Sturmnächte

Serenade

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18. März 2007
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Die Betten wären neu zu überziehen. Obwohl die alten noch nass an der Wäscheleine hängen. Der Blick nach oben. Zum Haus. Seitenaufgänge, links und rechts. In der Mitte die Eingangstür. Am Geländer, direkt vor der Tür, hängt das nasse Leintuch.

Mein Weg führt mich weiter. Runter zum Fluss, wo jemand am Ufer sitzt. Vielleicht ist es ein Fischer und ich kann ihm einen abkaufen. Gebratener Fisch wäre ein gutes Mittagessen. Grüner Salat dazu. Auch nicht schlecht. Eventuell auch Kartoffelsalat mit viel Zwiebel. Würde auch besser passen als grüner Salat.

Ein Mann sitzt am Flussufer. Er sitzt nur da und scheint auf das Wasser zu starren. Vorerst sehe ich ihn nur von hinten. Ein seltsames Gefühl beschleicht mich. Angst wallt ein wenig auf. Oder ist es doch Neugier? Neugier, wie der Mann wohl aussieht. Das Aussehen bezieht sich vorwiegend auf das Gesicht.

Er sieht mich an. Ich halte die Luft an. Der Mann hat keinen Unterkiefer. Die Zunge, die am Gaumen fest gewachsen ist, hängt über seinen Hals. Es erinnert mich an ein Bild. Das Bild einer Gans, der beim Stopfen der untere Schnabelteil abgebrochen wurde. Ich verachte Gänseleber nicht. Ich verachte die Menschen, die Gänse deswegen stopfen. Eigentlich mag ich Gänseleber auch nicht. Zu fett. Aber ich habe erst einmal eine gekostet. Gekostet! Mehr nicht.

Jetzt sitzt kein Mann am Flussufer. Es ist eine Puppe, die jemand hingesetzt hat. So eine Puppe, wie sie Bauchredner haben. Ihr Unterkiefer hängt lose herab. Manchmal bewegt er sich auf und ab. Es ist der Wind, der den Unterkiefer bewegt.

Ich blicke zurück zum Haus. Es ist zwei Stockwerke hoch. Früher wusste ich, wer alles darin wohnt. Wahrscheinlich sechs Familien. Im Parterre, obwohl es kein Parterre ist, da zehn Stufen rechts und links bis zur Eingangstür hoch gehen, wohnen zwei Parteien. Im ersten Stock wohnen auch zwei Parteien. Ebenso im zweiten Stock. Irgendwie ist mir das Haus fremd. Andererseits scheine ich darin jede Wohnung zu kennen. Nicht nur die Wohnungen, auch die Einrichtungen darin. Die Menschen eher nicht. Man kann Menschen nicht kennen. Man meint nur, sie zu kennen.

Manchmal sehe ich eine Frau bei der Eingangstür heraus kommen. Sie sieht sich unentschlossen um und scheint nicht zu wissen, an welcher Seite sie die Treppen herab nehmen soll. Das macht sie immer. Und manchmal hockt auf ihrer Schulter eine schwarze Katze, mit leuchtend gelben Augen. Die Augen leuchten wirklich. Wie zwei kleine Lämpchen. Die Frau sieht mich nicht, weil ich mich stets hinter der großen Linde, die wenige Meter vom Haus entfernt gewachsen ist, verstecke. Obwohl ich glaube, noch nie mit der Frau gesprochen zu haben, fürchte ich das Gespräch mit ihr. Vielleicht hat mir mal jemand gesagt, dass sie viel redet. Sie redet einen ein Loch in den Bauch. Und ein Loch im Bauch möchte ich nicht gerade haben.

Vielleicht ist sie die Frau von dem Mann ohne Unterkiefer. Ich weiß, dass es ihn gibt, auch wenn inzwischen die Puppe am Flussufer hockt. Man sagt, sie habe einen Mann, der nur nachts rausgeht. Irgendetwas ist während des Krieges mit seinem Gesicht passiert. Er schämt sich vor den neugierigen und manchmal auch erschrockenen Blicken der Menschen. Einmal habe ein Kind laut zu weinen begonnen, als es ihn sah. Kinderschreck, - schrie die Mutter des Kindes. Was sie weiter noch schrie, haben sie verschwiegen. Auf jeden Fall sah jemand, wie der Mann weinend nach Hause ging und noch murmelte, dass er einst für das Vaterland gekämpft hat. Das ist dann der Dank dafür. Ich glaube, die Mutter des heulenden Kindes hätte erwidert, dass sie niemandem darum bittet, fürs Vaterland zu kämpfen. Wer würde denn so etwas tun? Und warum heißt es Vaterland? Sie würde garantiert Mutterland sagen. hockt.

In letzter Zeit frage ich mich, ob all das, was ich wahrnehme, wirklich ist. All diese so schnell wandelbaren Sequenzen verwirren mich immer mehr. Eben wollte ich im Schlafzimmer die Betten frisch überziehen, legt sich ein anderes Bild darüber und setzt mich vor das zweistöckige Haus mit dem zweipaarigen Treppenaufgang. Irgendwie fasziniert mich das Haus. Es liegt wohl an der Farbe, an diesem erdigen und doch frisch lebendigen Ocker. Die Fenster sind mit einem hellen Beige umrahmt und die Fensterrahmen haben fast dieselbe Farbe wie die Häuserwand, dieses erdige und doch frisch lebendige Ocker. Das Dach ist fast flach. Es ist dunkelgrau, so weit ich das von hier unten beurteilen kann. Keine Dachziegel. Eternit nennt man es. Glaube ich halt.

