Ein Experiment: 3 Tage Schweigen

wolkenflug

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Ich habe mir vorgenommen, drei Tage schweigend zu verbringen. Eine Erfahrung, die ich mindestens genauso spannend finde, wie die Erfahrung drei Tage lang blind zu sein, oder einige Wochen enthaltsam zu leben. Wie geht es mir damit? Wie verhalte ich mich? Was verändert sich? Wie verhält sich das Umfeld? Ich bin gespannt!
Zur Information: Ich bin Mutter von drei Kindern im Alter von 13 Jahren, 11 Jahren und 9 Monaten, verheiratet und lebe mit meiner Familie im eigenen Haus in einem Dorf in Niederösterreich.

Erster Tag:


Schon gestern haben mein Mann und ich Abschied genommen von meiner Stimme.
Es begann abends, als mir klar wurde, dass ich drei Tage lang ihm nicht werde sagen können, dass ich ihn liebe… Mein Mann meinte dann nachts: „Ich bin traurig, wenn ich daran denke, dass du drei Tage nicht mit mir sprechen wirst!“ - und auch für mich ist es ein Gefühl, als würde ein Teil von mir fortgehen…
Zudem ich beschlossen hatte, auch im Internet nicht zu kommunizieren, und mich auch auf keine andere Weise (Zettel und Stifte sind tabu für mich in diesen drei Tagen) auszutauschen.

Heute Morgen dann, als der Wecker läutet und mein Mann aufwacht, fährt er mir unabsichtlich mit einem Finger ins Auge und ich sage reflexartig „…geh!“
(Das war mein erstes Wort heute. *lach* )
Dann verabschieden wir uns wortlos, umarmen uns, und er fährt zur Arbeit.
Eine Stunde später muss ich meinen älteren Sohn wecken, und schüttle ihn sanft, ohne „Guten Morgen- Aufstehen !“- zu sagen… Er weiß Bescheid, wir haben ihm alles erklärt, und er wird es heute meiner Tochter erklären, die über`s Wochenende bei einer Freundin war und noch nichts davon wei߅
Als mein Sohn dann kurz bevor der Schulbus kommt zu trödeln beginnt, platze ich fast und möchte ihn am liebsten mit kaltem Wasser überschütten- sagen darf ich ja nichts…Ich fuchtle mit den Armen und er macht schneller…

Ich überlege, dass ich ja nicht mal ins Dorf gehen kann, weil Gefahr besteht dass mir jemand begegnet, und da kann ich schließlich nicht wortlos vorbeigehen ohne zu grüssen…
Also auf Einkauf muss ich drei Tage lang wohl verzichten… Ebenso auf Telefonate… Ich hoffe, dass niemand anruft… Sicherheitshalber sperre ich die Haustüre zu, damit niemand mich besuchen kommen kann…
Es wird außerdem schwierig für mich, nicht auf Mails oder Forumseinträge zu antworten. Lesen darf ich sie ja, aber keine Antwort geben…
Auch singen darf ich nicht in dieser Zeit, oder Selbstgespräche führen, was ich sonst oft mal mache…

Mein Kleiner bemerkte dann wohl auch, dass etwas anders war heute Morgen…
Nachdem er weinend aufwachte, nahm ich ihn auf den Arm und stellte fest, dass er ganz leicht zu beruhigen war auch ohne Geräusche oder Worte, einfach nur, indem ich ihn an mich drückte, und meine Nase in seiner Halsbeuge vergrub und mein Atem ihn berührte…
Während er dann sein Fläschchen trank schaute er mich groß an und setzte immer wieder aus mit dem trinken, um mir zu sagen „EH!“ – und wenn ich darauf nicht reagierte, sagte er wieder (lauter) „EH!!“
Ich musste schmunzeln. Er versuchte tatsächlich, mich zum reden zu bewegen!
Ich schaffte es, trotzdem keinen Mucks von mir zu geben… Also schlief er danach wieder ein.

Nachmittags rutscht mir dann ein Satz heraus, mein Sohn krabbelt herum und scheint plötzlich etwas im Mund zu haben, ich schau ihn an und sage: „Was machst Du denn da?“
Ich erschrecke selbst und bin sauer auf mich selbst, weil ich meinen Mund nicht halten konnte.

Einige Stunden später läutet es an der Tür, der Postbote der sonst sehr selten zum Haus rauf kommt steht draußen und will eine Unterschrift, ich habe einen Strafzettel bekommen für zu schnelles Fahren im Ortsgebiet.
Ich sage nur „Guten Tag“ und „Danke“- und schließe die Tür wieder.
Ich überlege bei mir, ob das Schweigen symbolisch mit dem „zu schnell“ vergleichbar ist.
Vor wenigen Tagen habe ich mich noch darüber beschwert, dass alles so schnell vorbei ist, Schwangerschaft, Geburt, Hochzeit, Hauskauf, alles verläuft so blitzartig, dass ein Gefühl bleibt, als hätte ich alles nur geträumt. Auch dieses Gefühl war ein Auslöser dafür, dass ich drei Tage schweigen wollte.
Hat die Langsamkeit etwas mit Stille und Ruhe zu tun?
Dann kommt meine Tochter nach Hause, wortlos umarme ich sie, ziehe sie zu ihrem Bruder ins Kinderzimmer, und er erklärt ihr alles.
Von da an ist es kein Problem mehr, die Kinder nehmen Rücksicht, sie versuchen mir von den Augen zu lesen was ich möchte, fragen nach, und ich brauche nur noch nicken oder den Kopf schütteln.
Einige Fragen muss ich wohl auf Donnerstag verschieben, ich weiß einfach nicht, wie ich sie ausdrücken soll ohne zu sprechen.
Aber ansonsten verläuft die Zeit ohne zu reden eigentlich ganz gut, es fehlt mir an nichts…
Meine Bekannten und Verwandten reagieren unterschiedlich, von „Viel Spaß!“ bis „Gute Erfahrungen“ bis hin zu „Schweigegelübde der Nonne Sonja – interessant“ ist alles dabei…

