Hier noch ein Auszug aus den Berzin-Archiven zum Unterschied zwischen Vipassana und Dzogchen (
Quelle):
Berzin schrieb:
Im Bereich des Theravada-Buddhismus bedeutet Vipassana- Meditation (tib. lhag-mthong, Skt. vipashyana), das Entstehen und Vergehen von Momenten des konzeptuellen Denkens festzustellen und zu beobachten, jedoch nicht durch die ‚Augen’ eines unabhängig existierenden ‚Ichs’ als dem Beobachter. Anhand dieses Vorgehens erkennen wir die Vergänglichkeit oder die flüchtige Natur konzeptueller Gedanken sowie geistiger Aktivität im Allgemeinen. Wir erkennen auch, dass geistige Aktivität auftritt, ohne dass ein unabhängiger Handelnder namens ‚Ich’ sie beobachtet oder geschehen lässt.
Im Gegensatz dazu konzentriert sich die Dzogchen-Meditation auf das gleichzeitige Entstehen, Verweilen und Vergehen der Momente konzeptuellen Denkens – es stellt sie nicht nur fest und beobachtet sie. Dies erlaubt uns, zuerst das strahlenden Rigpa zu erkennen – den Aspekt von Rigpa, der spontan das Auftreten von gleichzeitig entstehenden, verweilenden und vergehenden Gedanken hervorbringt. Als nächstes gestattet es uns, essentielles Rigpa zu erkennen – den Aspekt von Rigpa, der den wahrnehmenden Raum ausmacht, der jedem Moment geistiger Aktivität zugrunde liegt und der das spontane Auftreten gleichzeitig entstehender, verweilender und vergehender Gedanken ermöglicht.
Bis hier stimme ich mit Berzin überein, seine Schilderung entspricht meiner eigenen Erfahrung.
Berzin schrieb:
Darüber hinaus befasst sich Vipassana nur mit den gröberen Ebenen geistiger Aktivität, wohingegen Dzogchen Zugang zur subtilsten Ebene, Rigpa, hat.
Das hingegen halte ich für eine Behauptung, wie sie leider im Vajrayana immer wieder gefunden werden kann, welche ich so aus meiner Erfahrung nicht bestätigen kann. Vollständig falsch ist das aber wiederum auch nicht. Die Sache ist also kompliziert.
Das Problem ist, dass nicht genau definiert ist, was genau mit "gröberen" oder "subtileren" Ebenen des Geists gemeint ist. Zwischen der grundlegenden Erkenntnis von Anatta und Shunyata, welche durch beide Methoden erreichbar ist, gibt es meiner Erfahrung nach keinen Unterschied. Und kann es auch keinen geben.
Allerdings besitzt Dzogchen (wie auch Mahamudra) Techniken, welche die Eigenschaft des Geistes, Zeit und Raum hervorzubringen, auflösen. Vipassana besitzt diese nicht, was - zumindest glaube ich das - nicht heisst, dass sie nicht prinzipiell auch in diese Meditationstechnik aufgenommen werden könnten. Das Problem ist jedoch, dass es gewisse grundsätzliche philosophische Unterschiede zwischen der Therevada- und der Dzogchen-Schule gibt, die ich als unvereinbar einschätze. Aus Sicht der Therevada-Schule wird durch das Postulieren von Rigpa quasi ein "Selbst durch die Hintertür eingeführt". Aus Sicht der Dzogchen-Schule hingegen (an-) erkennt Therevada nicht, dass es einen Geist unterhalb von Sem (~ bewegter oder denkender Geist, Intellekt) gibt oder geben kann. Das heisst nicht, dass Vipassana während der Meditation keinen Zugriff auf diese Ebene hat oder haben könnte, es heisst aber, dass Vipassana dieser Ebene sozusagen keine Beachtung schenkt, weil sie anders interpretiert wird als beispielsweise im Dzogchen.
