Hallo
Mal ein paar Eindrücke aus den Seiten von
Helmut Poller:
Die ökonomische Entwicklung der tibetischen Gesellschaft nimmt eine merkwürdige und weltweit einmalige Wende: Ähnlich wie im europäischen Mittelalter werden Klöster nicht nur zu den einzigen Stätten der höheren Bildung, sie saugen auch beträchtliche Teile des umlaufenden Vermögens in Form von Spenden an, die Schatzmeister der großen Klöster vergrößern den Besitzstand ihres Hauses immer mehr, das Kloster nimmt noch mehr Mönche auf, diese benötigen noch mehr Spenden, ein verhängnisvoller Kreislauf beginnt, der jegliche wirtschaftliche und soziale Entwicklung der tibetischen Gesellschaft verhindert hat. Die Äbte der größten Klöster hatten die spirituelle Macht, die politische Macht, den Grundbesitz, die ökonomische Macht!
Verschärfend kommt dazu, daß Arbeiten in der tibetischen Tradition nicht Sache der Mönche ist (im Gegensatz zu vielen chinesischen und japanischen Schulen), die Mönche, die um 1900 ein Zehntel (!) der männlichen Bevölkerung stellen, sind dem Prozeß der Wertschöpfung entzogen. (Zum Vergleich: in Österreich würden ähnliche Verhältnisse bedeuten, daß ca. 250 000 erwachsene, arbeitsfähige Männer ihr ganzes Leben lang nichts arbeiten, aber vom Rest der Gesellschaft notdürftig erhalten werden).
Es gibt im Gegensatz zur europäischen Reformation und Aufklärung nie eine Gegenbewegung zu diesem ökonomischen Unsinn. Die spirituelle Praxis leidet natürlich auch unter diesen Verhältnissen, das geistige Niveau der Mönche ist größtenteils sehr tief, die Bevölkerung bettelarm und ungebildet, die medizinische Versorgung schlecht, eine traditionelle Ausländerfeindlichkeit der tibetschen Adeligen und Verwalter verhindert die Berührung mit anderen ökonomischen Formen, schließlich kommt es zur menschenverachtenden Zerstörung der tibetischen Kultur durch das chinesische Brutalregime, welches sich als entgegengesetztes Extrem ausschließlich am ökonomischen Fortschritt orientiert.
Die erste Gruppe hat klar das Ausmaß der ökonomischen und geistigen Fehlentwicklung der tibetischen buddhistischen Gemeinschaft erkannt. Zu dieser Gruppe zählen unter anderem für die Gelugpas seine Heiligkeit, der Dalai Lama, und das gewählte Oberhaupt der Nyingmapas, S.H. (Seine Heiligkeit) Penor Rinpoche, der als Vorsteher des größten Klosters der Schule der monastischen (mönchischen) Strömung zuzurechnen ist. Diese und viele andere Lamas vertreten, abgesehen von ihren Aktivitäten im Westen, im Osten doch eine Linie des Wiederaufbaus von Klöstern, achten aber auf eine strenge und hochstehende Ausbildung der Mönche und Nonnen genauso wie auf eine Einbeziehung westlichen Gedankenguts und westlicher Technologie, soweit es dem Fortschritt der Gemeinschaft angemessen erscheint.
Die zweite Gruppe hat leider nichts aus den Ereignissen gelernt. Ich kenne etliche Fälle von Lamas, die im Westen durch das Geben von Einweihungen und Belehrungen, manchmal ohne Rücksicht auf die tatsächliche Kapazität der Schüler, zu westlichen Spendengeldern in manchmal beträchtlicher Höhe kommen. Damit wird dann gewirtschaftet wie eh und je. Mir sind Klöster bekannt, deren Mönche am Tag zwei Rituale rezitieren, der Rest der Zeit wird mit Kartenspielen und Videoschauen verbracht. Klöster sind wieder das geworden, was sie schon in Tibet waren: eine einfache Möglichkeit, zu einer warmen Mahlzeit zu kommen.
Nach dem tibetischen Verwandtschaftsverständnis läßt der Inhaber eines solchen Postens natürlich Bruder, Neffen und Onkel nachkommen, wenn das möglich ist. Das reichlich fließende westliche Geld wird regelrecht vernichtet, zumal im Westen viele Menschen ihr stark belastetes Gewissen durch Spenden für spirituelle Zwecke" entlasten möchten.
Ich spreche mich nicht gegen Geldspenden für soziale Zwecke, Entwicklungshilfe und medizinische Versorgung (etwa der oft aus chinesischen Folterlagern entkommenen Flüchtlinge), schon gar nicht gegen Spenden an buddhistische Meister aus, aber man muß wirklich genau sehen können, was mit dem Geld passiert, um nicht unerquickliche Erscheinungen zu fördern.
Die Übertragung der tantrischen Lehren steckt im Westen trotz scheinbar großer Zahlen von Übenden in den Kinderschuhen, was man auch daraus ersehen kann, daß es nach dreißig Jahren Vajrayana in Europa und USA keine zehn Europäer und Amerikaner gibt, die diese Lehren völlig gemeistert und verwirklicht haben.
Alles Liebe. Gerrit