Engel auf Brücken weinen nicht / 1

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ricochet

Guest
Es war ein später Abend im Mai. Eine Brücke, nicht viel mehr als ein schlecht gemauerter Steg aus dem vorigen Jahrhundert, spannte sich in weitem Bogen über eine Schlucht. Die Dunkelheit verschluckte den Boden tief unter der Brücke. Verhalten gluckste dort ein Bach. Lauer Wind wehte aus Süden und trug aus den angrenzenden Wäldern den Duft blühender Bäume und Sträucher herbei.
Der ideale Ort zum Sterben, fand ein schlanker Mann, modisch bewusst gekleidet, Ende zwanzig. Er stand mitten auf der Brücke im Licht des Vollmondes und sah in die Schlucht hinunter. Erstens ist der Tod der natürliche Weg aller Dinge und zweitens würde es bestimmt nicht weh tun.
Da sah er die Gestalt einer Frau etwa zwei Meter neben sich. Sie war offensichtlich von der anderen Seite der Brücke herangetreten. Der Mann hörte sie sagen: „Warum?“
Wohltönend klang die Stimme der Unbekannten. Tief senkte sich das weibliche Timbre in sein Inneres.
„Warum nicht?“, entgegnete der Mann, während er die Frau näher betrachtete. Er fand sie ungemein begehrenswert mit ihren schulterlangen, gewellten Haaren und der typisch weiblichen Figur, die auch von ihrer Jeans und ihrem unauffälligen T-Shirt nicht gebändigt werden konnte. Mehr ließ sich im Dunkel nicht erkennen.
Unwirsch ergänzte er: „Was geht Sie das eigentlich an?“
„Gar nichts“, gab die Unbekannte zur Antwort. „Ich bin auch die Letzte, die Sie hindern wird, zu springen. Ihre Entscheidung ist ihre Sache. Aber vielleicht haben Sie noch das Bedürfnis, irgendwem, irgendwas zu sagen. Und wenn es nur: Rutsch mir den Buckel runter ist.“
Das besänftigte den Mann ein wenig. Er fuhr fort: „Es gibt keinen Grund für das Leben. Ich habe nicht darum gebeten und sehe keinen Sinn darin.“
„Mag schon sein, ich habe keine Ahnung. Aber vielleicht geht es nicht um Sinn, sondern darum, was wir mit unserem Leben anfangen.“
„Soso, und was soll ich anfangen, Gnädigste?“
Ohne auf seinen spitzen Unterton einzugehen sagte die Unbekannte: „Wie wäre es mit etwas Nützlichem? Nur mal so als Vorschlag.“
„Was denn? Mir fällt nichts ein.“
„Wissen Sie was? Ich gebe Ihnen die Gelegenheit dazu. In einem Jahr treffen wir uns hier wieder. Sind Sie dann immer noch der Meinung, springen zu müssen, dann tun Sie es.“
Der Mann war einverstanden und ging nach Hause. Am nächsten Morgen fand er ein Schreiben im Postkasten: „Sehr geehrter Herr Hubert Dörfler.
Bezugnehmend auf Ihre Bewerbung vom letzten Montag teilen wir Ihnen mit, dass wir auf Grund eines unvorhergesehenen Personalausfalles Ihre Mitwirkung in unserem Altersheim dringend benötigen. Bitte melden Sie sich umgehend unter der Telefonnummer ...“
Tags darauf pflegte Hubert bereits alte Leute. Munter verteilte er Essensportionen, half bei der Körperpflege genauso wie beim Kartenspielen. Von früh bis spät machte er Betten, verteilte Pillen und Tropfen aller Art. Da hieß es, einem bettlägrigen Patienten den Hintern wischen, dort war er gefragt, um einer alten Frau in den Krankenwagen zu helfen. Allabendlich fiel er geschafft in sein Bett.


