Katapult in's All

Planet Cryon, Stadt Tsche, 24.12.3431

Mein erstes Weihnachten außerhalb der Erde. Ich muß bemerken: ich fühle mich nicht mehr so traurig wie noch vor Monaten. Es hat doch sehr geschmerzt, die Erde los zu lassen und nicht mehr in jeder Sekunde an sie zurück zu denken. An alles, was man verlassen hat. Gerade heute wird mir das wieder bewußt: es ist vergangen.

Ich freue mich, daß wir (ich und Michael) morgen bei Henry und Mortischa eingeladen sind. Sie haben auf Cryon ein Ferienhaus, und Michael hat eine Wohnung in der Stadt hier. Sie ist sehr schön- die Stadt ich kannte sie natürlich nicht. Die Wohnung ist nicht so, daß ich länger in ihr verbleiben möchte. Aber: wir suchen nach einem Haus auf dem Land.

Hier auf Cryon kennt man die Idee vom Heiraten nicht. Also ich meine: die Zeremonie. Sondern man lebt sehr extensiv die körperliche Seite der Spiritualität. Sie nennen es "Shoushou". Es ist eine Art Bewegungstanz, der zur sinnlichen Stimulation des Partners führt. Ich komme dabei "mal ganz anders in Schwingung" und ich muß sagen haiaiai, sein Stecken und Stab trösten mich.

Ich will mich aber jetzt auch gar nicht binden. Eigentlich. Aber auf der anderen Seite: seit ich Michael kenne ist mein Unsicherheitsgefühl deutlich geringer geworden. Oft denke ich, daß er nur Bahnhof versteht, wenn ich über mich selber rede. Daher kommt es wohl auch so oft vor, daß er auf einmal mit schlängelnden Bewegungen zu tanzen beginnt, mit der Zunge züngelt und auf seine Schenkel klopft. Er ist da quasi so, wie man sich in Europa einen Afrikaner im Busch im 18. Jahrhundert vorgestellt hat. Wild und entschlossen.

Tja. In Tagebücher kann man so etwas schreiben. Immer wieder überlege ich: darf ich es überhaupt? Ach komm: was ist mir das abgegangen. So ein Mann. Das hätte ich nicht gedacht. Ich hab jetzt - mal überlegen - 11 Jahre nicht mit einem Mann - ach herrje. Ach herrje. Ist das ein Rückfall oder ein Fortschritt? oooh Gott, aber er ist wirklich so männlich. Das Problem ist nur: keine cryonische Frau und kein cryonischer Mann wird das je verstehen. Die sind irgendwie weiter entwickelt als ich.
 
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Ich schmiegte mich an Michael an. "Der Gottesaspekt hat mich auch sehr fasziniert, als ich ihn durchdrang", sagte Henry. Mich störte die Vase auf dem Tisch, sie stand im Blickfeld zwischen mir und Henry. Ich wollte gerade Michael bitten, die Vase etwas zur Seite zu rücken - denn ich wollte meine kuschelige Stellung an seiner Seite nicht verlassen. Aber da nahm sie Henry auch schon zwischen uns fort.

Er hatte blaue Augen. Er war ein erstaunlicher Mann: er hatte Einzigartiges geschafft und war als erster und bis zu meinem Erscheinen einziger Erdenbürger der vollständigen Gnade Gottes unterlegen gewesen. Das heißt ihm stand jegliche Freizügigkeit zu. Die einzige Ausnahme bestand für die Angestellten der Intergalaktischen Förderation - letztlich der Firma Gottes - darin, daß sie keinen Besitz anhäufen durften. Denn Gott nahm für sich in Anspruch, alles zu besitzen. Es war jedoch unbedingt empfohlen, Geld für die Zukunft beiseite zu legen und daher bekam jeder föderale Bürger ein Konto und jeder Angestellte der Föderation darüberhinaus ein Spesenkonto.

Genau wie es bei mir der Fall war hatte es aber Henry Morgan niemals an finanziellen Mitteln gemangelt. Er war also auf "Gottes Gnade" in dieser calvinistischen Hinsicht nicht oder nicht mehr angewiesen, als er noch auf der Erde lebte. Von daher fragte ich: "Sag mal: eigentlich hast Du dich doch verschlechtert. Du warst ein freier Mann, mit einem Koffer voll Geld. Du hättest alles mit dem Geld machen können. Aber was hast Du gemacht? Du hast nichts davon ausgegeben und Dich stattdessen in den Dienst Gottes gestellt. Des intergalaktischen Gottes." Tagelang hatte ich darüber nachgedacht. "Erzähl mir mehr von Gott, Henry, bitte."

