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Aus dem Brockhaus Naturwissenschaft und Technik 2003.
Zeit
Obwohl der Begriff der Zeit uns sehr vertraut ist als die nicht umkehrbare, nicht wiederholbare Abfolge des Geschehens, die als Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft am Entstehen und Vergehen der Dinge erlebt wird, scheint es nicht möglich zu sein, die Zeitlichkeit der Natur mittels Theorien auf fundamentalere Eigenschaften zurückzuführen. Die Eigenschaften der Zeit lassen sich beschreiben, aber die Zeit kann nicht erklärt werden. Nach A.Einsteins Relativitätstheorie ist die Zeit eine von dem umfassenderen Begriff der Raum-Zeit künstlich abgespaltene Dimension. Dennoch besitzt die Zeit eigenständige Qualitäten, die sie vom Raum wesentlich unterscheiden. Vom objektiven Verlauf zeitl. Geschehens, das durch menschl. Zeiteinteilung und Zeitmessung in Perioden von Bruchteilen von Sekunden bis zu Jahren gegliedert sein kann, hebt sich das subjektiv unterschiedl. Erleben zeitl. Geschehens ab. In den Naturwissenschaften ist die Zeit eine der Basisgrößen des Internat. Einheitensystems; SI-Einheit ist die Sekunde. Die Geschichtswissenschaft beschäftigt sich v.a. mit linear gerichteter Zeit, wohingegen z.B. in Geologie, Meteorologie und Biologie rhythm. und zykl. Prozesse (z.B. Kreislauf des Wassers; Blutkreislauf) eine große Rolle spielen. Mit einer wachsenden wiss. Erforschung der Entwicklungsprozesse des Lebendigen geht eine Differenzierung der Strukturen der Zeit als spezif. Systemzeit einher. Individuen durchlaufen biografische Entwicklungsphasen, soziale Gruppen besitzen eine Geschichte, der Stammbaum des Organischen erfährt eine Evolution.
In der Philosophie finden sich die ältesten Überlegungen zur Natur der Zeit bei den Griechen, als Gegenüberstellung von dem unveränderl., ewigen Sein (Parmenides) und dem Werden, dem Wandel als Grundzug der Erscheinungen (Heraklit). Platon gab einen Hinweis, dass der Ursprung der Zeit mit der Struktur des Kosmos zusammenhängt (in »Timaios«). Aristoteles erkannte die Abhängigkeit von Zeit und Bewegung; Zeit kann nicht von den Prozessen der Welt getrennt verstanden werden. Dagegen sah I.Kant (um 1800) in der Zeit eine reine Anschauungsform, eine vor aller Erfahrung (a priori) liegende formale Bedingung aller Erscheinungen. Das Verhältnis von objektiver und erlebter Zeit wurde u.a. von E.Husserl und H.Bergson behandelt; Letzterer erklärte die erlebte Zeit als urspr. und schöpferisch, die objektive Zeit dagegen als Konstruktion des Verstandes unter dem Gesichtspunkt des Raumes.
Zeit in der klassischen Mechanik
In der Neuzeit entspann sich die Debatte v.a. um den ontolog. Status, d.h. die Existenzweise der Zeit. Nach I.Newton ist die Zeit eine starre universelle Größe, die unabhängig von allem physikal. Geschehen existiert: »Die absolute, wahre und mathemat. Zeit fließt an sich und vermöge ihrer Natur gleichförmig und ohne Beziehung auf irgendeinen äußeren Gegenstand. Sie wird mit dem Namen: Dauer belegt.« Damit spielt Zeit eine passiv-absolute Rolle, sie wird nicht durch die Materie und deren Bewegung beeinflusst. Zus. mit dem absoluten Raum stellt sie in der klass. Mechanik als absolute Raum-Zeit die statische kosm. Arena für den Ablauf der Naturprozesse dar. An dem Absolutheitscharakter der Zeit übte dann G.W. Leibniz Kritik, da ein solcher Zeitbegriff gegen den Satz vom zureichenden Grund und gegen das Prinzip von der Identität des Ununterscheidbaren verstößt. Leibniz argumentierte dafür, nur die Ordnung der Ereignisse als real zu betrachten. Der Unterschied zw. der absoluten und der relationalen Zeitauffassung lässt sich auf die einfache Form bringen: Nach Newton hat das Universum eine Uhr, nach Leibniz ist es eine.
Auf der Basis der klass. Physik versuchte I.Kant die grundlegende Frage zu beantworten, warum uns überhaupt alles Reale in Raum und Zeit erscheint. Seine Antwort darauf war, dass Zeit ebenso wie Raum aprior. Anschauungsformen darstellen, die Erfahrungserkenntnis erst möglich machen: »Die Zeit ist nicht etwas Objektives und Reales, weder eine Substanz noch ein Akzidens, noch eine Relation, sondern eine subjektive, durch die Natur des Geistes notwendige Bedingung, beliebige Sinnendinge nach einem bestimmten Gesetze miteinander zusammenzuordnen, und eine reine Anschauung.« Nach heutiger Auffassung hat Kant damit nur die Bedingung der Möglichkeit empir. Erkenntnis getroffen, die Reichweite der theoret. Erkenntnis jedoch unterschätzt.
