Serenade
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KINDER DER NACHT
Wir sind die Kinder der Nacht. Wir fürchten das Tageslicht nicht, dennoch meiden wir es und schlafen untertags. Das mag der Grund für unsere extrem bleiche Haut sein. Wir sind angetan vom Kontrast unserer weißen Haut und unserer durchwegs schwarzen Kleidung, die entweder aus langen Kleidern oder langen Hosen und Pullis besteht. Auch unser Haar ist schwarz und lang. Die Augen schminken wir mit schwarzen, breiten Lidstrichen, - auch die Jungs unter uns.
Ich bin ein Mädchen, - ein Mädchen mit weißer Haut, einem langen schwarzen Kleid, mit Fledermausärmeln, und langen schwarzen Haaren. Und ich möchte euch erzählen, wie ich zu den Kindern der Nacht gekommen bin.
Dieser Schritt war für mich eine Trennung von der menschlichen Gesellschaft. Wir Kinder der Nacht sind sozusagen von der Bildfläche der Menschen verschwunden, obwohl wir dennoch unter ihnen leben. Aber für die Menschen da draußen ist es, als würden wir gar nicht existieren.
Ich war etwa zwölf Jahre alt. Es war, genau genommen, der Sommer, bevor ich zwölf wurde und mir bewusst wurde, dass ich in einer Welt lebe, die mir überhaupt nicht gefällt. Ich hasste es, zur Schule zu gehen und für einen möglichen Beruf zu lernen. Ebenso hasste ich die Vorstellung, einmal zu heiraten und Kinder zu bekommen, - die Kinder heranwachsen zu sehen, Oma zu werden und dann zu sterben.
Von den Jungs, die ich kannte, gefiel mir keiner, wo ich mir vorstellen hätte können, mit ihm alt zu werden. In meiner Verzweiflung über dieses Leben, welches mir bevorstand, schuf ich mir in meiner Phantasie einen Traumboy. Er war all das, was ich an den Jungs, die ich kannte, nicht fand. Er war wunderschön, hatte eine enorm erotische Ausstrahlung und war von unheimlich sanftem Wesen. Er hatte langes, schwarzes Haar und schocktürkisfarbene Augen. Er sah zwar menschlich aus, aber er war ganz anders als die Menschen in meiner Phantasiewelt. Die anderen Menschen in meiner Phantasiewelt waren genauso wie die Menschen in meiner alltäglichen Welt. Sie waren nur auf ihre eigenen Vorteile bedacht. Er jedoch, mein Traumboy, war liebevoll, gutmütig und ohne jegliche Rachegedanken. Er hätte durchaus Rachegedanken haben können, denn er wurde nie gut behandelt.
Er wuchs bei Zieheltern auf, die ihn misshandelten und missbrauchten. Als er später von Zuhause, mit seinem einzigen Freund, wegging und in einer Art Herberge wohnte, begann sein Martyrium abermals. Es lag an seiner Ausstrahlung, die die Menschen nicht nur sexuell anregte, sondern sie auch dazu zwang, ihn zu quälen. Er selbst wusste nichts von seiner Ausstrahlung, die ihn nicht nur einsam, sondern auch tieftraurig machte.
In seiner schieren Verzweiflung sprach er eines Nachts im Traum zu mir. Er erzählte mir von seiner Kindheit, die so qualvoll war, dass er seine Qual nur mit Heroin dämpfen konnte. Er erzählte mir von den Kindern der Nacht, als er auch eines von ihnen war. Diese Kinder der Nacht verkauften ihre Körper, um mit dem Geld Stoff zu besorgen.
Sie waren nicht wie wir, auch wenn sie sich ebenfalls Kinder der Nacht nannten.
Während der Erzählung kam er drauf, dass er ganz anders war als die anderen Menschen. An vielen Misshandlungen hätte er eigentlich sterben müssen, so schwer waren die Verletzungen. Aber nicht nur, dass er nicht daran starb, - es war auch ein Phänomen, dass seine Wunden unheimlich schnell heilten, dass kaum eine Narbe zurückblieb.