Abends: Boah, war das ein anstrengender Tag. Dauernd fragt mich irgendwer etwas und ich muss mit Zeichensprache antworten…
Zweimal ist mir heute aus Versehen was rausgerutscht, das hat mich geärgert… Sogar einkaufen waren wir in Waidhofen und ich kam mir ein wenig schäbig vor, weil ich die Dame an der Kasse nicht gegrüßt habe… Aber was täte denn ein stummer Mensch?
Mönche hatten es sicherlich einfacher… Die wurden nicht ständig angequatscht von irgendwem…
Ein Tag geht zu Ende und ich würde das Experiment am liebsten wieder abbrechen.




Zweiter Tag:
Ich wache mit leichten Halsschmerzen auf.
Halsschmerzen= Unausgesprochenes?
Morgens habe ich im Halbschlaf zu meinem Sohn „Tschüss“ gesagt als er zur Schule fuhr und sich verabschiedete. Tja… Wie schon gesagt. Ein Mönch in einer Zelle tut sich leichter…
Vieles ist einfach Gewohnheit und im Halbschlaf denke ich selten ans Schweigen…

Mittags kann ich der Versuchung nicht widerstehen und gehe raus vor`s Haus, lasse meinen Kleinsten zum ersten Mal im Sonnenschein in der Wiese herumkrabbeln, er bewundert das Gras, die vertrockneten Blätter des letzten Herbstes, ist fasziniert von diesem für ihn total neuartigen Untergrund, ich beobachte ihn schweigend, es ist wunderschön…
Plötzlich hinter mir ein fröhliches: „Hallo Sonja! Na, wie geht`s euch denn? Kann er schon laufen?“- eine Tante die ich nur sehr selten sehe, zufällig fuhr sie gerade mit dem Rad vorbei, sie machte mit ihrem Mann einen Ausflug… öhm… *seufz* es klappt einfach nicht… Ich rede eine Weile mit ihr, dann fährt sie weiter…
Ich beschließe, das Experiment abzubrechen, nachdem ich heute auch mit meinem Kleinen schon aus versehen zweimal geredet habe…
Vielleicht sollte ich die Übung nächstes Mal in einer abgesperrten Kammer machen.
Im Winter, wenn`s draußen ohnehin zu ungemütlich ist. Auf jeden Fall keine Menschen weit und breit.
Mein Mann wird sich freuen wenn er nach Hause kommt. Er fand es gestern schon sehr anstrengend mit mir.

Fazit:
Wenn ich nicht spreche, dann sehe ich den Menschen meiner Umgebung öfter in die Augen, ich suche Augenkontakt um mich zu verständigen, ich muss mich mehr bewegen, weil ich niemanden mehr rufen kann.
Es ist anstrengend, weil ich mich anders bemerkbar machen muss, man wird erfinderisch- zum Beispiel verwendete ich um die Kinder zu rufen eine Glocke die wir über der Wohnungstür haben.
In der Öffentlichkeit ist es für mich persönlich unrealisierbar, weil ich es nicht erklären kann für die anderen.
Einkaufen, Spazierengehen, alles wird zum Spießrutenlauf.
Reden ist Gewohnheit. Ich spreche oftmals ohne zu denken. Sage etwas, ohne es zu bemerken.
Besonders im Umgang mit den Kindern fällt es mir enorm schwer, nicht zu sprechen.
Um weiterhin einen Haushalt mit 5 Personen organisieren zu können muss ich mich irgendwie verständlich machen können. Zumindest mit Zettel und Stift, sodass ich aufschreiben kann, was gemacht werden muss.
Da meine Aktion ziemlich spontan entstand, konnte sich die Familie auch nicht gut vorbereiten darauf.
Mit meinem Mann alleine hätte es sicher einfach geklappt. Oder ganz alleine. (Da hätte ich ja auch keinen Grund zu sprechen)
Aber mit Baby und Kindern ist das extrem schwierig.

Trotz allem eine sehr interessante Erfahrung!






Alles Liebe, Wolkenflug
 
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Hallo Wolkenflug - danke für deinen Erfahrungsbericht - find ich schön - solche Experimente gefallen mir - kann ich mir gut vorstellen dass das schwierig war, vor allem in einem Umfeld in dem solch ein Verhalten total unüblich ist.

Ich hab mal ein paar Tage bei einem Meditationsseminar schweigend verbracht - alle die mitmachten schwiegen und es war faszinierend mit Menschen umzugehen, ohne zu sprechen, man merkt, wie der Körper und auch die Augen kommunizieren können - Gedankenlesen aufgrund verschiedenster Hinweise - und es war wunderbar sich nicht überlegen zu müssen, was ich mit diesen mir bis dahin unbekannten Personen reden könnte - und auch die Körperwahrnehmung wird stärker und bewusster.

Bei den Sannyasins war es übrigens üblich, sich ein Schild "silence" umzuhängen wenn man "in Stille" war.

LGInti
 
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Es soll Mönche geben, die schweigen das ganze Leben. Ich aber die haben natürlich keine Kinder. Oder Telefon.
 
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