An einem dicken Ast der Linde hängt eine Schaukel. Mir wird immer schwindlig, wenn ich darauf schaukle. Obwohl ich es weiß, tu ich es immer wieder. Schaukeln, bis mir schlecht wird und ich zum Flussufer, zu den Büschen laufe und mich dort übergebe.
Rituale sollten nicht übertrieben werden. Sonst werden sie zum Zwang. Und Zwang bringt dich nirgendwohin. Vielleicht in die Klappsmühle, wie man so sagt. Schön sagt man es nicht. Aber man sagt es und alle sagen alles nach. Nachklappern oder nachplappern? Aber das morgendliche Ritual muss durchgeführt werden. Es könnte ja sein, wenn etwas anders gemacht ist, auch der folgende Tag anders gemacht ist. Das festigt alles ein bisschen und kommt einen nicht mehr so unwirklich vor.

Mir kommt der Verdacht, dass dieses Leben ein Vorgeschmack auf das nächste Leben ist. Der Sturm der Ereignisse. Keine Szene bleibt bestehen. Sie verändert sich viel zu schnell in eine andere. Sie, die Szene. Diese Unwirklichkeit!

Und doch sehe ich in allen Wohnungen nach, ob alles beim Alten geblieben ist. Nein! In der Einserwohnung, das ist im Parterre, das keines ist, da man ja links und rechts Stufen hoch zur Eingangstür steigen muss, hat man neue Möbel. Alles neu! Wie konnte ich nur das Raustragen der alten Möbel versäumen? Ich hätte mich gebührend von ihnen verabschiedet. Der alte Glasschrank, der abends immer so schön leuchtet. Wird man ihn nun nie wieder leuchten lassen?

Alles verliert irgendwann einmal sein Leuchten. Zumindest in einer der Welten, von der man sich verabschiedet. Für immer? Es kann schon sein, dass manche zurückkommen. Zurückkommen müssen, weil sie was vermasselt haben. Ist das wirklich so?

Jetzt steht wieder ein Glasschrank an dem Platz, wo der alte gestanden ist. Es ist ein neuer. Er sieht ganz anders aus. Andere Fassade. Anderer Geruch. Aber man gewöhnt sich ja schnell an alles. Auch die Wohnlandschaft ist neu. Dunkler als die alte. Das Helle mochte ich sowieso nicht. Es war einfach zu hell für diese Gegend. Die Katze hätte alles schmutzig gemacht. Man hätte die Spuren der Katzenpfoten auf dem fast weißen Stoff gesehen. Deshalb hat die Frau immer dunkle Decken über geworfen und man sah kaum etwas von der Helligkeit. Der Mann, der sein Gesicht mit einem Geschirrtuch verhüllt hat, streichelt gerade die schwarze Katze mit der rechten Hand, da sie auf seinem linken Arm liegt. Es genügt, wenn ihre Augen leuchten. Es muss nicht heller in dieser Wohnung sein.

Der Balkon geht in Richtung Süden. Fast Süden. Auf jeden Fall hat man im Sommer fast den ganzen Tag südliche Sonne. Erst im Westen wird sie westlich. Der Blick geht auf den Fluss hinunter und auf die gesamte Landschaft in dieser Gegend, die sehr ländlich wirkt. Wiesen, Äcker, Wälder so weit das Auge reicht. Und wenn nicht, nimmt man das Auge raus und wirft es so weit, um die weitere Landschaft zu sehen, die keine mehr ist. Dort, weiter drüben, beginnt die Stadt, diese vermaledeite. Das wird sich noch klären, das Vermaledeite!

Warum konnte ich mich nicht gebührend von den alten Möbeln verabschieden? Kann mir das niemand sagen? Noch einmal darüber streicheln und „lebt wohl“ sagen. Eine Träne für jedes Möbelstück. Es war ja nicht nur der Glaskasten, der abends geleuchtet hat. Es gab auch einen halbhohen Schrank. Er leuchtete nicht, aber er hatte Laden, in denen allerlei Krimskrams lag. Es gab ein Bord, das auch nicht leuchtete, auf dem der Fernsehapparat stand, in dem nur Sport geschaut wurde. Der Sohn ist ein Sportschauer. Er liegt die meiste Zeit auf der Couch und sieht Sportsendungen. Eigentlich müsste er sehr muskulös aussehen. Sportlich eben. Aber er ist dick und schwabbelig. Genauso dick und schwabbelig wie seine Mutter, diese Frau, die so viel redet, dass man ein Loch im Bauch bekommt. Meist erzählt sie von einer neuen Diät, die sie gerade ausprobiert, um abzunehmen.

Jetzt liegt er, der Sohn, wieder auf der Couch und sieht Sportsendungen. Die Beine, die in dunkelbraunen Jogginghosen stecken, hat er überkreuzt. In den Händen, die auf seinem dicken, weißen, nackten Bauch liegen, hält er die Fernbedienung, die ständig „klick“ macht. Er schaltet viel. Von einem Sportsender zum anderen. Auf dem niedrigen Couchtisch steht eine Flasche Bier und ein Aschenbecher, der fast übergeht vor lauter ausgerauchten Zigarettenstummeln. Muss er denn jetzt schon die neuen Möbel voll tschicken? – höre ich die Frau schimpfen. Mehr sagt sie nicht dazu. Es riecht ja noch immer ziemlich frisch in der Wohnung mit den dunkelgelben Wänden, die einst weiß gestrichen waren.