Ich sagte ihm dann, er sei so etwas wie ein zukünftiger Mensch, den man Leuchtendes Wesen nennt. Ich verriet ihm auch, dass ihm sehr viel möglich ist, was gewöhnliche Menschen Zauberei nennen würden.
Als ich aus dem Traum erwachte, hatte sich das Verhältnis zwischen meinem Traumboy und mir sehr verändert. Es war, als hätte er plötzlich ein Eigenleben und sei nicht mehr abhängig von meiner Phantasie. Er erkannte seine Fähigkeiten, in andere Welten zu gehen, von denen er selbst ein Teil war. Er entwickelte sich nicht zu einem multidimensionalen Wesen, - er WAR eines!
So kam es, dass er bald darauf wieder in einem Traum zu mir sprach und mir vom menschlichen Bewusstsein erzählte. Er sagte, das menschliche Bewusstsein habe so viele Möglichkeiten, auch anders zu leben.
Er hatte also meine Verzweiflung erkannt und bot mir seine Hilfe an. Aber ich müsste etwas tun, denn eine Fee, mit Zauberstab, gibt es nicht.
Ich sagte, ich wäre zu allem bereit, wenn ich nur aus diesem trostlosen Leben fliehen könnte. Zur Sicherheit fragte er noch einmal nach: Wirklich alles? Ich bejahte. Dann sagte er, ich müsse mich selbst aufgeben. Wie soll das gehen? fragte ich ihn. Reduziere dein Ich und löse dich von allem Bekannten los, sagte er.
Mir war auf dieser Welt nichts wirklich bekannt. Es erschreckte mich nur und ich war mir sicher, jedes andere Leben sei besser als dieses, das mich erwartete.
Noch in diesem Traum brachte er mich zu den Kindern der Nacht. Nicht zu jenen, die er kannte, jene, die ihre Körper verkaufen, um sich Heroin zu spritzen, sondern zu den wirklichen Kindern der Nacht.
Sie leben in einem alten Schloss, das zum Großteil eher einer Ruine gleicht. Das Schloss steht auf einer Anhöhe, inmitten eines Waldes, in dem ich die Wölfe heulen hörte. Es war gerade Nacht, die Zeit, in der die Kinder der Nacht auf Streifzug waren.
Mein Traumboy und ich gingen durch das Schloss und sahen uns um. Es war nicht gerade das, was man Komfort nennen kann, aber das war mir egal. Ich wollte ohnehin alles zurücklassen, was mich an mein altes Leben erinnerte.
Plötzlich fragte mich mein Traumboy, ob ich gleich hier bleiben will.
Ja! Natürlich! schrie ich heraus und löste dadurch ein unheimliches Echo im Gebäude aus.
Es gibt kein Zurück, wenn du erst mal hier bist, warnte mich mein Traumboy.
Für einen Moment dachte ich an meine Eltern, die mich sicher vermissen werden.
Keine Sorge! Deine Eltern werden dich nicht vermissen, sagte er, als hätte er meine Gedanken gelesen.
Ich sah ihn fragend an.
Der Teil deines Selbst wird in der alten Welt weiterleben. Aber er wird dir jetzt nicht mehr bewusst sein. Dein Bewusstsein wird hier sein, bei den Kindern der Nacht, die sich für immer von der Alltagswelt der Menschen verabschiedet haben.
Ich überhörte das für immer nicht. Ich war sogar glücklich darüber und auch glücklich für meine Eltern, weil sie mich nicht vermissen werden.
Mein Traumboy sah mich prüfend an, als wollte er mein Innerstes erforschen. Dann nickte er zufrieden und sagte: Ich sehe, du meinst es wirklich ernst. Und ebenso erkenne ich deine ehrliche Bereitschaft, alles loszulassen.