Die absolute Zeit der klass. Mechanik wurde bereits aus begriffl. Gründen von Philosophen wie G.Berkeley und E.Mach kritisiert: Sie ist empirisch unfassbar, denn wir arbeiten immer nur mit relativen Zeiten, z.B. mit einer Uhr, einem beobachtbaren period. Vorgang, der als Zeitmessgerät eingesetzt werden kann. Nach Mach sollten alle absoluten Begriffe, weil metaphysisch und unkontrollierbar, aus der Physik verschwinden. Die Eliminierung der absoluten Zeit wurde dann in der speziellen Relativitätstheorie (1905) von A.Einstein realisiert.
Zeit in der Relativitätstheorie
Die spezielle Relativitätstheorie besagt, dass die Zeitkoordinate beim Übergang von einem Inertialsystem zu einem anderen transformiert wird. An die Stelle einer in allen Systemen gleichen (absoluten) Zeit treten jeweils unterschiedliche spezielle Systemzeiten: Jedes physikal. System, das sich relativ zu einem anderen bewegt, hat seine eigene Zeit. Der Gang der Uhren in versch. Bezugssystemen wird durch die Lorentz-Transformation umgerechnet. Es lässt sich somit immer exakt angeben, wie schnell ein Prozess in einem bewegten Nachbarsystem abläuft. Diese Relativität der Zeit ist eine objektive Eigenschaft, sie drückt zwar die Systemabhängigkeit der Zeit aus, hat aber nichts mit der Subjektivität eines Beobachters zu tun. Aus der Systemabhängigkeit der Zeit folgt die Relativität der Gleichzeitigkeit: Sind zwei Ereignisse an unterschiedl. Orten für einen ruhenden Beobachter gleichzeitig, dann sieht der zu ihm bewegte Beobachter sie zu versch. Zeitpunkten. Wie die Dauer eines Vorgangs vom Bewegungszustand des Systems abhängt (Zeitdilatation), konnte in Präzisionsexperimenten mit Elementarteilchen sehr genau geprüft werden.
Der Gang einer Uhr hängt nach der allgemeinen Relativitätstheorie (1915) auch vom Gravitationsfeld ab, in dem sie sich befindet: In der Nachbarschaft großer Körper (z.B. auf der Oberfläche der Erde) läuft die Uhr langsamer als im interstellaren Raum extrem geringer Dichte. Eine Uhr auf einem Berg geht schneller als eine vorher synchronisierte Vergleichsuhr im Tal (Beispiel: Auf der Spitze des Montblanc in 4807m ü.M. geht eine Uhr in 50 Jahren um 0,7ms relativ zu einer in Chamonix-Mont-Blanc ruhenden Uhr vor). Diese Relativität der Zeit wird am deutlichsten in der Nähe von hohen Massekonzentrationen wie Neutronensternen; am Rande eines Schwarzen Lochs steht aufgrund des dortigen extremen Gravitationsfelds für den stat. Außenraumbeobachter die Zeit still.
Die Struktur der Zeit ist eng verbunden mit dem Wirkzusammenhang der Welt. In der speziellen Relativitätstheorie weicht die Kausalstruktur der Ereignisse nur insofern von der klass. Form ab, als wegen der Endlichkeit der Lichtgeschwindigkeit nur diejenigen Ereignisse, die innerhalb des Lichtkegels oder auf diesem liegen, durch eine kausale Kurve, eine »zeitartige« Weltlinie, verbunden werden können. Die zeitl. Abfolge der Ereignisse bleibt jedoch in allen Inertialsystemen gleich. So kommt es in der Raum-Zeit der speziellen Relativitätstheorie niemals zu einer Umkehrung von Ursache und Wirkung. Es lassen sich auch keine Kausalketten konstruieren, die Ereignisse in der Vergangenheit erreichen. In der allgemeinen Relativitätstheorie gibt es hingegen einige spezielle Lösungen (Gödel 1949, Roy Kerr 1963), in denen geschlossene kausale Wege existieren, die in die Vergangenheit des Beobachters führen. Solche Weltlinien werden gelegentlich als »Zeitreisen« angesprochen. Es kann jedoch keine wirkl. Reise durch die Raum-Zeit bzw. in der Zeit geben. Geschlossene zeitartige Weltlinien bedeuten keine Vorwärts- oder Rückwärtsbewegungen in der Zeit. Einige Autoren haben vermutet, dass der Begriff der Reise in die Vergangenheit oder Zukunft innere Widersprüche enthält. Dies muss aber nicht sein, wenn man bei den neu hinzutretenden Ereignisketten darauf achtet, dass diese mit den vorhandenen Ereignissen in kausalem Einklang stehen.
