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Die Geschichte vom Angstschreck - von Waltraud Bachmann
Prolog
"Willst du wirklich da runter? Jetzt schon?"
Julian blickt in fragende Gesichter rings um sich herum. Einige schauen etwas besorgt drein, andere blicken ihn aufmunternd und liebevoll an. Die kleine Himmelblau hat sich unter dem weiten, weißen Mantel von Gabriel versteckt und hält krampfhaft die Hand von Rosaleicht fest, die schon ein wenig älter ist und mehr davon versteht, was hier vor sich geht.
"Was dachtet ihr denn. Die Planungssitzung hat doch längst stattgefunden und die Vorbereitung hat lange genug gedauert. Außerdem hab ich mich in der letzten Phase im Service-Center ausgiebig erholt. Ihr wisst doch, wie wichtig es ist, dass ich gerade jetzt auf die Erde zurückkehre."
"Ein schwieriger Zeitpunkt" sagt einer der weiß Gewandeten und wiegt seinen Kopf hin und her. "Die meisten schlafen noch tief und fest."
"Gerade deshalb" meint Julian selbstbewusst. "Ich werde gebraucht."
"Wie mutig du bist" sagt einer der Jüngeren bewundernd. "Wenn du durch den Schleier gehst, wirst du genauso vergessen, wie alle anderen auch. Das war jedes Mal so."
"Oh ja, ich weiss. Aber ich arbeite mit daran, genau das zu ändern. Und außerdem kann mir ja nichts passieren. Dort unten, hinter dem Schleier, ist nichts wirklich real. Es ist ein Spiel, wie ihr wisst. Und mit euch bleibe ich immer verbunden, egal was passiert."
"Willst du wirklich wieder in diese Familie? Die ist besonders schwierig, das weißt du doch? Da haben im Moment einfach alle vergessen, wer sie sind. Und du nimmst auch all diese Energien mit aus den anderen Leben. Pass gut auf, welche davon du nähren wirst."
"Ja, das weiß ich natürlich. Aber da wartet ja schon eine Schwester auf mich. Sie hat gute Chancen, irgendwann aufzuwachen, das hatten wir doch vorher ausgemacht. Und da gibt es noch andere, mit denen ich verabredet bin. Wie sollen die denn ihre Aufgaben erledigen können, wenn ein Mitspieler fehlt."
"Du wirst dem Angstschreck wieder begegnen" flüstert Himmelblau und ihre Stimme zittert leicht.
"Ich werde ihn wieder neu erschaffen" lächelt Julian und beugt sich zu ihr hinunter. "Hab keine Angst, er ist nicht real. So wenig, wie ich das dort unten sein werde, auch wenn ich es dort nicht mehr weiß. Und ich nehme Vertraumir mit, vergiss das nicht."
Himmelblau lächelt erleichtert und reicht ihm verlegen die Hand. "Viel Glück, Julian. Bis bald."
Eine große, goldene Gestalt nimmt ihn in die Arme. "Mach's gut, mein Lieber. Wenn du gesprungen bist, wirst du nicht mehr wissen, dass ich der Teil von dir bin, der hier auf dich wartet und dass wir beide niemals getrennt sein werden."
Egal was deine Reise bringt, du kannst nichts falsch machen, denn es gibt kein richtig oder falsch. Alles ist im großen Plan. Dass du bereit bist, durch den Schleier zu gehen, verändert alles im Universum und wir werden dich mit Jubel empfangen, wenn du wieder zu uns zurückkehrst.
An eines solltest du dich aber doch erinnern, du machst diese Reise auch, um dich zu amüsieren. Es ist ein herrlicher Spielplatz, auf den du dich begibst. Das beste Ergebnis erzielst du dann, wenn du alles leicht nimmst und die Reise genießt. Du neigst ein wenig dazu, die Dinge gar zu verbissen anzugehen. Es kann dir nichts passieren, vergiss das nicht ganz."
"Ich werde versuchen, mich daran zu erinnern" sagt Julian mit einem letzten Blick auf seine große Familie, die sich zu seiner Abreise versammelt hat. "Bis bald."
Der Angstschreck
"Mal sehen" sagt der Angstschreck, horcht und grinst dann breit. "Hat alle Antennen ausgefahren, der Junge. Das geht schon seit heute morgen so. Alle 5 Minuten krieg ich mein Futter und heute sind ein paar ganz besondere Leckerbissen darunter."
Lässig lehnt er sich zurück und flüstert:" Hey, Julian, hast du schon mitgekriegt, dass es wieder Anschläge gegeben hat? Und genau dahin willst du jetzt fahren? Was da so alles passieren kann, schon daran gedacht?
Ja, ja, so ist's gut. Warte mal einen Moment, das ist ein besonders günstiger Augenblick, wie ich sehe, da zwick ich dich schnell noch mal in den Bauch. Schon gemerkt? Denk daran, könnte ja auch was Ernstes sein."
Genussvoll verschlingt er den großen Happen Energie, der ihm bereitwillig gereicht wird.