Nach diesen Worten verschwand er. Er löste sich in Luft auf und ich war alleine im Schloss der Kinder der Nacht.
In aller Ruhe blickte ich mich im Schloss um. An den meist verfallenen Wänden hingen brennende Fackeln, die es mir ermöglichten, in der Schwärze der Nacht zu sehen. Es standen auch uralte Kästen an den Wänden, von denen ich einen öffnete. Darin befand sich Kleidung, - alles in schwarz. Lange schwarze Kleider hingen auf Kleiderbügel, wovon ich eines herausholte. Es sah wunderschön aus, - hatte eine weiten, runden Ausschnitt, mit schwarzen Spitzen besetzt, und es hatte enorm weite Fledermausärmeln, wo am Saum abermals Spitzen angenäht waren. Um die Taille war es eng geschnitten. Ab den Hüften schwang es weit aus und hatte hinten eine etwas längeren Schlepp, - ebenso mit breiten Spitzen gesäumt. Der Stoff war weich und glänzte sanft. Ich dachte, so ein Kleid dürfte in der Alltagswelt ziemlich teuer sein. Ich begutachtete es noch einmal. Es hatte sogar meine Größe, also zog ich meine Alltagsweltkleidung aus und probierte das wertvolle Stück. Es passte, als wäre es für mich gemacht worden! Und ich fühlte mich richtig wohl darin. Lachend drehte ich mich Kreis und streckte meine Hände zur Seite, um den Effekt der weiten Ärmel zu beobachten.
Ich suchte nach einem Spiegel, um mich darin zu bewundern, aber ich fand keinen im ganzen Schloss. Auch im oberen Geschoss, das ich nur zaghaft wegen der Baufälligkeit betrat, befand sich nichts, was einem Spiegel glich. Die noch vorhandenen Fensterscheiben waren blind, dass ich mich nicht einmal in ihnen sehen hätte können.
Etwas enttäuscht ging ich die Treppen herunter und ging vor das Schloss. In den Wald wagte ich mich nicht, da noch immer die Wölfe heulten. Ich setzte mich vor die Stufen des riesigen Portals und wartete auf die Kinder der Nacht.
Ich muss wohl eingeschlafen sein, denn plötzlich spürte ich Hände, die mich packten und hörte Stimmen. Erschrocken sprang ich auf. Zuerst kannte ich mich überhaupt nicht aus. Träumte ich noch immer?
Aber dann erinnerte ich mich und wurde mir bewusst, dass es kein Traum war. Obwohl ich im Traum hier her gekommen bin, war dies kein Traum mehr, sondern mein neues Leben, meine neue Wirklichkeit.
Und um mich herum standen die Kinder der Nacht. Es waren wundervoll anzusehende Geschöpfe. Ihre weiße Haut leuchtete und hob sich fast gespenstisch von ihrer schwarzen Kleidung ab. Die Mädchen hatte alle ähnliche Kleider an wie ich, und die Jungs trugen lange Hosen und Pullis oder Hemden, mit Rüschen und Fledermausärmeln. Und alle hatten langes, schwarzes Haar.
In diesem Moment wurde mir bewusst, dass auch mein Haar länger geworden war und ebenso schwarz wie das der Kinder der Nacht. Ich hielt eine meiner Haarsträhnen vor meinen Augen und staunte. Mein Haar war zwar von Natur aus dunkel, aber sicher nicht so vollkommen schwarz. Dann sah ich auch meine Hand. Ich schob den langen Ärmel hoch und stellte fest, dass meine Haut genauso weiß war, wie die der Mädchen und Jungs, die um mich standen. Ja, ich war wirklich eine von ihnen!
Und genauso begrüßten sie mich. Nach und nach umarmte mich jeder und jede einzelne von ihnen und hieß mich herzlich willkommen in ihrer Gemeinschaft.