Mit anderen Worten: Der Vorwurf von der Dzogchen-Schule, Therevada würde sich nur mit den gröberen Geistesarten befassten, stimmt zwar womöglich aus ihrer eigenen Sichtweise. Also nur solange akzeptiert wurde, dass es diese noch subtileren Ebenen (Rigpa) überhaupt gibt. Wenn hingegen diese Prämisse nicht gegeben ist, wenn also die Möglichkeit einer Existenz von Rigpa verneint wird, und das ist letztlich (meiner Einschätzung nach) die Therevada-Position, dann wird dieser Vorwurf sinnlos. Aus Sicht von Therevada-Vipassana postuliert Dzogchen etwas Unhaltbares, und insofern ist der Vorwurf entkräftet.
Das Problem ist, dass keine der beiden Positionen durch die andere schlüssig widerlegt werden kann. Die meditativen Erfahrungen sind tatsächlich
pfadabhängig, das heisst, sie hängen davon ab, mit welchen theoretischen Prämissen man gestartet ist. Das ist ja eben gerade der Beitrag von Daniel Brown in dem Buch, von welchem ich schon viel gesprochen habe, also diese Erkenntnis.
Und wer das alles nicht versteht, dem sei vielleicht mit folgender Allegorie gedient.
Ein Mensch steht vor einem Fluss.
Die Anweisung im Therevada-Buddhismus lautet: Betrachte diesen Fluss.
Sei dir gewahr, dass der Fluss in jedem Moment ein anderer ist. Es gibt nirgendwo in diesem Fluss etwas, was unvergänglich, bleibend und beständig ist. Jede Welle ist eine andere. Der Mensch meditiert lange über diesen Sachverhalt und erkennt, dass es hier nirgendwo ein unveränderliches Selbst gibt, dass alles dauernd am Vergehen ist, und dass der Versuch, etwas festzuhalten, nur zu Leiden führt. Diese Position kann man (selbstverständlich nicht wertend) als nihilistisch bezeichnen.
Die Anweisung im Hinduismus lautet: Betrachte diesen Fluss.
Sei dir gewahr, dass der Fluss immer derselbe ist und bleibt, unabhängig davon, wieviel Wasser auch hinabfliest. Vielleicht schwimmen Äste oder Boote an dir vorbei, aber der Fluss ist immer derselbe. Es ist die Natur eines Flusses, dass Äste und Boote darin schwimmen. Der Fluss ist ewig und unvergänglich ein Fluss. Der Mensch meditiert lange über diesen Sachverhalt und erkennt, dass alle Ausdrucksformen, alle zeitlichen Qualitäten des Flusses nichts als der Fluss selbst sind, und zwar in seinen unzähligen Erscheinungsformen. Der Fluss selbst ist ewig, unveränderlich. Diese Position kann man (selbstverständlich nicht wertend) als eternalistisch bezeichnen.
Die Anweisung im Vajrayana-Buddhismus lautet: Betrachte diesen Fluss.
Sei dir gewahr, dass er in jedem Moment unzählige Erscheinungsformen annimmt. Ein Potential, das sich spontan in jedem Moment manifestiert. Wellen, Boote, Äste - all das sind die äusseren Erscheinungsformen desselben Flusses, also derselben "inneren Form des Flussseins". Der Mensch meditiert lange über diesen Sachverhalt und erkennt, dass der Fluss gewissermassen zwei Seiten hat: Ein leeres, reines Potential (im Dzogchen: khadag), alle Erscheinungsformen spontan hervorzubringen (im Dzogchen: lhundrup). Diese Position kann man (selbstverständlich nicht wertend) als mittlere Sichtweise bezeichnen.
(Man beachte, dass in diesem Kontext "mittlere Sichtweise" sich
nicht auf die traditionellen Termini bezieht, gemäss welchem der Buddhismus als "mittlerer Pfad" bezeichnet wird.)