Anfang und Ende der Zeit
In den kosmolog. Modellen der allgemeinen Relativitätstheorie (A.A. Friedmann 1922, 1924) ist aufgrund der Homogenität und Isotropie der Materieverteilung eine Raum-Zeit ausgezeichnet, in der eine vom Raum unabhängige eindeutige Zeitkoordinate definiert ist. Diese kosm. Zeit ist jene Zeit, die von einem im expandierenden Raum ruhenden Beobachter auf seiner Uhr abgelesen wird. Diesen komobilen (mitbewegten) Beobachter kann man sich im Zentrum einer Galaxie befindlich vorstellen. In Bezug auf diese Eigenzeit des mit der kosm. Materie mitschwimmenden Beobachters weisen alle einfachen Friedmann-Modelle einen absoluten Nullpunkt der Zeit auf. Verfolgt man die Weltlinien der Galaxien gedanklich in der Zeit zurück, dann schneiden sich diese Linien in einem Punkt in der endl. Vergangenheit. Dieser Punkt, die so genannte Anfangssingularität, ist aufgrund eines strengen mathemat. Theorems, das R.Penrose und S.Hawking 1970 bewiesen haben, in den einfachen relativistischen, kosmolog. Modellen unvermeidbar; diese Singularität repräsentiert kein Ereignis, das zur Welt gehört, sondern stellt einen Rand der Raum-Zeit dar, über den hinaus das Schicksal der Materie nicht verfolgt werden kann. Die Singularität lässt sich nicht durch kausale Prozesse ergänzen. Sie drückt somit eine Unvollständigkeit von Einsteins Gravitationstheorie aus. Der Zustand der kosm. Materie ist für den Anfang der Zeit nicht definiert, weil für ihn alle physikal. Parameter gegen unendlich gehen.
Man versucht heute, im Rahmen von Ansätzen zu einer Theorie der Quantengravitation vollständige, d.h. auch singularitätsfreie Theorien zu finden, in denen keine Ränder der Raum-Zeit existieren, wo die Gesetze der Physik ihre Gültigkeit verlieren. Der bekannteste Vorschlag für ein quantenkosmolog. Modell ohne Singularitäten und damit auch ohne einen absoluten Nullpunkt der Zeit wurde 1982 von Hawking und J.B.Hartle (*1939) vorgelegt. Sie schlagen vor, eine kompakte Raum-Zeit mit imaginärer Zeitkoordinate zu verwenden (d.h., die Zeitkoordinate t wird nach -i transformiert; i=, imaginäre Einheit). In einer solchen, nunmehr euklid. Raum-Zeit erhält die Zeit den Charakter einer Raumkoordinate. Damit werden die Fragen nach dem Anfang der Zeit und dem Ursprung des Universums unstellbar, sie sind in dieser quantenkosmolog. Theorie gar nicht definiert. Während es in der klass. Gravitationstheorie mit reeller Zeit nur die beiden Alternativen des singulären Anfangs oder der ewigen Vergangenheit des Universums gibt, existiert in der Quantengravitation die dritte Möglichkeit einer geschlossenen zeitlosen Welt ohne Grenze und Rand. »Anstatt davon zu reden, dass das Universum entstanden ist und vielleicht auch vergehen wird, sollte man nur sagen: Das Universum ist« (Hawking).
In den modernen Stringtheorien sind Raum und Zeit abgeleitete Größen; es lassen sich also durchaus physikal. Systeme ohne Raum und Zeit denken, und auch der Vorgang der Entstehung von Raum und Zeit kann Gegenstand theoret. Überlegungen werden. Aufgrund erster Ansätze von Theorien der Quantengravitation ist anzunehmen, dass bei extrem heißen, d.h. bei kosmologisch frühen Materiezuständen der Begriff der Zeit immer weniger gut anwendbar ist. Es ist möglich, dass der Z.-Begriff als gute Näherung nur für die Beschreibung eines relativ kalten Universums geeignet ist.
Zeitpfeile
Eine der zentralen Eigenschaften der Zeit ist, dass sie anders als der Raum eine ausgezeichnete Richtung besitzt. Wir erinnern uns nur an vergangene Ereignisse, die Entwicklung der Lebewesen weist ontogenetisch und phylogenetisch eine typ. Einsinnigkeit auf, zerstörte Strukturen regenerieren sich nicht spontan, die Expansion des Raums trennt die Galaxien. Diese Anisotropie der Zeit, metaphorisch auch »Zeitpfeile« genannt, lässt sich derzeit durch die Naturgesetze noch nicht hinreichend erklären (Zeitpfeile, Übersichtsartikel).
Bibliographisches Institut & F. A. Brockhaus AG, Mannheim; Spektrum Akademischer Verlag GmbH, Heidelberg, 2003