Tertium Organum

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Condemn

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Hallo zusammen!

Hier mal eine wirklich gute kurze Geschichte, die ich gerade im Netz fand. (http://www.panpromotion.de/downloads/Tertium Organum.rtf )


Tertium Organum

Von Martin Tapparo

Am 623. Tag seiner Suche fand Jack den Sinn des Lebens.
Ein eigenartig strukturierter Artikel in einer Zeitung hatte genügt, um ihn darauf aufmerksam zu machen, dass es einen Sinn gab. Seitdem war Jack auf der Suche, getrieben von einer Neugier, die für ihn typisch war, schon seit seiner Kindheit. Auch wenn er sich nicht daran erinnern konnte, je Kind gewesen zu sein. In allen Ecken des Lebens hatte er Ausschau gehalten, in Geschriebenem, in Geräuschen, in Bildern und in Gegenständen, wo auch immer sich der Puls der Existenz verbergen mochte.
Bis heute. Heute war das Puzzle vollständig. Er musste es nur noch zusammensetzen.
Also nahm er das Telefon ab und wählte die Nummer. Sie hatte dreizehn Stellen und existierte nicht. Am anderen Ende der Leitung setzte ein gedämpftes, rhythmisches Geräusch ein. Jack kannte es. Er nickte zufrieden.
Dann schaltete er seinen Fernseher ein, wählte den toten Kanal an und betrachtete das optische Rauschen. Es war der gleiche Rhythmus.
Auf den Fernseher stellte er die Uhr, die scheinbar falsch ging. Allerdings tat sie das mit systematischer Regelmäßigkeit. Jack zog sie alle elf Stunden auf.
Sein Videorekorder, der in der anderen Ecke seines Zimmers stand, spielte wiederholt die Aufnahme einer Fernsehsendung, die alle siebzehn Monate gesendet wurde. Würde er den Ton der Sendung gegen den Fernsehkanal richten, würden sich die Klänge gegenseitig auslöschen und es wäre still im Raum.
Schließlich nahm er die kleine grüne Buddha-Figur und positionierte sie in der Mitte des Raumes.
Bedächtig setzte sich Jack neben die Zeitungen, die er seit fast zwei Jahren sammelte. Es waren mehrere Ausgaben von Blättern, die überall auf der Welt erschienen. Jedes siebte Wort war mit Leuchtstift markiert.
Die Uhr, die im Takt des Universums schlug, sagte ihm, dass es Zeit war zu beginnen.
Im Schein des Fernsehers las er den Text vor, jede Silbe auf den Rhythmus abgestimmt. Er brauchte genau neuneinhalb Minuten, dann hörte die Zeit auf zu existieren.
Das Universum brach in seinen ursprünglichsten Gefügen zusammen. Alle Lebewesen der Welt verschwanden mit einem Mal, als hätte es sie nie gegeben. Und Jack erinnerte sich.
Er erinnerte sich daran, wie er die Welt geschaffen, das Prinzip ihrer Existenz in vielen kleinen Rätseln verborgen, wie er sich zum Menschen gemacht hatte, um ein Teil dieser Welt und ihres Genusses zu sein, und wie er es beendet hatte. Und er erinnerte sich an seinen wahren Namen: Jahwe.
Dann fluchte er. Sehr lange. Er hatte es beendet. Seine Überlegenheit war ihm zum Verhängnis geworden.
Mit seinem präzisen göttlichen Auge sah er in die Vergangenheit. Er beobachtete sein damaliges Ich dabei, die Menschen um ihr Unwissen und ihre Naivität zu beneiden, zu bewundern, wie endlos alles für sie erschien. Sie glaubten nicht an den Sinn des Lebens, weil sie ihn kannten, sondern weil sie ihn nicht kannten und wahrscheinlich nie kennen würden. Es gab ihnen ein Gefühl von Grenzenlosigkeit, das er, der Gott dieser Welt, vermisste. Er war immer vollkommen gewesen, konnte nie erfahren, was es bedeutete zu wachsen.