Von der alten Couch hätte ich mich auch verabschiedet. Einmal bin ich auf ihr gesessen und hatte die schwarze Katze auf dem Schoss. Sie schnurrte und sah mich leuchtend an. Der Sohn war damals noch auf der Arbeit. Später haben sie ihn entlassen, weil er Geld aus der Kassa geklaut hat. Wie konnte er nur? Das haben sich alle gefragt. Ja, wie konnte er nur? Ganz einfach, habe ich damals geantwortet. Er machte die Kassa auf, nahm das Geld raus, machte die Kassa zu und verließ das Büro auf zu lauten Sohlen. Wären es leise Sohlen gewesen, hätte man ihn nicht erwischt.
 
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Die Stadt, diese vermaledeite. Es gibt zu viele Menschen in ihr. In ihnen. In den Städten. Die meisten laufen unerkannt vorbei. Aber manche starren dir ein Loch in den Bauch. So wie Mama einem ein Loch in den Bauch redet. Die Mama vom Sportschauer, der die Stadt auch nicht mag. Vielleicht wäre die Stadt alleine okay. Aber diese Menschen! Diese verräterische Sippschaft! Traust dich eh nicht! Bist eh zu feig, ins Büro zu gehen und dem Chef das Geld aus der Kassa zu klauen. Er war nicht zu feig und ließ sich reinlegen. Sobald er im Büro war, riefen sie nach dem Chef und der Polizei. Zuerst kam der Chef und meinte, man solle diesen Vorfall unter den Teppich kehren. Dabei lag im Büro gar kein Teppich. Es gab nichts darunter zu kehren. Also rief man die Polizei. War doch nichts passiert. Aha, er hatte die Hand schon in der Kassa, wo das Geld lag. Aber wollte er es wirklich nehmen. Ich? Niemals! Und was wollte er mit der Hand in der Kassa? Das Bild ansehen, was aufm Geldschein ist. Aha. Dann machte der eine von den zweien Polizisten so eine Geste mit der Hand vor der Stirn, als wolle er sagen, dass der Junge nicht alle Tassen im Schrank habe. Und immer kommen diese Sprichwörter vor, die eigentlich niemand wirklich versteht. Verstehen schon. Aber woher kommen sie? Was ist ihre wahre Bedeutung? Lassen wir es gut sein. Morgen kommt er eh nicht mehr zur Arbeit. Er bekommt schon heute die schriftliche Entlassung. Rosa! Tipp das gleich ab! Und Rosa macht sich auf den Weg zur alten Schreibmaschine. Der neue PC lässt sich nicht hochfahren.

Die Stadt, diese vermaledeite. Ich mag sie auch nicht. Der dicke Sohn klickt wieder mit der Fernbedienung. Dem Geräusch nach läuft gerade Fußball auf dem gewählten Sender. Wieso immer dieses Gejohle? Und immer derselbe Gesang, wenn man das überhaupt singen nennen kann. Und dann raufen sie wieder oder schmeißen Trinkbecher von den Tribünen auf die gegnerische Mannschaft. Keiner kann verlieren. Dabei ist verlieren das höchste Gut. Verlieren ist der wahre Sinn des Lebens. Das lernst du am besten in der vermaledeiten Stadt. Und jetzt? Wer ernährt Mutti und Vati? Vati ist Veteran. Er hat für das Vaterland gekämpft und das Vaterland hat ihn fast vergessen. Fast! Er bekommt eh was. Klar, aber dieses „eh was“ ist zum leben zu wenig und zum sterben zu viel. Dieses Sprichwort ist verständlich. Und Mutti? Sie arbeitet, wo und wie sie kann. Macht eh den gesamten Hausputz. Und manchmal putzt sie für andere Leute. So gut sie eben kann. Wer sie sieht, will nicht, dass sie bei ihnen putzt. Die ist doch so dick und kann sich kaum runterbeugen. Wie will die putzen? Und wie sie putzen kann! Man sieht es in der Wohnung. Alles blitzblank! Bis auf den vollen Aschenbecher und den Rand, den die Bierflasche auf dem Tisch macht.

Wieso verlieren? Und wieso ist das der wahre Sinn des Lebens? Kann ich mir davon was kaufen? Mich ernähren? Ganz im Gegenteil Und lass ja das Geschwafel von wegen, der ist am glücklichsten, der nichts braucht. Ja, wenn ich in der Grube liege, dann brauch ich nix mehr. Dann ist es okay. Aber jetzt? Jetzt kann ich mir von diesen klugen Sprüchen nix kaufen. Und wir sind hungrig. Mutti vor allem. Sie stopft seit neuestem alles Essbare in sich rein, als wäre sie ein Müllschlucker und das Essen wäre Müll. Nix mehr mit Diät. Nie mehr. Die können mich alle mal. Vati blickt nur traurig zu Boden. Er hockt auf einem Fauteuil. Auf dem neuen. Er scheint bequem zu sein. Der neue Fauteuil. Man sieht Vatis traurige, blutunterlaufene Augen. Er hat das Geschirrtuch über das Gesicht gebunden, dass die Augen frei sind. Wie ein Bandit aus dem Wilden Westen sieht er aus.