Zusammen gingen wir ins Schloss, wo mir gleich mein eigener Schlafplatz zugewiesen wurde. Ich hatte bei der Besichtigung eine der vielen Türen im Parterre übersehen, die nach unten führte. Die Kästen mit der Kleidung waren zwar im Parterre, aber die eigentliche Wohnstätte der Kinder der Nacht war im Untergeschoss, - im so genannten Keller. Dort befanden sich unzählige Abteilungen, wo jeder einzelne und jede einzelne eine eigene hatte. Die Abteilungen waren nicht groß, aber auch nicht klein und herrlich eingerichtete Räume, mit uralten Möbeln und Himmelbetten, umrahmt mit schwarzem Baldachin. Auch in diesen Räumen hingen brennende Fackeln an den Wänden.
Ich hatte viele Fragen, aber die Kinder der Nacht waren noch nicht gewillt, mit mir Gespräche zu führen. Sie schienen müde zu sein und legten sich schlafen.
Erst, als die Dämmerung der Nacht einsetzte, erhoben sie sich aus ihren Betten und gingen nach oben ins Parterre. Obwohl ich schon auf der Treppe vor dem Portal eingeschlafen war, war der Schlaf in dem Himmelbett ein Genuss. Ich streckte mich und stand langsam auf, um auch nach oben zu gehen. Vielleicht erwartete mich oben ein ausgiebiges Frühstück.
Die Kinder der Nacht saßen auf dem Boden und unterhielten sich. Von Frühstück keine Spur! Aber mir knurrte der Magen und ich hatte echt einen Kohldampf. Als ich zu ihnen trat, erhoben sie ihre Köpfe und lächelten mir zu. Sie alle waren kaum älter als ich, manche sogar jünger. Ich glaube, der oder die Älteste war höchstens vierzehn Jahre alt.
Ich setzte mich lächelnd zu ihnen und sagte Hallo. Auch sie sagten, wie im Chor Hallo.
Wollt ihr gar nicht wissen, wie ich hergekommen bin? fragte ich nach einer Weile, weil niemand etwas sagte und sie mich irgendwie erwartungsvoll ansahen.
Der Junge neben mir, mit fast schwarzen Augen, neigte sich näher zu mir.
Wir wollen vergessen was war, sagte er flüsternd.
Das will ich auch. Ich habe mein altes Leben zurückgelassen. Das heißt also, ich bin willkommen bei euch. Oder? fragte ich zaghaft.
Die Kinder der Nacht lachten. Dann flüsterte der Junge neben mir: Natürlich bist du bei uns willkommen. Das haben wir dir ja schon vor dem Portal kundgetan.
Gibt es bei euch nichts zu Essen? fragte ich nach einer weiteren Weile des Schweigens.
Rechts von mir saß ein Mädchen, das mich mit großen blauen Augen anstarrte.
Geduld, sagte sie ebenso flüsternd wie der Junge zu meiner Linken. Wir gehen bald auf Nahrungssuche.
Gehen wir einbrechen? fragte ich und alle sahen mich erstaunt an.
Weißt du nicht, wie wir essen? fragte der Junge links neben mir.
Ich schüttelte stumm meinen Kopf.
Du wirst es bald wissen, meinte er lakonisch und lächelte. Aber sein Lächeln war kein echtes Lächeln. Es wirkte auf mich irgendwie teuflisch, - fast gemein.
Und so ging ich in jener Nacht zum ersten Mal mit den Kindern der Nacht auf Streifzug.
Ich hatte keine Ahnung, wohin wir gingen. Es war, als würde eigentlich keiner von ihnen eine Richtung bestimmen, denn die ganze Gruppe ging vom Portal aus gesehen gerade aus, wo durch den Wald ein kleiner Weg war. Wir gingen etwa eine halbe Stunde durch den Wald, bis wir an eine Lichtung kamen, von der aus wir auf eine Stadt hinunter blicken konnten.