In seiner Melancholie tat er etwas, was noch nie ein Gott vor ihm getan hatte: Er kam als Mensch auf die Erde.
Mit selbst auferlegter Amnesie und ohne jede Macht lebte er in seiner eigenen Erfindung ohne es zu wissen. Er war glücklich. Doch wie auch die anderen Menschen war er von Neugier und Wissensdurst getrieben. In diesem übermächtigen Verlangen suchte er nach dem Sinn des Lebens. Er erkannte ihn in vielen kleinen Dingen und irgendwann verstand er auch das Ganze. In diesem Moment wurde er wieder zum Gott. Er war wieder am Anfang. Es war das erste Mal, dass er fluchen musste.
Nun war sein bereits zweiter Versuch misslungen. All seine Arbeit war umsonst gewesen, zum Scheitern verurteilt durch ein System, das schon vor ihm existiert hatte und vorschrieb, dass jedes Universum auf einem einheitlichen Prinzip basieren musste. Es war ein dummes Gesetz. Aber nur so funktionierte es.
Als er mit Fluchen fertig war, machte sich Jahwe an die Arbeit. Er konstruierte eine neue Welt, neue Geschöpfe und entwarf ein neues Prinzip.
Er betrachtete das Prinzip und sah, dass es gut war. Dann zerstückelte er es und verteilte die Splitter in vielen Elementen der neuen Welt, wo sie ein ewiges Rätsel bleiben sollten.
Nach getaner Arbeit lehnte er sich zurück und war eine Zeit lang einfach mit sich zufrieden. Kurz galten seine Gedanken den Menschen, und was passieren würde, wenn einer von ihnen das Prinzip entdeckte. Es bestand die entfernte Möglichkeit, dass dieser Mensch dann zum einen Gott werden würde und Jahwe ablöste. Der Gott musste darüber lächeln. Schon ewig sehnte er den Tag herbei, an dem dies eintreten würde. Dabei kam ihm nicht in den Sinn, dass es bereits andere Götter gegeben haben könnte oder gar noch gab. Es gehörte einfach nicht zu den Gedanken, die sich ein Gott machte.
Sein Blick wanderte zu der Uhr, die still stand. Es war zu offensichtlich gewesen. Sein Auge fiel auf die kleine grüne Buddha-Figur und seine Stirn legte sich in Falten. Jahwe nahm sie in seine Hand und fühlte sie, kein Detail vermochte ihm zu entgehen. Doch er konnte sich nicht an sie erinnern. Eigentlich dürfte sie gar nicht existieren. Er zuckte mit den Schultern. Bald würde er sich darüber keine Gedanken mehr machen müssen.
Mit einem freudigen Zwinkern löschte er sein Gedächtnis.

Jack erwachte, wie aus einem Koma. Sein Appartement war vollgestopft mit merkwürdigem Müll und auf seinem Schreibtisch lag ein Stapel mit Notizen, die er nicht entziffern konnte.
Mit einer müden Handbewegung wischte er die Papiere vom Tisch und rieb sich die Augen. Er musste über der Arbeit eingenickt sein. Als er die Augen wieder öffnete, merkte er, dass eine kleine grüne Buddha-Figur ihn von der Mitte des Raumes aus anlächelte. Es fiel ihm wieder ein, warum sie hier war und er stellte sie neben seinen Bildschirm.
Er schaltete den Computer ein und begann mit der Arbeit. Siebzehn Minuten lang starrte er auf den kahlen Bildschirm, unfähig, auch nur ein Wort zu schreiben. Ab der zwölften Minute jedoch sah er aufmerksam hin. Dann wartete er noch weitere fünf Minuten, mit demselben Ergebnis. Kein Zweifel, der Cursor setzte alle 103 Blinks einmal aus.
Jack beobachtete das Phänomen noch eine weitere Stunde, bevor er sich sicher war, ein System zu erkennen. Dann begann er mit seiner Suche.



ENDE

* 2001 Martin Tapparo
 
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