Unten am Fluss wiehert ein Pferd. Es ist ein kleiner Fluss, aber er kann durchaus zu einem reißenden Strom werden, wenn es viel regnet. Das Wetter ist hier sowieso seltsam. Man spricht von der Sonnenseite, wo sich der Balkon befindet, dabei scheint nie die Sonne. Es regnet auch nie. Es ist immer irgendwie diesig. Nicht Tag und nicht Nacht. Und doch tobt irgendwo der Sturm. Man kann es fühlen. In sich selbst. Wie sich alles zusammen braut, bis es überläuft. Aber so ist das nun mal und lässt sich nicht ändern. Da kann man sich noch so sehr anstrengen. Oder gar nicht darüber nachdenken. Es bleibt wie es ist. Man muss sich fügen können. Los lassen. Ja, man muss verlieren können. Und das, weil man eh nie was besessen hat. Alles nur geliehen. Alles nur geklaut. So ist das Leben in einem Land, in dem nie die Sonne aufgeht. Und das, obwohl sie da ist! Das Pferd wiehert wieder. Man sollte eine Ranch bauen. Und dort drüben, wo der Wald beginnt, müssten sich Berge erheben, in denen Indianerstämme leben. Das wäre auch eine tolle Zeit gewesen. Und vielleicht, mit genug Phantasie, hätten die Indianerstämme alle Siedler vertrieben. Das wäre toll gewesen. Dann würde es uns jetzt vielleicht gar nicht geben. Dasselbe wäre mit den Schwarzen gewesen. Wenn sie sich nur gewehrt hätten. Indianer ließen sich nur wenige versklaven. Die meisten vom Alkohol. Dazu waren nicht zu stolz. Wie das aussieht! So ein prächtiger Indianerhäuptling torkelt betrunken durch die vermaledeite Stadt und wird von den Weißen ausgelacht. Dass sie ihn überhaupt in ihre Stadt lassen! In ihre Stadt! Nur Weiße bauen Städte. Vermaledeite Städte, wo alles zu eng ist. Zu eng und zu hoch. Was fehlt, ist die Weite der Prärie.

Du solltest die Puppe nehmen und Bauchredner werden, sage ich zum dicken Sohn. Welche Puppe? Na, die im Fauteuil! Entsetzte Blicke. Vielleicht ist es die Angst vor Publikum und auch die Angst vor der vermaledeiten Stadt. Nur in der Stadt gibt es derartige Auftritte. Bauchredner finde ich gut. Man kann sagen, was man sich denkt und ist doch nicht verantwortlich, weil es die Puppe ist, die spricht. Scher dich raus aus meiner Wohnung, nuschelt die Puppe. Es sieht echt aus, wie der nicht vorhandene Unterkiefer auf und ab schwingt. Selbst die Augen beginnen zu rollen. Setz dich auf das verdammte Pferd und hau ab. Das ständige Wiehern geht mir so was auf die Nerven. Schon gut. Ich hab es nur gut mit euch gemeint. Bauchredner sind in der Stadt sehr gefragt und werden auch gut bezahlt. Manche mieten sogar welche, wenn sie zu feige sind, der Liebsten einen Heiratsantrag zu machen. Oder einen Auftragskiller zu bestellen. Ich hab nichts gesagt. Das war die Puppe. Man kann Puppen nicht verurteilen und noch weniger einsperren. Das ist dann aber schon ihr Problem, wenn sie derartige Gesetze haben. Es sollten auch Puppen verurteilt werden können. Raus jetzt, du Rotzmensch!

Ich schau mich in der gegenüberliegenden Wohnung um und erzähle der alten Witwe von meinem Rauswurf. Wie kannst du nur? Diesmal stottert sie nicht. Ich habe in Erinnerung, dass die alte Witwe stottert. Diesmal kommt jedes Wort flüssig über ihre Lippen. Im wahrsten Sinne des Wortes. Sie hat nun mal einen regen Speichelfluss und auch manch anderen Ausfluss. Man riecht es, wenn man in die Wohnung kommt. Einmal sagte sie, am Alter sei es gar nicht so schwierig zu altern. Schwieriger sind diese vielen Abschiede. Wenn sie einmal anfangen, hören sie bis zum eigenen Ende nicht mehr auf. Es zählt nicht, wenn man wieder eine Falte mehr hat und die Schwerkraft immer schwerer wird. Aber der Schmerz, immer wieder einen seiner Lieben ins Grab nach zu sehen, das muss mal einer auf Dauer verkraften. Dann sagte sie auch, dass sie bereits mehr Freunde aufm Friedhof hat. Eigentlich, sinniert sie jetzt, hat sie nur mehr Freunde aufm Friedhof. Letzten Dienstag haben sie die Rosi eingegraben. Jetzt gibt es niemanden mehr, mit dem sie sich im Leben unterhalten könne. Es gibt nur mehr den Blick ins Jenseits, wo ihr alle zuwinken. Einige können es kaum erwarten, sie wieder in die Arme zu schließen. Einer davon ist ihr Mann, der vor sechs Jahren gestorben ist. Er winkt ihr immer wieder zu. Josefine, so komm doch endlich! Wo bleibst du denn? Das sagte er jedes Mal, wenn sie zusammen einkaufen oder spazieren gegangen sind. Und sie hört es noch immer. Seine Worte sind in ihrem Körper eingemeißelt wie Geburtsnarben. Stärker als Geburtsnarben. Es ist nicht leicht, hinüber zu gehen. Der Körper wehrt sich. Das Fleisch ist halt schwach. Dieser Spruch hat schon was: Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach. Wollen tun wir viel, aber tun tun wir wenig. Genau deshalb, wie ich immer wieder zum Ferdl sagte, sollte man die Menschen nicht nach ihrem Äußeren beurteilen. Wie meinen sie das? Na ja, man sollte sie nach dem beurteilen, was sie tun wollen und wie sie gerne sein möchten. Na, so halt. Verstehst du das nicht, du blöde Göre? Bist halt noch jung. Wirst schon noch das mächtige Gebiss des Lebens spüren. Zuerst knabbert es nur leicht an den Waden. Das sind aber nur die jugendlichen Schmerzen. Sie sind nichts gegen den Altersschmerz. Du wirst schon sehen, wie es einmal zubeißen wird, das Leben. Zerfleischen wird es dich.