"Hey, du hast ja schon eine richtige Wampe, ich will auch was ab haben" zetert Fürchtegott und richtet sich auf. "Kommt nicht in Frage, dass du dich alleine am Futtertrog bedienst. Du bist fett genug, weisst du?"
Ein verächtlicher Blick wandert zu Vertraumir, die ruhig in ihrer Ecke sitzt. "Eine himmelschreiende Ungerechtigkeit ist das, nur weil du nicht von diesem Planeten stammst. Es ist verdammt harte Arbeit hier unten, über die Runden zu kommen."
"Was meinst du?" fragt Schuldig verdattert.
"Na du Dussel, die hängt doch am Tropf bei der Quelle direkt. Braucht ihn nicht mal, um gefüttert zu werden."
"Hatte ich doch glatt für einen Moment vergessen. Ha, aber dafür kann sie lange warten, bis er sie wahrnimmt."
"Hat er doch schon, das ist ja das verdammte Unglück mit dieser blöden, dickschädeligen Schwester. Wacht doch glatt im ungünstigsten Moment auf und fängt an, sich zu erinnern. Fehlt bloß noch, dass er die direkte Standleitung nach oben entdeckt und alle anderen auch noch sieht. Der ganze Haufen wartet doch nur darauf, ob er es diesmal endgültig schafft."
"Na, da kannst du lange warten. So schnell geht das nicht."
"Ich hab schon Pferde kotzen sehen" grummelt der Angstschreck und schüttelt sich. "Man hat mir erzählt, dass das auch ganz schnell gehen kann. Und die kriegen jetzt immer mehr Hilfe. Schwierige Zeiten sind das, sag ich dir. Mensch Fürchtegott, da hast du es vielleicht gut im Moment. Deine Miniversion bläst gerade zum Marsch auf München. Ich hab gehört, die versiegeln sogar die Gullydeckel in der Stadt für ihn."
Fürchtegott richtet sich zu voller Größe auf und blickt stolz auf seine prächtige Verkleidung herab. Das schwere, goldene Kreuz baumelt zwischen seinen Beinen und zieht seinen dicken Hals nach unten.
"Jaaaa" stöhnt er lustvoll. "Hast du schon mitgekriegt, dass die mein Konterfei auf Kerzen verkaufen? Und sogar auf Bierdeckeln? Machen ne Menge Knete damit. Und Straßen werden schon nach mir umbenannt. Das wird das größte Festival aller Zeiten. Wer hätte das gedacht. Ein echtes Revival. Die guten alten Zeiten kommen wieder. Die Groupies werden auch immer mehr."
"Ja, ja, sag ich doch, du hast es gut."
"Na du etwa nicht? Heute schon die Nachrichten gesehen? Und die Schlagzeilen? Unser lieber Ernährer tut ja was er kann. Und das gleiche tun doch alle anderen auch. Schon mal dein Ohr in das Massenbewusstsein gehängt in letzter Zeit? Mmmmmh - das duftet sag ich dir, wenn du auch noch deine Nase reinsteckst."
"Ja" grunzt der Angstschreck, "manchmal muss man gar nicht viel dafür tun. Wir lassen machen, das geht ganz von alleine, sag ich immer. So, aber jetzt muss ich trotzdem sicherheitshalber mal wieder ran."
Er horcht kurz und grinst dann, steht auf und plustert sich mächtig auf. Dann dreht er sich um und zieht ein ellenlanges, riesiges Kostüm aus der Ecke und stülpt es sich über den Kopf.
"Na, wie seh ich aus?"
"Boah", da könnte ja sogar ich erschrecken. Super Verkleidung mein Lieber. Das Dämonkostüm hast du schon lange nicht mehr getragen."
"Ja, Zeit, mal wieder die schweren Geschütze aufzufahren. Er steht vor einer schwierigen Situation wie du weißt und da kann es nicht schaden, wenn ich ein bisschen mehr nachhelfe als sonst."
"Pass bloß auf, dass er nicht eines Tages deinen Rock hebt und sieht, dass da drunter nur heiße Luft ist."
"Ne, ne, das traut der sich nicht. Ist noch viel zu beschäftigt mit den ganzen Phantomen, die ich ihm immer wieder gezeigt habe. Die Rille auf seiner Festplatte ist so breit und ausgefahren, dass er da immer wieder rein rutscht. Da müsste er ja erst mal auf die Idee kommen, eine neue anzulegen. Und bis die dann mal breit genug ist..... Ne, ne, auch wenn er schon ein paar zaghafte Versuche gemacht hat, die ist noch nicht mal ein kleiner Kratzer bis jetzt."
Aber ein wenig besorgt schaut er jetzt doch drein.
"Die Schwester" grummelt er vor sich hin. "Muss die als einzige in dieser Familie so aus der Art schlagen! Hat ihre eigene Standleitung nach oben inzwischen und benutzt die auch noch ständig. Und dann gleich nach ganz oben! Verbündet sich mit dem NET, dieses Biest! Schon was von neuer Energie gehört? Na Mahlzeit, so was vertragen wir doch überhaupt nicht. Bin letzthin fast daran erstickt, als ich nicht aufgepasst habe. Verbreitet sich wie die Pest, wenn es mal angefangen hat."