Wir sind die Kinder der Nacht. Wir fürchten das Tageslicht nicht, dennoch meiden wir es und schlafen untertags. Das mag der Grund für unsere extrem bleiche Haut sein. Wir sind angetan vom Kontrast unserer weißen Haut und unserer durchwegs schwarzen Kleidung, die entweder aus langen Kleidern oder langen Hosen und Pullis besteht. Auch unser Haar ist schwarz und lang. Die Augen schminken wir mit schwarzen, breiten Lidstrichen, - auch die Jungs unter uns.
Ich bin ein Mädchen, - ein Mädchen mit weißer Haut, einem langen schwarzen Kleid, mit Fledermausärmeln, und langen schwarzen Haaren. Und ich möchte euch erzählen, wie ich zu den Kindern der Nacht gekommen bin.
Dieser Schritt war für mich eine Trennung von der menschlichen Gesellschaft. Wir Kinder der Nacht sind sozusagen von der Bildfläche der Menschen verschwunden, obwohl wir dennoch unter ihnen leben. Aber für die Menschen da draußen ist es, als würden wir gar nicht existieren.
Ich war etwa zwölf Jahre alt. Es war, genau genommen, der Sommer, bevor ich zwölf wurde und mir bewusst wurde, dass ich in einer Welt lebe, die mir überhaupt nicht gefällt. Ich hasste es, zur Schule zu gehen und für einen möglichen Beruf zu lernen. Ebenso hasste ich die Vorstellung, einmal zu heiraten und Kinder zu bekommen, - die Kinder heranwachsen zu sehen, Oma zu werden und dann zu sterben.
Von den Jungs, die ich kannte, gefiel mir keiner, wo ich mir vorstellen hätte können, mit ihm alt zu werden. In meiner Verzweiflung über dieses Leben, welches mir bevorstand, schuf ich mir in meiner Phantasie einen Traumboy. Er war all das, was ich an den Jungs, die ich kannte, nicht fand. Er war wunderschön, hatte eine enorm erotische Ausstrahlung und war von unheimlich sanftem Wesen. Er hatte langes, schwarzes Haar und schocktürkisfarbene Augen. Er sah zwar menschlich aus, aber er war ganz anders als die Menschen in meiner Phantasiewelt. Die anderen Menschen in meiner Phantasiewelt waren genauso wie die Menschen in meiner alltäglichen Welt. Sie waren nur auf ihre eigenen Vorteile bedacht. Er jedoch, mein Traumboy, war liebevoll, gutmütig und ohne jegliche Rachegedanken. Er hätte durchaus Rachegedanken haben können, denn er wurde nie gut behandelt.
Er wuchs bei Zieheltern auf, die ihn misshandelten und missbrauchten. Als er später von Zuhause, mit seinem einzigen Freund, wegging und in einer Art Herberge wohnte, begann sein Martyrium abermals. Es lag an seiner Ausstrahlung, die die Menschen nicht nur sexuell anregte, sondern sie auch dazu zwang, ihn zu quälen. Er selbst wusste nichts von seiner Ausstrahlung, die ihn nicht nur einsam, sondern auch tieftraurig machte.
In seiner schieren Verzweiflung sprach er eines Nachts im Traum zu mir. Er erzählte mir von seiner Kindheit, die so qualvoll war, dass er seine Qual nur mit Heroin dämpfen konnte. Er erzählte mir von den Kindern der Nacht, als er auch eines von ihnen war. Diese Kinder der Nacht verkauften ihre Körper, um mit dem Geld Stoff zu besorgen.
Sie waren nicht wie wir, auch wenn sie sich ebenfalls Kinder der Nacht nannten.
Während der Erzählung kam er drauf, dass er ganz anders war als die anderen Menschen. An vielen Misshandlungen hätte er eigentlich sterben müssen, so schwer waren die Verletzungen. Aber nicht nur, dass er nicht daran starb, - es war auch ein Phänomen, dass seine Wunden unheimlich schnell heilten, dass kaum eine Narbe zurückblieb.