Ihr Gebiss liegt in einem Glas auf dem Küchentisch. Es klappert. Mit dem könnte sie zusammen mit dem dicken Jungen Bauchrednerin werden. Die beiden würden ein tolles Paar abgeben und Millionen damit verdienen.

Manchmal glaube ich auch, dass die Gestalt im Fauteuil oder die am Fluss eine Puppe ist. Jetzt gibt sie mir Recht, die alte Witwe. Aber wie können wir das herausfinden? Aber manchmal scheint sie auch der Vater des dicken Jungen und der Mann der dicken Frau zu sein. Vor allem dann, wenn sie mit ihm reden und er ihnen sogar antwortet. Das ist eine raffiniert hergestellte Bauchrednerpuppe, äußert die alte Witwe. So was gibt es sicher schon. Die Leute sind heute ja so gescheit. Was die alles erfinden! Das würde ich auch gut finden, dann müsste man sich nicht mehr mit dem Bauchreden anstrengen, meine ich. Die alte Witwe nickt heftig. Schleim spritzt an die Wände und ich denke, es wäre besser, wieder zum Fluss runter zu gehen und nach dem wiehernden Gaul zu sehen.

Lass dieses Schaukelpferd in Ruhe. Dafür bist du ein bisschen zu alt. Und geh endlich die Betten überziehen. Die Stimme klingt scharf. Akut. Akute Gefahr hinter allen Ecken und Enden. Zum Ausgleich streichle ich dem Pferd sanft über die Mähne, die lange und weiß an seinem braunen Hals herab hängt. Es ist schon wieder alles zu verwirrend. Veteranenväter verwandeln sich in Bauchrednerpuppen und Pferde in Schaukelpferde. Als ob das Leben ein Spiel wäre! Ach, könnten wir es doch genauso betrachten und ebenso empfinden. Das Leben ein Spiel! Immer und immerfort! Absolut nichts mehr ernst oder sich zu Herzen nehmen. Auch wenn sie schimpfen, mit den Fäusten drohen und dich aus dem Haus jagen. Was kann dir schon passieren? Nichts! Absolut nichts! Denn da ist dieses göttliche Vertrauen. Wenn auch nicht das Vertrauen zu Gott. Göttliches Vertrauen ist etwas ganz anderes. Es kann alles sein. Es kann das Vertrauen zu dir selbst sein, was eigentlich am besten wäre. Ich bin. Das ist alles. Ganz einfach: Ich bin. Mehr ist nicht zu sagen. Man fühlt es ja auch so. Alles andere ist Spiel, Humbug, Maya, Illusion. Ich werde dir geben! Ja, das hättest du gerne! Für nichts Verantwortung übernehmen. Und wenn du jetzt nicht sofort nach Hause gehst und endlich die Betten überziehst… Was? Was dann? Willst du mich schlagen? Mich umbringen? Geht nicht! Schlagen tut vielleicht ein bisschen weh, auch wenn das Weh nur Einbildung ist. Aber umbringen geht gar nicht. Seelen sind unsterblich. Und wenn etwas von ihnen zurück bleibt, werden sie zu Geistern, die dich bis zu deinem Lebensende das Fürchten lehren werden. Möchtest du das, du alte Schlampe? Sie ist nicht meine Mutter. Nur meine Stiefmutter. Nur deshalb kann ich sie nennen, wie ich will. Aber die Idee wäre gut. Die Idee mit dem Spiel. Das Leben nur ein Spiel. Weder Freud noch Leid zählen. Das eine ist wie das andere. Bloß die zwei Seiten einer Medaille. Ach, ach! Ja, ach, wenn man das nur verfestigen könnte! Im Geist verfestigen und heftig daran glauben. Was heißt glauben? Wissen muss man das! Aus Erfahrung! Erfahren in der Meditation. Aber da passiert gar nichts. Man wird vielleicht ruhiger. Aber erleuchtet? Mitnichten! Und vielleicht auch mit Tanten. Immer diese Wortspielereien. Spielereien. Aber das ist es ja! Dass nichts passiert! Was soll denn auch passieren, wenn alles Maya ist? Das Spiel verfolgt mich. Es ist das Zeichen. Nimm nie wieder etwas ernst! Alles nur ein Spiel. Dennoch steige ich vom Schaukelpferd, das noch lange nachwippt. Es kommt erst dann zum Stillstand, wenn ich das Haus betrete, das gegenüber vom Zweistöckigen mit den zwei Treppenaufgängen steht. Ja, gegenüber, na ja, nicht ganz gegenüber, eher nach links, schräg halt. Ja, total schräg. Dort wohne ich mit meinem Vater und seiner Neuen, dieser Schlampe. Mutter hat uns verlassen. Sie ist einfach abgehauen. Sie sagte, wie Vater mir erzählte, sie sei noch zu jung für eine Familie. Und als sie das sagte, packte sie ihren kleinen Koffer und ließ das Baby, mich, bei seinem Vater zurück. Vater war völlig überfordert. Für ihn was das damals überhaupt kein Spiel. Ist es auch heute nicht. Dazu ist er viel zu unglücklich. Er tendiert zu einer ganz bestimmten Seite der Medaille. Zur leidvollen Seite. Und ich? Mal hier und mal dort. Aber immer öfter wandere ich zur Mitte, wo alles möglich und nichts unmöglich ist.
 
