Alle sind mit allen verbunden!
Systemisches Denken und systemische Therapie sind kein Modetrend. Schon Virginia Satir erkannte die systemischen Zusammenhänge in der Familie und ihre Bedeutung für die Gesundheit in diesem System. Ein Bericht von Johannes Steilmann
Die familientherapeutische Richtung, die sich weltweit am schnellsten ausbreitet, ist die Systemische Familientherapie nach Bert Hellinger, meist einfach Familienaufstellung oder Familienstellen genannt. Inzwischen gibt es eine große Anzahl von Büchern und viele andere Veröffentlichungen, die teilweise in über 20 Sprachen übersetzt wurden.
Jeder, der einmal eine Familienaufstellung bei einem erfahrenen Aufsteller erlebt hat, kann diesen Erfolg sofort verstehen. Die Wirksamkeit und Lösungskraft ist für alle Beteiligten, ob sie nun als aktive Beobachter oder als Aufsteller teilnehmen, oftmals in verblüffend klarer Weise sichtbar. Probleme die monatelang, jahrelang, manchmal Jahrzehnte quälend spürbar waren, fallen einfach ab oder verblassen in der Zeit nach der Aufstellung immer mehr.
Das Familienstellen nach Bert Hellinger möchte ich als eine Kombination aus lösungsorientierter Kurzzeittherapie und einer neuen Form lebendiger systemischer Therapie des Familiensystems beschreiben. Eine Familienaufstellung wirkt besonders gut, je klarer und einfacher die Aufstellung abläuft. Die Kraft einfacher Lösungssätze verstärkt diese Wirkung. Das systemische Familienstellen geht davon aus, dass in einer Familie alle mit allen verbunden sind. Die Heutigen und die Früheren, die, die wir kennen und die, die wir nicht kennen, die Anerkannten und die Ausgeschlossenen, die Täter und die Opfer, sie alle sind mit uns verbunden. Alle können Auswirkungen auf unser Lebensglück und das unserer Kinder und unserer Enkel haben.
Schon Aristoteles spricht über die Ganzheit. Im asiatischen Raum ist das Yin -Yang Prinzip seit Tausenden Jahren bekannt. Alles ist das Ganze. Die Teile gehören zusammen und sind verbunden. So wie alle einzelnen Mitglieder der Familie, die ein gemeinsames Ganzes bilden. Systemisches Denken und systemische Therapie sind also kein Modetrend.
Eine der wichtigsten Wurzeln für alle therapeutischen Schulen legte Sigmund Freud mit seiner Psychoanalyse. Seine Erkenntnisse wurden weitergeführt von seinen bekannten Schülern, von denen vor allem Alfred Adler bereits früh das Streben des Menschen zur Gemeinschaft erkannte und das damit verbundene Gemeinschaftsgefühl als wichtig für unsere Handlungsimpulse formulierte.
Weitere Wurzeln sind der Systemischen Familientherapie aus der Arbeit von Virginia Satir gewachsen. Diese begann 1952 aus den Einzelsitzungen heraus mit Familien zu experimentieren. Sie war eine der ersten Therapeuten, die die systemischen Zusammenhänge in der Familie und ihre Bedeutung für die Gesundheit aller in diesem System erkannte. Alle sind mit allen verbunden, sagte sie. Viele Probleme entstehen aus diesen Verbindungen. Mit diesem systemischen Denken hat sie ihre in der ganzen Welt anerkannte Familientherapie entwickelt. In einem ihrer eindrucksvollen Experimente verband sie Familienmitglieder einer Familie mit verschieden langen Seilen. Jeder spürte und erlebte plötzlich, wie alle mit allen verbunden sind und was es bedeutet, wenn einer seine Position verändert. Virginia Satir entwickelte mit ihren Familienrekonstruktionen und den Familienskulpturen Vorformen der heutigen Familienaufstellungen.
Auch der Arzt und Psychiater Ivan Boszormenyi-Nagy lieferte mit seiner über viele Jahrzehnte laufenden klinischen Forschungsarbeit wichtige Grundlagen für heutige systemische Familientherapie und speziell für das Familienstellen. In seinem Buch Unsichtbare Bindungen (Klett-Cotta) beschreibt er diese Erfahrungen und weist nach, wie Schicksale Früherer noch über viele Generationen unser Lebensglück und das unserer Kinder beeinflussen können, so lange alte, oft unbewusste Schuld nicht ausgeglichen ist.
Die Erkenntnisse des Arztes und Psychiaters Jacob L. Moreno sind für die Systemische Familientherapie ebenfalls bedeutsam. Bereits seit 1930 befasste er sich intensiv mit dem Messen der Beziehungen innerhalb einer Gruppe. Nach 1945 entwickelte er die Gruppenpsychotherapie, ein erster Ansatz des systemischen therapeutischen Vorgehens. Die Methode ist als Psychodrama bekannt und genießt weltweite Anerkennung. Dabei entwirft der Klient seine persönliche Welt, die dann durch Gruppenteilnehmer gespielt wird.
Einen weiteren Beitrag für die heutige systemische Therapielandschaft haben die Gestalttheorie und die von Lore und Fritz Perls entwickelte Gestalttherapie geleistet. Bei der Gestalttherapie, die im engeren Sinne ja keine Systemtherapie ist, wurde bereits früh mit Aufstellungen gearbeitet, indem Stühle oder Kissen stellvertretend für bestimmte Aspekte aufgestellt wurden.
Auch viele andere Forscher und Therapeuten vor Bert Hellinger haben sich mit der Entwicklung der Systemischen Familientherapie befasst. Besonders erwähnt werden müssen Helm Stierlin mit seinem Konzept der Individuation sowie einige Urväter der Systemtheorie wie Bartanlanffy, Piaget, Bateson und Norbert Wiener, der Vater der Kybernetik.
Obwohl vielerorts schon Familienaufstellungen angeboten werden, steht die große Verbreitung und weltweite Durchsetzung in den Bereichen Familiensystemtherapie, Systemische Beratung, Coaching und in der Pädagogik durch gut ausgebildete Systemtherapeuten/Familienaufsteller noch bevor. Selbst wenn ich die Überzeugung vertrete, dass das Familienstellen erst mitten in der ersten Phase der Verbreitung ist, möchte ich hier neuere Entwicklungen nennen, die das Familienstellen erweitern und teilweise darüber hinausgehen.
Zunächst hat Bert Hellinger selbst erst vor kurzem die Bewegungen der Seele vorgestellt. Von dieser Aufstellungsform sagt er, dass es etwas ganz anderes sei als die Familienaufstellungen. Erfahrene Systemtherapeuten ergänzen bereits heute die Familienaufstellungen um diese Aufstellungsvariante, bei der die Seele sich den gemäßen Platz sucht, ohne Anweisung des Aufstellungsleiters.
Für den Management- und Coachingbereich haben vor allem Gunthard Weber und Matthias Varga von Kibed aus den Familienaufstellungen die Organisationsaufstellungen entwickelt. Mit dieser Aufstellungsart können Konflikte in Organisationseinheiten beispielsweise in therapeutischen Praxen, Kliniken, sozialen Organisationen, Schulen und Unternehmen gelöst werden.
Die neuesten Formen der systemischen Aufstellungsarbeit wurden in den letzten Jahren von Insa Sparrer und ihrem Mann Matthias Varga von Kibed entwickelt.