3.
Die kleine Seele, die jetzt Miriam hieß, schaute sich im Zimmer um. Sie sah viele andere Körper und jeder schien mit irgendetwas Wichtigem beschäftigt zu sein. Dann fragte sie Marius: „ Hast du eigentlich auch einen Körper?“
„Schutzengel haben keinen Körper“, erklärte ihr Freund. „Aber wenn es hilfreich ist, kann es so aussehen, als hätten sie einen. Soll ich manchmal so tun, als hätte ich einen, damit du mich sehen kannst?“
„Ja bitte“, sagte Miriam. „Das wäre toll.“ Und siehe da: Marius nahm die Gestallt eines Menschen an. Er stand direkt neben einer Krankenschwester, die Miriam gerade badete.
„He ich kann dich sehen!“ rief Miriam erfreut. „Gut. Nun merke dir einfach, wie ich aussehe. Denn es kann sein, dass du mich bald nicht mehr sehen kannst.“
„Warum denn nicht? Gehst Du fort? Gott sagte doch, dass du mein ganz besonderer Freund bist und dass du immer bei mir bleibst.“
Ich werde auch immer bei dir sein!“, sagte Marius bestimmt. „Ich gehe nirgendwohin. Aber manchmal, wenn du anderen Menschen erzählst, das du deinen Schutzengel siehst, werden sie sagen, dass es so etwas gar nicht gibt.“
Miriam war sprachlos. „Aber wieso denn?“, wollte sie schließlich wissen.
„Weil sie mich nicht sehen können. Deshalb glauben sie nicht, dass du mich sehen kannst. Und dann werden sie sagen, dass es mich nur in deiner Einbildung gibt.“
„Und ist das so?“, fragte die kleine Seele und zwinkerte mit den Augen.
„Ja. Aber das heißt nicht, das es mich nicht auch wirklich gibt“, antwortete Marius. „ Alles was es in deiner Vorstellungskraft gibt, ist so wirklich, wie du es machst. Denke immer daran!“
Darüber musste Miriam lange nachdenken – „lange“ für ein Baby, in Wirklichkeit war es nur ungefähr eine Minute. Dann verzog sie das Gesicht. „He! rief sie. „Das Wasser wird kalt!“
Marius bewegte sich auf die Krankenschwester zu. „ Au weia“, sagte er. „Sie hat einen Fehler gemacht. Sie hätte warmes Wasser dazugeben müssen. Mal sehen, ob ich sie dazu bringen kann, dass sie es merkt.“ Und er flüsterte der Schwester etwas ins Ohr.
Und siehe da, genau in diesem Moment goss die Schwester schön warmes Wasser nach.
„Sie hat etwas falsch gemacht“, sagte Marius. „Wirst du ihr verzeihen?“
Die kleine Seele dachte nach. Schließlich fragte sie: „Was bedeutet ihr verzeihen?“
Da wurde Marius klar, dass er noch einiges zu tun haben würde. Die kleine Seele hatte sogar vergessen, warum sie auf die Erde gekommen war! Sie hatte das Tor zur Erde durchschritten und alles war vergessen! Sie wusste nicht einmal mehr, dass sie geboren werden wollte, um erfahren zu können was verzeihen ist.
(Oh, das ist wirklich der Teil der Geschichte, den du noch nicht gehört hast. Weißt du die kleine Seele hatte darum gebeten, geboren zu werden, weil sie erleben wollte, was es heißt zu verzeihen. Als die kleine Seele noch nicht auf der Erde war, hatte sie verstanden, dass jeder auf dieser Welt ist, um möglichst viele Erfahrungen zu sammeln… Und die kleine Seele wollte wissen, wie sich Verzeihen anfühlt. Deshalb hatte sie Gott gebeten, auf die Erde kommen zu dürfen. Aber jetzt hatte sie all das schon vergessen!)
„Ich werde dir gleich erzählen, was es bedeutet zu vergeben“, sagte der Schutzengel zu Miriam. „Aber das wird länger dauern. Im Moment bist du mit etwas anderem beschäftigt.“
Und das war sie dann tatsächlich. Die Schwester trocknete Miriam mit einem großen, weichen Handtuch ab. Danach schaute sich jeder im Raum ihre Hände, Füße, Ohren und ihren ganzen Körper an. Und alle schienen froh zu sein, denn sie sagten: „Was für ein hübsches Baby! Es ist einfach vollkommen!“
„Na gut“, sagte die kleine Seele, „was kommt jetzt? Ich habe einen Körper und ich weiß wer ich bin.“
„Was glaubst du denn wer du bist?“, fragte Marius.
„Das bin ich, das bin ich“, sagte Miriam und zeigte auf ihren Körper. „Ich bin das hier!“
„Nein das bist du nicht“, lachte Marius. „Ich weiß was du denkst. Dass du dass bist. Aber du bist nicht dein Körper. Du hast einen Körper!“
„Hä?“ das war alles, was Miriam sagen konnte.
Marius lachte wieder. „Ich habe gesagt dein Körper gehört dir zwar, aber du bist nicht dein Körper. Das bedeutet, dass dein Körper nicht das ist was du bist, er ist das was du hast.“
„So wie ein Spielzeug?“ fragte Miriam. „Hmmm“, sagte Marius und überlegte einen Moment. „Eher wie ein Werkzeug, mit dem man etwas gestallten kann.“
„Und was erde ich gestalten?“ „Ein Leben.“
„Wie gestallte ich denn mit meinem Körper ein Leben?“ wollte Miriam wissen.
„Indem du Erfahrungen machst“, antwortete Marius und er klang wie ein Professor von irgendeiner Universität.
„Was soll ich denn erfahren?“ Alles was du möchtest und wofür du einen Körper brauchst“.
Marius fragte sich, ob die kleine Seele das wohl verstehen konnte.
„Gut“, platzte Miriam heraus, „ dann sage ich dir, was ich jetzt gerne erleben möchte.“ Es ist wirklich gut, dass Schutzengel das Schreien von Babys verstehen können, denn keiner sonst im Raum wusste, was Miriam wollte.
„Ich möchte es warm haben. Mir wird nämlich schon wieder kalt! Würde mir doch bloß jemand eine Decke bringen Und stell dir vor: In diesem Moment kam eine Frau mit einer Kuschelig weichen Decke, in die sie Miriam einwickelte. „Hast du das gesehen?“ rief Miriam. „Ich musste mir nur wünschen, das jemand eine Decke bringt, schon war sie da!“
„Ja“, sagte Marius und kicherte. „War das nicht toll? Genau so funktioniert es!“
„Was funktioniert so?“
„So funktioniert das Leben: Du wünscht dir etwas … und dein Wunsch geht in Erfüllung.“
Miriam traute ihren Augen kaum. „Wirklich?“ , fragte sie. „ <<Und ich muss mir nur etwas wünschen …?“
Marius lächelte und sagte! „Ja. Man kann sich zum Beispiel etwas wünschen, wenn man eine Sternschnuppe sieht. Aber man braucht eigentlich keine Sternschnuppe dafür. Es gibt nur eine Sache, auf die man wirklich nicht verzichten kann.“
„Und was ist das?“ fragte Miriam neugierig. „Vertrauen.“ „Vertrauen?“ „Ja“ fuhr Marius fort. „Du musst daran glauben. Dass du immer alles haben wirst, was du brauchst, und dass Gott an deiner Seite ist.“
Da öffnete die kleine Seele weit ihre Augen und stellte eine wirklich überraschende Frage: „Wer ist >Gott?“