Die Wohnungen drüben, oder irgendwie schräg gegenüber, haben eine viel bessere Raumaufteilung. Vom Vorzimmer aus gelangt man in alle Räume. Bei uns, in diesem mausgrauen, düsteren Haus, mit den viel zu kleinen Fenstern, geht man wie durch einen Schlauch bis zum letzten Raum. Vom Vorraum aus gelangt man nur links, wenn man durch die Eingangstür tritt, ins Badezimmer, in dem sich gleichzeitig die Toilette befindet. Meist gehe ich auf die Toilette, wenn die alte Schlampe gerade badet. Dann schreit sie und hält sich die Nase zu. Für mich ist es eine Wonne. Ich möchte ihr das Leben, so gut es geht, zur Hölle machen. Manche, vor allem die Nachbarn in unserm Haus, sagen, das tu ich sowieso. Ja, ich weiß, ich bin ein Ekel, denn das hat die gute Frau nicht verdient. Hat sie sich doch um einen einsamen Mann angenommen, der knapp davor war, zum Alkoholiker zu werden und der sich deshalb nicht um sein Kind kümmern konnte. Es war total verwahrlost. Das Kind. Damit bin ich gemeint. Irgendwie fühlte ich mich gar nicht verwahrlost. Als Mutter ging, war ich vielleicht ein halbes Jahr alt. Dann kam Vaters Schwester und nahm mich meiner an. Manchmal schlief sie in unserer Wohnung und manchmal nahm sie mich mit in die Stadt, wo sie selbst mit ihrem Mann und ihren drei Kindern ein Haus hatte. Das Haus war so groß, dass wir auch darin Platz gehabt hätten. Aber das Risiko war zu groß. Sagte der Mann von Vaters Schwester. Dann säuft er wieder, kommt heim und schlägt womöglich auch unsere Kinder und nicht nur seins. Ich kann mich nicht an Schläge erinnern. Vielleicht war ich zu klein, um mich noch daran erinnern zu können. Wie lange kann sich denn ein Mensch an sein Leben zurück erinnern? Bewusst? Die am weitesten zurück liegende Erinnerung habe ich daran, als mich Vater in der Stadt von seiner Schwester abholte und sagte, er würde sich ab jetzt für immer um mich kümmern. Und neben ihm stand die alte Schlampe. Ich sagte: Nein! Nein, ich geh nicht mit! Ich schrie es. Ich tobte und klammerte mich an das linke Bein seiner Schwester, die sich freute, mich endlich los zu werden, weil ich für ihre Kinder schädlich bin. Ich würde sie verderben. Ich! Die jüngste von ihnen! Sie hören auf mich. Ich bin ihre Anführerin. Die Anführerin von zwei Jungs und einem Mädchen, das damals um einen Kopf größer war als ich. Von der Größe der Jungs ganz zu schweigen! Was ich alles angeblich getan hätte, weiß ich nicht mehr. Ganz dunkel erinnere ich mich, dass einmal sogar die Polizei in das schöne, große Haus kommen musste. Die Fürsorge war auch dabei. Das ist eine ganz, ganz dunkle Erinnerung.

Da stand sie nun neben meinem Vater. Groß und dünn. Sie war etwas größer als er. Das lag an den spitzen, hochhackigen Schuhen. Ich weiß noch, dass sie rot waren. Die roten Schuhe. Selbst die Schwester meines Vaters starrte sie mit offenem Mund an. Zuerst starrte sie auf die gesamte Person neben meinem Vater. Dann senkte sie die Lider und starrte auf die knallroten High Heels. Blut ist im Schuh – die rechte Braut sitzt noch daheim, gurrte es von den Dächern. Ihr Blick ging nach oben, hoch die langen, dürren Beine. Sie war mal Model, sagte mein Vater und lächelte stolz. Das knappe schwarze Ding um ihre Hüften sollte ein Rock sein. Oben rum sah es kaum bedeckter aus. Ein schwarzes bauchfreies Top und über den Schultern langes, lockiges, fülliges Blondhaar. Eine Nutte wie aus dem Bilderbuch. Blut ist im Schuh – die rechte Braut sitzt noch daheim.

Auf jeden Fall kommt man durch den Vorraum unserer dunklen Wohnung in eine ziemlich große Wohnküche, in der eine Eckbank mit Esstisch, eine Couch, zwei Fauteuils, zwei Schränke, einer für Küchenutensilien und einer für den Wohnzimmerbereich, ein tragbares Radio und ein Fernsehgerät Platz haben. Ach ja, ein niederes Kästchen, auf dem Blumen stehen, schlummert auch noch in einer Ecke. Der nächste Raum ist mein Zimmer, in dem nur ein Bett, ein Kasten und ein Schreibtisch mit Bürosessel stehen. Immer latschen sie durch mein Zimmer. Wenn sie schlafen gehen, latschen sie durch und wenn sie aufwachen, latschen sie durch. Das ist deshalb, weil ihr Schlafzimmer nach meinem Zimmer kommt. Es kommt. Es wandert um die Ecke. Manchmal frage ich mich, was sich Architekten bei der Planung von Wohnungen so denken. Wahrscheinlich sehen sie nur die Geldscheine, die ihnen von weitem winken.