Ein Jahr später. Hubert betrat die Brücke von der einen Seite. Und wieder tauchte die junge Frau vom Vorjahr aus dem Dunkel der anderen Seite auf.
„Springen Sie jetzt?“, wollte sie wissen.
Diese offene Neugier verunsicherte Hubert ein wenig. Außerdem war er sich ohnehin nicht schlüssig. Er antwortete: „Ich möchte eigentlich schon. An meiner grundsätzlichen Einstellung hat sich nichts geändert. Aber mir ist auf dem Weg eingefallen, ich habe heute Nachmittag vergessen, der Stationsärztin einen Befund auf den Schreibtisch zu legen. Und der verschrobene Herr auf Zimmer 19 hat bestimmt nicht seine Herztropfen genommen. Dem sollte ich wieder einmal gut zureden. Ohne seine Medizin fällt er wieder ins Koma.
Andererseits – wieder ein ganzes Jahr verschieben?“
Die Frau sagte: „Oh, Sie haben offenbar etwas Nützliches zu tun gefunden. Wie erfreulich! Wie wird es denn Ihren Kollegen morgen gehen?“
„Naja, das Altersheim ist randvoll und die Pflegerinnen machen Überstunden bis zum Gehtnichtmehr.“
Kollegial war es ganz bestimmt nicht, was er heute tun wollte. Das gab Hubert zu denken. Er schwankte noch mehr in seinem Entschluss.
Achselzuckend fragte die Frau: „Möchten Sie es noch ein Jahr mit dem Nützlichen versuchen?“
„Okay, dann schlage ich vor, ich erledige das alles und in einem Jahr um dieselbe Uhrzeit treffen wir uns wieder. Aber dann gibt es keine Ausreden mehr.“
„Nein, nein, ganz bestimmt nicht.“


Ein Jahr später. Hubert tauchte mit einem Buch auf der einen Seite der Brücke auf, von der anderen kam ihm die Frau entgegen.
Schon von weitem zeigte Hubert das Buch, ein wahrlich dicker Schmöker mit ledernem Einband. Dazu sagte er: „Ich habe ein Buch über den Sinn des Lebens gelesen.“
„Ui, das klingt toll. Darf ich mal sehen? Was steht denn im Großen und Ganzen drin?“, fragte die junge Frau.
„Naja, das ist es ja. Dr. Neunmalklug, so wie ich mir angewöhnt habe, ihn zu nennen, ist die meiste Zeit beschäftigt, die Antwort der Religionen zu besprechen. Die Christen etwa meinen, der Sinn des Lebens bestünde in größtmöglicher Nähe zu Gott. Die Buddhisten wieder denken, es ginge darum, aus dem Kreislauf der Wiedergeburten ins Nirvana auszubrechen. Und im übrigen beschreibt er des Langen und Breiten, warum die Philosophie keine Antwort finden kann. Also er, Dr. Neunmalklug, genauso wenig. Das geht bis zum Verdacht, der Sinn des Lebens könne so etwas wie eine sprachliche Halluzination im Sinne Ludwig Wittgensteins sein.“
Die Frau warf ein: „Ist doch eigenartig. Die Leute, die sich nach dem Sinn des Lebens fragen tun sich immer schwerer damit, als die, die sich mit dessen Unsinn befassen.“
„Kann schon sein“, fuhr Hubert fort. „Was immer ich in diesem Buch gefunden habe, der Sinn des Lebens war es nicht. Dr. Neunmalklug soll sich seinen Sinn in den Hintern schieben. Wie ich immer schon sagte, das Leben hat keinen Sinn. Und deswegen werde ich jetzt diesen sauteuren Wälzer um 55 Euro die Brücke hinunterwerfen.“
Schon fiel das Buch. Hubert und seine Gesprächspartnerin sahen ihm nach, wie es in der Finsternis versank. Im Fallen öffnete das Buch seine Blätter wie ein Vogel im Flug. Aber Dr. Neunmalklugs Worte flogen nicht, sie fielen. Angestrengt lauschten die beiden, um den Aufprall des Buches auf der Oberfläche des Baches nicht zu überhören. Nach Sekunden kündete ein fernes „Platsch!“ von dessen Ankunft im Wasser.
Die Frau sagte nur: „Wie tief doch der Sinn des Lebens fallen kann, wenn er fällt.“
„Ahhhh!!!“, rief Hubert während er vornüber kippte. Instinktiv um sich greifend erwischte er im letzten Augenblick mit der rechten Hand den unteren Rand des Geländers. Seine Füße zappelten in der Luft.
„Bitte!!!“, rief er aus.
„Was denn?“
„Helfen Sie mir!“
Blitzschnell fasste ihn die Frau am Handgelenk. Mit vereinten Kräften konnte sich Hubert über das Geländer in Sicherheit ziehen. Beeindruckend, welche Kraft eine junge, zierliche Frau haben konnte ...
Verschwitzt, atemlos und auch ein bisschen beschämt saß Hubert neben der Frau. Er versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen.
Die Frau sagte: „Das finde ich aber eigenartig. Ich dachte, Sie wollten sowieso da hinunter.“
In der Tat, das fand Hubert ebenfalls. Er war selbst überrascht von seiner Reaktion.
„Ja schon“, entgegnete Hubert, nachdem er eine Weile nachgedacht hatte; „aber doch nicht so. Morgen würde die Polizei kommen und den Hergang rekonstruieren. Dann würde es heißen: Der Dörfler war zu beknackt um nächtens über eine Brücke zu gehen. Hat sich zu weit über das Geländer gebeugt und sich zu Tode gestoßen, der Trottel. Wie erbärmlich!
Nein, meine Liebe, das gefällt mir überhaupt nicht. Wenn ich aus dem Leben scheide, dann als logische Konsequenz rationaler Überlegungen, kraft meines freien Willens als souveräne Handlung im vollen Besitz meiner physischen und psychischen Kräfte.“
„Wie beeindruckend!“
Täuschte es Hubert oder war tatsächlich ein spöttischer Unterton in ihrer Stimme? Dann war einige Minuten Stille. Hubert war die Situation unangenehm geworden. Es drängte ihn, diese abzukürzen: „Und außerdem reicht es mir für heute. Ich werde meinen Sprung um ein Jahr verschieben. Das spielt jetzt auch keine Rolle mehr. Bitte erzählen Sie die Geschichte mit meinem Sturz nicht weiter.“
„Oh nein, wo denken Sie hin.“
„Ich bin übrigens Hubert.“
Darauf teilte ihm die Frau ihren Namen mit. Den verstand Hubert aber nicht. Er sagte: „Hä, das habe ich jetzt aber nicht mitbekommen. Klingt ein bisschen nach Eulalia oder Julia. Ist es in Ordnung, wenn ich Sie Julia nenne?“
„Soll mir recht sein“, willigte Julia ein.


