch ist es zwar nicht plausibel, einem Neugeborenen die vollen Rechte zuzusprechen, aber wir entscheiden uns trotzdem dafür, weil die Geburt eine so schön klare Trennungslinie ist. Das ist durchaus eine Möglichkeit ...
SPIEGEL: ... aber nicht die, die Sie bevorzugen?
Singer: Ich habe einmal den Vorschlag gemacht, eine Phase von 28 Tagen nach der Geburt festzusetzen, nach der dann das volle Lebensrecht erst in Kraft tritt. Das ist zwar ein sehr willkürlicher Zeitpunkt, den wir einer Idee aus dem antiken Griechenland entlehnt haben. Aber es würde den Eltern Zeit für ihre Entscheidungen geben.
SPIEGEL: Das heißt, so lange sollen Eltern ihr Kind töten dürfen, einfach nur, weil sie es eben nicht wollen?
Singer: Das hängt von den Umständen ab. In allen entwickelten Ländern ist die Nachfrage nach halbwegs gesunden Kindern zur Adoption wesentlich größer als das Angebot. Warum also sollten sie ein Kind töten, wenn es Eltern gibt, die es gern adoptieren würden?
SPIEGEL: Und nicht "halbwegs gesunde" Kinder lässt man dann eben sterben?
Singer: Das mag sich fundamental unterscheiden von unserer offiziellen christlichen Ethik. Aber in vielen anderen Kulturen wird es keineswegs als grausam betrachtet. Im antiken Griechenland wurde ein Kind erst nach 28 Tagen in die Gesellschaft aufgenommen - vorher durfte man es in den Bergen aussetzen. In Japan war es lange völlig normal, Kinder zu töten, wenn Geburten zu dicht folgten.
SPIEGEL: Dass dies bei uns verboten ist, ist doch eine große humanitäre Errungenschaft.
Singer: Die Christen pflegen alles, was sie machen, als moralischen Fortschritt zu betrachten. Ich habe da meine Zweifel.
..FORTSETZUNG FOLGT....