Wir leben schon sechzehn Jahre in dieser düsteren Wohnung. So alt bin ich nun. Sie hat wirklich kleine Fenster. Die Wohnung, nicht ich. Ich habe vielleicht auch kleine Fenstern oder viel mehr gar keine. Nichts und niemanden lass ich in mich reinschauen. Nur der Balkon, ebenfalls ziemlich klein, lässt ein bisschen Licht ins Wohnzimmer, wenn die Sonne scheint. Meist ist bei uns das Licht eingeschaltet, weil es sonst zu finster ist. Mir fehlt die Luft zum Atmen in dieser Wohnung. Deshalb gehe ich lieber rüber ins andere Haus und ärgere die dicke Frau und ihren dicken Sohn, samt ihrer Bauchrednerpuppe. Sie mögen es gar nicht, wenn ich – Bauchrednerpuppe – sage, weil sie noch immer denken, die Puppe sei ihr verstorbener Mann und verstorbener Vater, der im Krieg gefallen ist. Als Ersatz hockt die Puppe im Fauteuil. Und manchmal trägt der Sohn sie runter zum Fluss. Dort setzt er sie entweder auf das Schaukelpferd oder ans Ufer, in der Hoffnung, das Wasser würde sie mit sich treiben. Mit sich auf Nimmerwiedersehen treiben. Aber diese Hoffnung gibt es nicht. Es gibt sowieso kaum noch Hoffnung für diese Menschen, die hier leben. Alles kaputte Existenzen. Ich habe ihr noch am ersten Tag, als sie mich holten, gesagt, sie würde mit uns nicht glücklich werden. Vater würde weiter saufen. Irgendwann. Wenn es mit ihr langweilig wird, wird er wieder über die Brücke in die Stadt gehen und weiter saufen. Aber er wird sie nicht schlagen. Dazu war er bereits zu müde. Noch eine Frau verlieren. Das wagte er nicht. Und wieder ist alles so unwirklich, nachdem ich die Betten endlich überzogen habe. Ihre Betten! In dieser Unwirklichkeit verlasse ich wieder das unwirkliche Haus. Ich habe noch ein paar Tage Ferien, bevor es wieder über die Brücke in die Stadt in die Schule geht. Das letzte Geld haben sie für mich zusammen gekratzt. Für die Schule. Damit es mir einmal besser geht. Und dann dankt dieses Gör den lieben Menschen mit all diesen Frechheiten. Ach, wenn es nur Frechheiten wären! Zumindest sagen sie das. Aber Menschen übertreiben immer. Vater meint, er ist übrigens der einzige, der das sagt, ich sei halb so schlimm, wie ich aussehe.


Ganz weit oben schrieb ich „Mir kommt der Verdacht, dass dieses Leben ein Vorgeschmack auf das nächste Leben ist“ und ging nicht weiter darauf ein. Zumindest nicht wirklich. Der Verdacht erhebt sich deshalb, weil sich niemand sicher sein kann, ob der Vater vielleicht doch wirklich ist und man die Puppe nur deshalb vorschiebt, weil ihm der Unterkiefer fehlt. Die Puppe hat wenigstens einen, auch wenn dieser wackelig ist. Aber was ist mit dem Pferd? Warum ist es in anderen Momenten plötzlich ein Schaukelpferd? Selbst die schnellen Sequenzen erstaunen mich. Von einem Lidschlag zum anderen befinde ich mich in einem anderen Zimmer, ohne Schritte zurückgelegt zu haben. Passiert das alles nur mir oder auch den anderen? Fragen habe ich mich bis jetzt noch nicht getraut. Warum dieser Verdacht? Der Vorgeschmack auf das nächste Leben? Weil es wie in einem Traum ist. Ja, okay, das Leben ist ein Spiel, also kann es durchaus auch ein Traum sein. Warum auch nicht? Aber ich meine das anders. Nachts gibt es ja so genannte Träume. In ihnen ist alles möglich. Jede Verwandlung. Und jedes schnelle Wechseln zu anderen Orten, ohne sich bewegen zu müssen. Einfach schnipp! Weg bin ich. An einem anderen Ort. Nur so einfach geht es im Wachzustand nicht. Man wird überrascht, weil es nicht willentlich ist. Wahrscheinlich habe ich im letzten Leben diese Übung verpasst. Das luzide Träumen. Bewusst träumen. Und jetzt überrumpeln mich die wirklichen Träume. Mal bin ich hier. Mal bin ich dort. Eben war ich noch im Schlafzimmer meines Vater und seiner alten Schlampe, um ihre Betten frisch zu überziehen und jetzt stehe ich an der Brücke. Ich weiß nicht, wie oft ich sie schon überquert habe. Sicher mehrere tausend male. Morgens in die Schule. Mittags nach Hause. Manchmal auch nachmittags, wenn ich von der Stadt etwas einkaufe. Hier gibt es nichts Kaufbares. Nur diese zwei Häuser und unten am Fluss ein Bootshaus. Der Weg in die Stadt führt also über diese Brücke. Es ist eine ganz gewöhnliche, alte Holzbrücke, die schon längst erneuert werden müsste. Bei jedem Schritt knarrt sie, als würde sie jeden Moment einbrechen. Was ja nichts anrichten würde. Der Fluss ist nicht wirklich tief. Vielleicht an der tiefsten Stelle zwei Meter, höchstens zweieinhalb. Und das auch nur in der Mitte. Außerdem kann man ihn nicht direkt Fluss nennen. Eher Bach. Ein etwas breiterer Bach. Aber wie schon erwähnt, kann er bei Unwetter durchaus zu einem reißenden Strom werden. Ich mag den Fluss und mag es, auf der Brücke zu stehen und über das Geländer nach unten zu starren. Dann setzt ein ähnliches Schwindelgefühl ein, wie auf der Schaukel vor dem zweistöckigen Haus, in dem ich lieber wohnen würde als im grauen, düsteren Haus mit den kleinen Fenstern. Es liegt nicht nur an der Raumaufteilung. Es liegt auch an den Fenstern und vor allem an den Bewohnern. Die zwei Dicken mit ihrer Puppe, die alte Witwe, und oben zwei jüngere Paare, die sich beide – ja, wirklich beide, als ob sie voneinander anziehen, denn immerhin wohnen sie gegenüber im ersten Stockwerk – ständig streiten und anplärren. Ganz oben wohnt angeblich ein alter Herr, der niemals die Wohnung verlässt. Das, was er so zum alltäglichen Leben braucht, lässt er sich liefern. Ich habe ihn nur einmal gesehen, als er kurz auf der Terrasse war. Eine beeindruckende Erscheinung! Fast war ich versucht, ihn „Gandalf“ zu rufen. Er sieht wirklich wie der alte Zauberer aus „Herr der Ringe“ aus. Langes Grauhaar, langer Graubart und einen seltsamen Hut hatte er auch auf. Und wenn ich mich nicht ganz täusche, trug er sogar einen grauen Umhang. Gandalf, der Graue. Aber ich rief ihn nicht. Er war zu schnell wieder hinter der Balkontür verschwunden. Ihm gegenüber wohnt ein älteres Ehepaar. So um die 40 oder 45. Älter nicht. Sie sind kinderlos. Die Frau muss jede Woche einmal ins Krankenhaus. Irgendetwas mit den Nieren. Wer meint, dass diese Bewohner seltsam sind, kennt die nicht, die im grauen, düsteren Haus wohnen. Ganz oben sind wir, der Alkoholiker mit seiner alten Schlampe und dem missratenen Gör. Neben uns wohnt ein Althippie, der ständig stoned ist und laufend Musik aus den 70igern spielt. Unter uns wohnen zwei alte Frauen, denen ich es wirklich zutrauen würde, dass sie auf ihre Besen durch den Nachthimmel fliegen. Sie sind angeblich Zwillingsschwestern. Beide bucklig, immer schwarz gekleidet und eine Fratze zum davonlaufen. Also wirklich genauso, wie man sich so alte Hexen vorstellt. Krumme Nase, Warzen im Gesicht, rot unterlaufene Augen, schmale Lippen und ein zahnloses Maul. Manchmal gehe ich sie besuchen, weil es in ihrer Wohnung ziemlich abenteuerlich aussieht. Darauf komme ich sicher noch zurück. Neben den beiden Hexen wohnt eine echte Hure. Sie schleppt jede Nacht einen anderen Kerl an. Man darf sie nicht ansehen. Wenn man das tut, schreit sie gleich: „Schau mich nicht so blöd an! Verzieh dich!“ Ich glaube, sie ist auch ständig betrunken. Einmal ist sie schon mit meinem Vater nach Hause gekommen. Beide torkelten über die Brücke. Beide fielen hin. Beide rappelten sich wieder hoch und torkelten weiter. Und dann stand schon die alte Schlampe an der Tür und kreischte. Ganz unten ist eine Wohnung frei. In der anderen wohnt eine Großfamilie aus dem Ausland. Mann, da geht es zu! Und hässlich sind die alle! Also ein echtes Horrorhaus, wenn man es genauer betrachtet. Ich kann mir nicht vorstellen, wie eine Familie, bestehend aus Vater, Mutter, Großmutter, drei Söhnen und zwei Töchter in einer derart kleinen Wohnung leben können. Das mittlere Zimmer, gedacht als Kinderzimmer, ist gerade mal zweimal drei Meter groß. Da wären zwei Kids bereits überfordert. Das elterliche Schlafzimmer ist ein wenig größer, wäre aber auch nichts für fünf Kinder. Gut wäre, wenn man ihnen erlauben würde, die Wohnung nebenan zu nutzen. Aber vielleicht tun sie das eh, weil ich einen der Jungs, den, deren obere Zähne fast gerade vorstehen, dass er den Mund niemals zu bekommt, aus dem Fenster der freien Wohnung springen sah. Und jetzt stehe ich noch immer auf der Brücke und blicke in den Fluss, weil ich es nicht ertragen kann, die Frau dort stehen zu sehen.