Ein Jahr später. Hubert torkelte verspätet auf die Brücke. Julia wartete bereits im Mondlicht. Zur Feier des Tages oder besser des Abends hatte Hubert einen kräftigen Schluck zum Abendessen getrunken. Vielleicht sogar zwei oder drei.
Wankend setzte er sich auf die Brücke und lehnte sich mit dem Rücken am Geländer an. Er sog tief die Nachtluft ein. Julia setzte sich zu ihm. In ein- oder zweihundert Metern Entfernung hörten sie den Ruf einer Eule.
„Ich hoffe, Sie haben etwas zu trinken mitgebracht“, sagte Julia. Indem sie mit einer lässigen Bewegung mit dem Daumen hinter ihre rechte Schulter wies, fuhr sie fort: „Lassen Sie uns noch einmal anstoßen, immerhin werden Sie doch gleich da hinunterstürzen.“
Das ließ sich Hubert nicht zweimal sagen. Julia war eine Frau nach seinem Geschmack. Genau der Kumpel, mit dem ein Mann bis in die Hölle und zurück gehen würde. Mit einem zustimmenden Grunzlaut holte er aus der Brusttasche seiner Jacke einen Flachmann respektabler Größe. Er hob ihn triumphierend in die Luft, wobei er kräftig aufstieß.
„Tschuldigung“, murmelte Hubert mit deutlich belegter Zunge.
Misstrauisch beäugte Julia den Verschluss der Flasche, welcher zugleich als Trinkgefäß vorgesehen war. In vermutlich reichlich gebrauchtem Zustand wackelte das Objekt vor ihrem Gesicht hin und her.
Unverzüglich schenkte Hubert ein, wobei er einen erheblichen Teil des Getränkes auf Julias Hose verschüttete. Dazu lallte er: „Wissen Sie, was mir gerade auffällt?“
„Nein, was denn?“
„Wir kennen uns nun schon seit einer halben Ewigkeit. Zumindest kommt es mir so vor. Und wir sind immer noch per Sie. Ich finde, wir sollten per Du miteinander sein. Ich trinke nicht gerne mit Leuten, die ich mit Sie anreden muss.“
„Aber natürlich“, sagte Julia und leerte das Glas todesmutig in einem Zug. Brrr – es schüttelte sie förmlich. Für Sekunden verlegte es ihr den Atem. Als sie wieder zu sprechen imstande war, wollte sie wissen: „Was ist das für ein Fusel, Hubert?“
„Wie bitte, Fusel? Ha! Vogelbeerschnaps vom Feinsten.“
Wie zufällig verirrte sich die rechte Hand Huberts in Julias Ausschnitt. Patsch! Julia klopfte ihm auf die Finger. Nana, soweit ging die frisch begossene Freundschaft nun auch wieder nicht. Nach dem nächsten Schluck schlief Hubert ein.
 
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