"Gott wohnt auf Mercury Prime. Er ist ein Organismus, welcher ein Wesen trägt. Er erinnert mich an ein Kind - so von seiner Art. Er kommuniziert telepathisch. Er hat auch mit Dir sicher schon kommuniziert."

"Wie das?" fragte ich. "Hast Du nicht mal eine Phase gehabt, in der Du dich beobachtet fühltest? In der Du dachtest, daß jemand mithört und Dich belauscht?" "Doch, natürlich, schon viele Male im Leben."

"Kann man Gott denn besuchen?", fragte ich, denn ich war des Glaubens an das, was ich da hörte, nun nicht wirklich mächtig. "Ja". Und Michael sagte zu meiner Verwunderung: hast Du seine homepage im iii noch nicht gefunden? Du kannst ihm schreiben oder ihn besuchen. Wir können aber auf dem Dienstwege sicher schneller eine Audienz erreichen. Ich will mal sehen, was ich da machen kann."

Auf diese Weise bekam ich ein Weihnachtsgeschenk der besonderen Art: einen Besuch bei Gott.
 
Die Überwachungskameras in der Wartehalle des Space Port in Main Harbour zeigten im Pulk der Reisenden die 4 Personen, die sich am 23.02.3414 auf den Weg nach Mercury Prime machten. Mortischa, Henrys Frau, trug einen großen roten Hut, der wie ein Rad gestaltet war und ihr Gesicht den Kameras nicht Preis gab.

Der Reisende Henry Morgan trug einen dunklen Anzug und einen schwarzen Koffer. Um seine Schulter hin ein Data Transfer, die mobile Vorrichtung zum Empfangen von Daten für Menschen, die nicht via Imlantat an das iii angeschlossen waren.

Das jüngere Paar dort sind Sandra Stanford und Michael Xhardie. Sie haben sich am 04.06.3413 online in einem Cybersexforum kennengelernt. Am 27.11.3413 haben sie sich in Kensington Place persönlich getroffen Michael Xhardie half Sandra Stanford beim Verlassen des Planeten, um der Verfolgung durch die öffentliche kommunale Geschäftsrevision zu entgehen. Sandra Stanford hatte aufgrund einer mangelhaften Synchronisation nach dem Verlassen der Erde mit eigenem Geld ein Appartement gekauft und daher gegen Gottes Gebot vom Nichtbesitz verstoßen.
 
Der Gang zum Ausgang der Interdimensional Godpath Transway Station auf Mercury Prime erschien Sandra unendlich lang. Der Tunnel, durch den man unterirdisch von der Reisefähre zum Ausgang des Raumhafens gelangte, erinnerte sie an die Erzählungen vom Sterben. Unerklärlicherweise war das Licht schummrig und dieses schummrige Gefühl des Lichts ging auf Sarah über.

Schließlich erspähte sie am Ende des Tunnels ein Licht. Sie umklammerte Michaels Hand mit der ihren und hatte das Gefühl, diese zerdrücken zu müssen. Michael erwiderte den Druck, um ihr Halt zu geben. Sie gingen hinter Henry und Mortischa her. Henry erschien vergnügt und trällerte ein Lied aus dem von Prama Rine aufgeschriebenen Liedguts der intergalaktischen Förderation namens "Gott mein Gott ich komme".

Das Licht am Ende des Tunnels entpuppte sich als großzügig gestaltete, sehr gefällige Lounge mit geschwungenen Formen und Glasdach, durch das die Sonne fiel. Es standen Bäume in der Halle, die Sarah noch nie gesehen hatte. Sie neigten sich den Passanten zu, wenn diese an ihnen vorbeigingen, um gestreichelt zu werden. Die Passanten blieben stehen, streichelten die Bäume an Blättern und Ästen, um sich dann zu verbeugen und weiter zu gehen.

Sarah war erstaunt. "Die Verehrung des Baumes", dachte sie. "Kommt", sagte Henry, "laßt uns zu den Bäumen gehen. Sie sind herrlich."