"Ja, schöner Mist. Und dann dieses Einheits-Gesülze. Familientreffen - nicht zu fassen. Und das von hier unten! Wartet nicht mal anstandshalber, bis sie wieder nach Hause kommt. Hat doch glatt herausgefunden, dass sie selbst das Ganze inszeniert hat. Hab gehört, dass sie jetzt sogar unter die Springer gegangen ist. Die ist echt gefährlich, sag ich dir. "
"Nur gut, dass sich das jeder selbst erarbeiten muss. Muss ja erst mal einer glauben, was die so erzählt. Glaubst du das etwa?"
Langer Seufzer in der Runde.
"Na, dann mal wieder ran an die Arbeit. Bin schon ganz schön vom Fleisch gefallen. Schaut bloß, da hab ich glatt ne richtige Energie-Delle am Bauch. Das kommt davon, wenn man mit euch so lange quasselt."
"So, da wollen wir mal die lineare Zeitschiene auflegen und Julian daran erinnern, dass es heute zwar ganz gut für ihn aussieht, dass sich das aber morgen schon ganz schnell ändern kann. Was da alles passieren kann, nicht auszudenken, ha! "
"Wie soll man sich denn noch sicher fühlen, wenn er etwa damit anfängt, sich selbst sicher zu fühlen?" Ein scheeler Blick gleitet zu Vertraumir, die leise vor sich hin lächelt.
"Hey" schreit Schuldig," lach bloß nicht zu früh. Selbst wenn er dich wirklich entdecken sollte, dann komm erst ich mal ins Spiel. Er wird sich winden, wenn er sieht, dass er dich fast verhungern ließ und uns stattdessen dick und fett gefüttert hat."
"Sie braucht das doch nicht, hängt doch am Tropf" knurrt der Angstschreck.
"Weiß er doch nicht" brummelt Schuldig." Wenn das passiert, schick ich ihm wieder die Sühne auf den Hals. Hat bisher immer wunderbar funktioniert."
Vertraumir blickt ihm direkt in die Augen, was ihn leicht blinzeln lässt. "Und was machst du, wenn er aufhört zu kämpfen? Wenn er die Kontrolle loslässt? Oder noch besser, wenn er sich erinnert, dass das Ganze nur ein Spiel ist?"
"Komm uns bloß nicht mit der Tour" Alle blicken total verschreckt in ihre Richtung.
"Solange er seine Antennen in die richtige Richtung hält, ist da keine Gefahr."
"Ach - du fühlst dich in Gefahr? Sehr interessant" lächelt Vertraumir. "Hast du schon mal darüber nachgedacht, wovor du dich fürchtest?"
"Wer, ich? Ich und Angst?" keift der Angstschreck wütend zurück. "Das ist doch meine Aufgabe, die zu schüren. Schließlich bin ich Spezialist darin."
"Ja, das stimmt, aber du brauchst dazu Energie von ihm, die du ihm vorher stehlen musst, und die er dir dann wieder wegnimmt, wenn es ihm mal gut geht. Schönes Spiel, das ihr da macht. Vielleicht wird es ihm ja irgendwann mal langweilig?"
"Gut, dass du mich daran erinnerst. An die Arbeit. Der Augenblick ist günstig. Ist völlig überlastet, der alte Knabe. Sieht nicht, dass das alles nur ein Bild in seinem Kopf ist. Hält das für Realität und hat wieder mal keine Ahnung, dass er Einfluss darauf hat. Und so richtig wütend ist er jetzt auch noch."
"Wütend?" fragt Schuldig interessiert. "Hey, das hab ich ja gestern gut hingekriegt. Hab ihm ins Ohr geflüstert, dass er sich das auf keinen Fall erlauben darf. "
"Ja" tönt die begeisterte Stimme vom Angstschreck. "Hab ihm ins andere Ohr geblasen, dass ihm das dann richtig schadet."
"Seelisch" schreit Schuldig.
"Körperlich" jubelt der Angstschreck.
"Wird ihn so richtig in die Zwickmühle bringen! Ping, pong" übertönt ihn Fürchtegott.
"Was für eine wunderbare Angriffsfläche" flüstert der Angstschreck ergriffen. "Da brauchen wir niemanden mehr zur Unterstützung zu holen. Für heute ist die Sache gebongt."
"Lass ihn bloß nicht zur Ruhe kommen" mahnt Schuldig.
"Schon vergessen, dass er das alles ganz alleine inszeniert?" kommt die leise, ruhige Stimme von Vertraumir aus dem Hintergrund.
Verdutztes Schweigen breitet sich in der Runde aus.
"Was willst du denn damit wieder sagen?"
Vertraumir lächelt nur leise. "Abwarten, ihr Lieben, wartet einfach ab."