Ich liebe alle Frauen!
"Sag mir, Clodius", sprach er endlich, "hast du je geliebt?"
"Ja, oft genug."
"Wer oft geliebt, hat nie geliebt. Es gibt bloß einen einzigen Eros, wenngleich viele Abbilder von ihm."
"Im ganzen sind die Abbilder eben keine schlechten Götterchen."
"Darin bin ich mit dir einverstanden; ich verehre selbst den Schatten der Liebe, aber noch höher verehre ich sie selbst."
"Bist du denn in einer ernstlichen Liebe begriffen? Hast du das gefühl, worüber wir die Gastmähler versäumen, dem Theater abschwören und Elegien schreiben?"
"So weit ist es mit mir noch nicht gekommen", erwiderte Glaucus lächelnd, "in der tat bin ich nicht verliebt; aber ich könnte es sein, wenn ich nur Gelegenheit hätte, den gegenstand meiner Liebe zu sehen. Eros möchte seine Fackel anzünden, aber die Priester haben kein Öl gegeben."
"Soll ich den Gegenstand erraten? - ist es nicht Diomeds Tochter? Sie betet dich an und läßt sich's nicht sonderlich angelegen sein, es zu verbergen. Und beim Herkules! Ich komme wieder darauf zurück: sie ist so reich wie schön."
"Nein, ich habe nicht Lust, mich zu verkaufen. Diomeds Tochter ist schön, ich gebe es zu, und einmal hätte ich vielleicht..., doch nein, sie trägt alle Schönheit im Gesicht; ihr Benehmen ist nicht mädchenhaft und ihr Geist kennt keine Verfeinerung als die des Vergnügens."
"Du bist undankbar. Aber sage mir endlich, wer ist das beglückte Wesen?"
"Höre mir zu, Clodius! Vor mehreren Monaten hielt ich mich in Neapolis auf, einer Stadt ganz nach meinem Herzen, denn sie behält noch immer Wesen und Gepräge ihres griechischen Ursprungs bei. Eines Tages trat ich den Tempel der Minerva. Das Haus war menschenleer und öde. Erinnerungen an Athen drängten sich mir auf und versetzten mich in eine weiche Stimmung. Noch immer glaubte ich allein zu sein und versank in den Ernst meiner Andacht. Mitten im Beten wurde ich jedoch von einem Seufzen aufgeschreckt. Schnell wandte ich mich um - hart hinter mir kniete ein Mädchen. Sie hatte im gebete den Schleier zurückgeschlagen, und als sich unsere Augen begegneten , war mir's, als träfe aus diesem dunklen Glänzen plötzlich ein heller Strahl in mein Herz. Nie, Clodius, sah ich ein herrlicher geformtes Menschengesicht. Eine gewisse Schwermut sänftigte und erhob seinen Ausdruck im nämlichen Augenblick; jenes mit Worten nicht auszudrückende Etwas, jenes Erlebnis der Seele, das unsere Bildhauer in das Antlitz der Psyche legten, gab ihrer Schönheit einen unnennbaren Zug von Göttlichkeit und Adel. Augenblicklich erkannte ich, daß auch sie athenischer Abkunft war. Mit unsicherer Stimme redete ich sie an. 'Bist du nicht eine Athenerin?' fragte ich sie. Sie errötete bei dem Ton und zog den Schleier halb über das Gesicht. 'Die Asche meiner Väter', sprach sie, 'ruht an den Wassern des Ilissus; mein Geburtsort ist Neapolis, aber mein Herz wie meine Abkunft ist athenisch.' 'So laß uns', erwiderte ich, ' unsere Opfer miteinander darbringen.' Und als der Priester erschien, standen wir Seite an Seite und sprachen ihm das übliche Gebet nach; zusammen berührten wir die Knie der Göttin - zusammen legten wir hernach unsere Kränze auf den Altar.
Ein seltsames Gefühl erfürchtiger Zärtlichkeit erfaßte mich bei diesem gemeinsamen Tun. Fremde aus einem fernen Land, standen wir in diesem Tempel unserer heimischen Gottheit beisammen und allein; war's nicht natürlich, das sich ihr mein herz hinneigte? Es war mir, als kenne ich sie schon seit Jahren. der einfache Gottesdienst schien wie durch ein Wunder die Sympathie und Bande der Zeit ersetzt zu haben. Schweigend verließen wir den Tempel, und eben wollte ich fragen, wo sie wohne und ob ich sie besuchen dürfe, als ein auf den Stufen des Heiligtums stehender Jüngling, dessen Züge einige Familienähnlichkeit mit den ihrigen hatten, sie bei der hand nahm. Sie wandte sich um und bot mir Lebewohl. Die Menge trennte uns, ich sah sie nicht wieder. In meiner Wohnung angelangt, fand ich Briefe vor, die mich zur Abreise nach Athen nötigten. Nachdem meine Angelegenheiten dort glücklich erledigt waren, kehrte ich nach Neapolis zurück. Ich stellte Forschungen in der ganzen Stadt an, vermochte aber keine Spur meiner verlorenen Freundin zu entdecken, und in der Hoffnung, in einem fröhlichen Leben jedes Andenken an die schöne Erinnerung zu verlieren, eilte ich, mich in die Schwelgerein Pompejis zu stürzen. Dies ist meine ganze Geschichte. Ich liebe nicht. Aber ich trage die Erinnerung und die Sehnsucht in mir."
"Die letzten tage von Pompeyi" , Edward Lytton-Bulwer