Als Sarah sich einem der Bäume näherte, schien ihr, als könne der Baum sie sehen und bemerken, daß sie an ihn herantrat. Dieser Baum hatte eine ungeheuerliche Präsenz. Als sie in 2 Meter Entfernung vor ihm stand, neigte der Baum einen seiner unteren Äste Sarah zu. Sarah war erschrocken, denn sie spürte in sich das Verlangen, den Baum zu streicheln ohne daß sie sagen konnte, wo dieses Verlangen in ihr entstand.

Sarah berührte den Baum noch nicht, sie näherte die Hand, aber schreckte zurück. Bereits in 10 Centimeter Entfernung hatte sie das Gefühl, in ein Kraftfeld zu greifen, das sie ganz und gar in Besitz nehmen würde. Sie fühlte, wie der Kontakt an der Hand zum Baum sich bereits vor der Berührung auf ihren Arm ausbreitete, wie eine Welle sie erfassen wollte, um ganz in ihr aufzugehen.

"Du mußt Dich dem Baum ganz hingeben", sagte Henry zu ihr. Er lächelte sie an, während er seine rechte Hand spielerisch um einen Ast gleiten ließ, um diesen zu streicheln und ihn zu erfahren.
 
Als Sarah ihre Hand dem Blatt weiter näherte, spürte sie ihre Fingerkuppen wie Käppchen auf einem Stock mit taktilem Ende. Einen Moment sah sie die goldenen Leitungen, die ihre Hand durchzogen und die in den goldenen Käppchen der Fingerkuppen endeten.

Ein Blitz durchfiel sie, als sie das Blatt berührte und der Kontakt sich schloß. Der Baum schien über die Goldleitungen in Sarah hinein zu fühlen, schien zu Sarah zu werden. Sie sah das Fortschreiten der Wahrnehmung über ihre Fingerkuppen den Arm herauf wie in einem inneren Film, in dem sie das Innere ihres Körpers betrachtete. Der Baum nahm sie ein, sie erlebte kein Verlangen, dies zu unterbinden, es war eine unerklärliche Stille und Präsenz in ihr und sie gab sich dem Baum vollends hin.

Sie sah, wie einzelne Krusten von ihr zu platzen schienen, als der Baum die Wahrnehmung ihrer Person abschloß und den gesamten Raum ihres Körpers umfaßte. Sarah hörte in sich ein tiefes Grollen, das sich zu einem Klang emporschwang und zu einem klaren, schwingenden, sehr tiefen Ton wurde. Sie entdeckte den Klang A, O und M hinter diesem Ton und erkannte, daß der Baum in ihr sang.

Als hätte sie gewußt, was sie tuen sollte, begann Sarah mit dem Baum zu singen. Ihre weibliche Stimme paarte sich mit dem Klang des Baumes zu einer Melodie des Gleichklangs, in der die einzelnen Töne verschmolzen.

"Honig", sagte Henry. "Ja, es ist wie Honig", antwortete Sarah. "Eine unerklärlich heilsame Erfahrung."
 
"Bis wir bei Gott angekommen sind werden wir eine 25-minütige Fahrt mit einem Kanzelgefährt erleben. Kommt mit." Henry und Michael gingen entschiedenen Schrittes auf den mit "Exit" bezeichneten Ausgang der Interdimensional Godpath Transway Station zu. Durch die Glasfassade des Gebäudes konnte Sarah die Umgebung der Station sehen. Erstaunlicherweise war sie ländlich. Alles was sie sah machte einen gestalteten, sauberen, ja designten Eindruck. Formen und Farben ergaben einen wie gemalten Anblick, die Menschen sahen glücklich aus, spielende Kinder befanden sich an beinahe jeder Ecke, zu der Sarah blickte. In der Luft flogen bootsähnlich aussehende Gefährte, die wie blank polierte Zeppeline teilweise gemächlich, weilweise schnell über den Himmel zogen.

Der weiß geplattete Weg führte an Blumenbeeten und Baumschulen vorbei. Sarah erblickte die Station der Kanzelgefährte, an der sie einsteigen mußten, wie Henry mit dem Finger zeigte. Es gab hier kaum Häuser, alles war übersichtlich und konnte leicht überblickt werden. Nichts stand dem Blick oder dem Empfinden im Weg, man konnte einfach so gehen und sein.