Ich sagte ihm dann, er sei so etwas wie ein zukünftiger Mensch, den man Leuchtendes Wesen nennt. Ich verriet ihm auch, dass ihm sehr viel möglich ist, was gewöhnliche Menschen Zauberei nennen würden.
Als ich aus dem Traum erwachte, hatte sich das Verhältnis zwischen meinem Traumboy und mir sehr verändert. Es war, als hätte er plötzlich ein Eigenleben und sei nicht mehr abhängig von meiner Phantasie. Er erkannte seine Fähigkeiten, in andere Welten zu gehen, von denen er selbst ein Teil war. Er entwickelte sich nicht zu einem multidimensionalen Wesen, - er WAR eines!
So kam es, dass er bald darauf wieder in einem Traum zu mir sprach und mir vom menschlichen Bewusstsein erzählte. Er sagte, das menschliche Bewusstsein habe so viele Möglichkeiten, auch anders zu leben.
Er hatte also meine Verzweiflung erkannt und bot mir seine Hilfe an. Aber ich müsste etwas tun, denn eine Fee, mit Zauberstab, gibt es nicht.
Ich sagte, ich wäre zu allem bereit, wenn ich nur aus diesem trostlosen Leben fliehen könnte. Zur Sicherheit fragte er noch einmal nach: Wirklich alles? Ich bejahte. Dann sagte er, ich müsse mich selbst aufgeben. Wie soll das gehen? fragte ich ihn. Reduziere dein Ich und löse dich von allem Bekannten los, sagte er.
Mir war auf dieser Welt nichts wirklich bekannt. Es erschreckte mich nur und ich war mir sicher, jedes andere Leben sei besser als dieses, das mich erwartete.
Noch in diesem Traum brachte er mich zu den Kindern der Nacht. Nicht zu jenen, die er kannte, jene, die ihre Körper verkaufen, um sich Heroin zu spritzen, sondern zu den wirklichen Kindern der Nacht.
Sie leben in einem alten Schloss, das zum Großteil eher einer Ruine gleicht. Das Schloss steht auf einer Anhöhe, inmitten eines Waldes, in dem ich die Wölfe heulen hörte. Es war gerade Nacht, die Zeit, in der die Kinder der Nacht auf Streifzug waren.
Mein Traumboy und ich gingen durch das Schloss und sahen uns um. Es war nicht gerade das, was man Komfort nennen kann, aber das war mir egal. Ich wollte ohnehin alles zurücklassen, was mich an mein altes Leben erinnerte.
Plötzlich fragte mich mein Traumboy, ob ich gleich hier bleiben will.
Ja! Natürlich! schrie ich heraus und löste dadurch ein unheimliches Echo im Gebäude aus.
Es gibt kein Zurück, wenn du erst mal hier bist, warnte mich mein Traumboy.
Für einen Moment dachte ich an meine Eltern, die mich sicher vermissen werden.
Keine Sorge! Deine Eltern werden dich nicht vermissen, sagte er, als hätte er meine Gedanken gelesen.
Ich sah ihn fragend an.
Der Teil deines Selbst wird in der alten Welt weiterleben. Aber er wird dir jetzt nicht mehr bewusst sein. Dein Bewusstsein wird hier sein, bei den Kindern der Nacht, die sich für immer von der Alltagswelt der Menschen verabschiedet haben.
Ich überhörte das für immer nicht. Ich war sogar glücklich darüber und auch glücklich für meine Eltern, weil sie mich nicht vermissen werden.
Mein Traumboy sah mich prüfend an, als wollte er mein Innerstes erforschen. Dann nickte er zufrieden und sagte: Ich sehe, du meinst es wirklich ernst. Und ebenso erkenne ich deine ehrliche Bereitschaft, alles loszulassen.