"Guten Tag. Willkommen auf Mercury Prime. Gott empfängt mich mit offenen Armen." Die Kanzel setzte sich ohne den leisesten Hauch eines Ruckes in Bewegung. Sie war offen gebaut, so daß Sarah einen Luftzug erwartet hätte. Als die Kanzel beschleunigte sagte Michael: "der Fahrtwind wird durch eine nur auf Mercury Prime angewendete Präsenzmechanik von unserer Kanzel abgehalten. Diese Präsens-Mechanik entsteht durch die körperliche Anwesenheit Gottes hier auf diesem Planeten und kann deshalb nur auf Mercury Prime funktionieren. Du hast bereits gesehen, daß auch die Bäume mit einer Präsenz-Mechanik ausgestattet sind, einfach nur weil sie auf Gottes Planet leben. Jeder Organismus, der sich länger auf Mercury Prime aufhält, entwickelt diese übergeordneten Präsens-Eigenschaften. Warte es nur ab, Du wirst es auch an Dir erleben."

"Geben Sie sich ganz der Fahrt hin. Gottes Wege sind unergründlich und führen stets zur rechten Zeit an's Ziel." Die Kanzel gab etwa jede Minute einen solchen Spruch ab, mit dem sie die Reise der Gefährten kommentierte. "Die Güte des Herrn wird sie zur Vollendung führen und zu vollkommener Präsenz. Bitte greifen Sie in die Warenauslage zur Rechten und bedienen Sie sich." Es öffnete sich die Abdeckung eines Kästchens, das Sarah zuvor nicht bemerkt hatte. Es enthielt eine Packung mit einzelverpackten Erfrischungstüchern, einen Einmalrasierer, einen Taschenspiegel, einen Lippenstift, an Salzstangen erinnernde Gebäckstangen, einen Nektar aus Usami-Früchten und ein kleines Buch mit frommen Sprüchen. Sein Aufdruck lautete: "Mit Gott gefahren sein heißt gut gefahren sein." Untertitel: "Die 1000 besten Sprüche aus der Kanzel."
 
du schreibst ja in Windeseile...
begonnen am 11.3 bis heute 13.3
25 Kapitel



dafür brauche ich zwei Monate:D
allerdings forsche ich sehr viel Historisches
Geografie, etc


aber du bist echt ein Unikum



LG Ali:zauberer1:schaf::schaf::schaf::schaf:
 
hi Alice,

ja, ich bin ein Unikum. Unbedingt. *lach*

Du aber auch. :zauberer1


Ich bin übrigens erst in Kapitel 2. Von potentiell unendlich vielen. Aber es sind 25 Episoden, die mir nacheinander einfielen, so im Erzählfluß.

Zu Recherchen befindet sich in dem Aufgeschriebenem ja auch potentiell sehr viel. Da kann ich zum Professor in mehreren Gebieten werden, wenn ich das Buch mal "ausschreiben" würde. Ich denke es wird eher beim Genre-Mix Science-Fiction/Geistesgestörtheit bleiben. Das schwingt in grösseren Zügen. :D

Aber: bisher gefällt es mir nicht schlecht.

Zusammenfassung:
Sandra Stanford, eine bisexuelle Erdenbürgerin des 34. Jahrhunderts nach Christus, ist Wissenschaftlerin. Sie verläßt die Erde mit einem Katapult, das sie für Herrn H. gebaut hatte und reist von Planet zu Planet. Sie findet Herrn H. im iii (entsprechend dem www) und kommt beinahe in Schwierigkeiten, weil sie Geld so verwendet, wie sie es gewohnt ist. Die Andersartigkeit der Geldverwendung wird ihr verdeutlicht beim nun folgenden Besuch bei einem Organismus, der ein Wesen und den Namen Gott trägt. Er ist ihr Arbeitgeber.
 
dann wünsche ich dir weiterhin viel Freude
bei deinem kreativen Ergüssen


ich werde es gespannt verfolgen




LG Ali:umarmen:
 
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Hallo Trixi Maus!

Super gut geschrieben.

Verfolge Deinen Text mit Spannung und freue mich schon auf eine Fortsetzung. Bin beeindruckt von Deiner Phantasie und all dieses so schnell anderen mitzuteilen. Großartig !!

P.S.:
Gott als Arbeitgeber - tolle Nachdenkanregung.

LG L.
 
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