Nach diesen Worten verschwand er. Er löste sich in Luft auf und ich war alleine im Schloss der Kinder der Nacht.
In aller Ruhe blickte ich mich im Schloss um. An den meist verfallenen Wänden hingen brennende Fackeln, die es mir ermöglichten, in der Schwärze der Nacht zu sehen. Es standen auch uralte Kästen an den Wänden, von denen ich einen öffnete. Darin befand sich Kleidung, - alles in schwarz. Lange schwarze Kleider hingen auf Kleiderbügel, wovon ich eines herausholte. Es sah wunderschön aus, - hatte eine weiten, runden Ausschnitt, mit schwarzen Spitzen besetzt, und es hatte enorm weite Fledermausärmeln, wo am Saum abermals Spitzen angenäht waren. Um die Taille war es eng geschnitten. Ab den Hüften schwang es weit aus und hatte hinten eine etwas längeren Schlepp, - ebenso mit breiten Spitzen gesäumt. Der Stoff war weich und glänzte sanft. Ich dachte, so ein Kleid dürfte in der Alltagswelt ziemlich teuer sein. Ich begutachtete es noch einmal. Es hatte sogar meine Größe, also zog ich meine Alltagsweltkleidung aus und probierte das wertvolle Stück. Es passte, als wäre es für mich gemacht worden! Und ich fühlte mich richtig wohl darin. Lachend drehte ich mich Kreis und streckte meine Hände zur Seite, um den Effekt der weiten Ärmel zu beobachten.
Ich suchte nach einem Spiegel, um mich darin zu bewundern, aber ich fand keinen im ganzen Schloss. Auch im oberen Geschoss, das ich nur zaghaft wegen der Baufälligkeit betrat, befand sich nichts, was einem Spiegel glich. Die noch vorhandenen Fensterscheiben waren blind, dass ich mich nicht einmal in ihnen sehen hätte können.
Etwas enttäuscht ging ich die Treppen herunter und ging vor das Schloss. In den Wald wagte ich mich nicht, da noch immer die Wölfe heulten. Ich setzte mich vor die Stufen des riesigen Portals und wartete auf die Kinder der Nacht.
Ich muss wohl eingeschlafen sein, denn plötzlich spürte ich Hände, die mich packten und hörte Stimmen. Erschrocken sprang ich auf. Zuerst kannte ich mich überhaupt nicht aus. Träumte ich noch immer?
Aber dann erinnerte ich mich und wurde mir bewusst, dass es kein Traum war. Obwohl ich im Traum hier her gekommen bin, war dies kein Traum mehr, sondern mein neues Leben, meine neue Wirklichkeit.
Und um mich herum standen die Kinder der Nacht. Es waren wundervoll anzusehende Geschöpfe. Ihre weiße Haut leuchtete und hob sich fast gespenstisch von ihrer schwarzen Kleidung ab. Die Mädchen hatte alle ähnliche Kleider an wie ich, und die Jungs trugen lange Hosen und Pullis oder Hemden, mit Rüschen und Fledermausärmeln. Und alle hatten langes, schwarzes Haar.
In diesem Moment wurde mir bewusst, dass auch mein Haar länger geworden war und ebenso schwarz wie das der Kinder der Nacht. Ich hielt eine meiner Haarsträhnen vor meinen Augen und staunte. Mein Haar war zwar von Natur aus dunkel, aber sicher nicht so vollkommen schwarz. Dann sah ich auch meine Hand. Ich schob den langen Ärmel hoch und stellte fest, dass meine Haut genauso weiß war, wie die der Mädchen und Jungs, die um mich standen. Ja, ich war wirklich eine von ihnen!
Und genauso begrüßten sie mich. Nach und nach umarmte mich jeder und jede einzelne von ihnen und hieß mich herzlich willkommen in ihrer Gemeinschaft.
Zusammen gingen wir ins Schloss, wo mir gleich mein eigener Schlafplatz zugewiesen wurde. Ich hatte bei der Besichtigung eine der vielen Türen im Parterre übersehen, die nach unten führte. Die Kästen mit der Kleidung waren zwar im Parterre, aber die eigentliche Wohnstätte der Kinder der Nacht war im Untergeschoss, - im so genannten Keller. Dort befanden sich unzählige Abteilungen, wo jeder einzelne und jede einzelne eine eigene hatte. Die Abteilungen waren nicht groß, aber auch nicht klein und herrlich eingerichtete Räume, mit uralten Möbeln und Himmelbetten, umrahmt mit schwarzem Baldachin. Auch in diesen Räumen hingen brennende Fackeln an den Wänden.
Ich hatte viele Fragen, aber die Kinder der Nacht waren noch nicht gewillt, mit mir Gespräche zu führen. Sie schienen müde zu sein und legten sich schlafen.
Erst, als die Dämmerung der Nacht einsetzte, erhoben sie sich aus ihren Betten und gingen nach oben ins Parterre. Obwohl ich schon auf der Treppe vor dem Portal eingeschlafen war, war der Schlaf in dem Himmelbett ein Genuss. Ich streckte mich und stand langsam auf, um auch nach oben zu gehen. Vielleicht erwartete mich oben ein ausgiebiges Frühstück.
Die Kinder der Nacht saßen auf dem Boden und unterhielten sich. Von Frühstück keine Spur! Aber mir knurrte der Magen und ich hatte echt einen Kohldampf. Als ich zu ihnen trat, erhoben sie ihre Köpfe und lächelten mir zu. Sie alle waren kaum älter als ich, manche sogar jünger. Ich glaube, der oder die Älteste war höchstens vierzehn Jahre alt.
Ich setzte mich lächelnd zu ihnen und sagte Hallo. Auch sie sagten, wie im Chor Hallo.
Wollt ihr gar nicht wissen, wie ich hergekommen bin? fragte ich nach einer Weile, weil niemand etwas sagte und sie mich irgendwie erwartungsvoll ansahen.
Der Junge neben mir, mit fast schwarzen Augen, neigte sich näher zu mir.
Wir wollen vergessen was war, sagte er flüsternd.
Das will ich auch. Ich habe mein altes Leben zurückgelassen. Das heißt also, ich bin willkommen bei euch. Oder? fragte ich zaghaft.
Die Kinder der Nacht lachten. Dann flüsterte der Junge neben mir: Natürlich bist du bei uns willkommen. Das haben wir dir ja schon vor dem Portal kundgetan.
Gibt es bei euch nichts zu Essen? fragte ich nach einer weiteren Weile des Schweigens.
Rechts von mir saß ein Mädchen, das mich mit großen blauen Augen anstarrte.
Geduld, sagte sie ebenso flüsternd wie der Junge zu meiner Linken. Wir gehen bald auf Nahrungssuche.
Gehen wir einbrechen? fragte ich und alle sahen mich erstaunt an.
Weißt du nicht, wie wir essen? fragte der Junge links neben mir.
Ich schüttelte stumm meinen Kopf.
Du wirst es bald wissen, meinte er lakonisch und lächelte. Aber sein Lächeln war kein echtes Lächeln. Es wirkte auf mich irgendwie teuflisch, - fast gemein.
Und so ging ich in jener Nacht zum ersten Mal mit den Kindern der Nacht auf Streifzug.
Ich hatte keine Ahnung, wohin wir gingen. Es war, als würde eigentlich keiner von ihnen eine Richtung bestimmen, denn die ganze Gruppe ging vom Portal aus gesehen gerade aus, wo durch den Wald ein kleiner Weg war. Wir gingen etwa eine halbe Stunde durch den Wald, bis wir an eine Lichtung kamen, von der aus wir auf eine Stadt hinunter blicken konnten.