Das Licht, wenn es denn Licht ist, erscheint noch immer wie zwischen Tag und Nacht. Das, was ich im Moment betrachte, sehe ich in einem matten Lichtkegel. Rund um und je weiter weg vom Lichtkegel wird es immer dunkler, bis zur absoluten Schwärze. Und doch ist es weder Tag noch Nacht, auch wenn ich eher zur Nacht tendiere. Zur Sturmnacht. Mein Leben bestand bisher aus lauter Sturmnächte. Ich weiß auch nicht, wie ich auf diesen Begriff komme. Vielleicht liegt es an ihr, die drüben auf der Brücke steht. Sie zögert noch, darüber zu gehen. Die Frau, nein – es ist eine Dame, eine echte Dame – sieht wie eine Erscheinung aus. Ich finde sie wunderschön, auch wenn sie nicht mehr ganz jung ist. Vielleicht um die 40? Eigentlich sieht sie alterslos aus. Und gepflegt, aber nicht so aufgedonnert wie die alte Schlampe von meinem Vater.

Vielleicht liegt es aber viel mehr an den Hexen, weil sie da, die Dame. Es sind tatsächlich Hexen, die beiden hässlichen Zwillingsschwestern, mit ihren Buckeln und grässlichen Fratzen, vor denen jedes kleine Kind davon laufen würde. Vor allem dann, wenn sie ihr Maul aufreißen und leise kreischen. Ein furchtbares Geräusch, das immer höher wird und man schließlich wirklich weglaufen muss, weil die hohen Töne im Kopf wehtun.

Als ich das erste Mal in ihre Wohnung kam, ist das schon etwas länger her. Vielleicht zwei oder drei Jahre. Sie lockten mich direkt in ihre Wohnung. Sie kamen gerade vom Einkaufen aus der Stadt. Irgendwie konnte ich mir damals schon nicht vorstellen, dass sie die beiden Schreckschrauben in ein Geschäft rein lassen. Selbst in der Stadt auf den Gehwegen müsste man ihnen angewidert ausweichen. Übrigens ist das, was ich nun erzähle, ein großes Geheimnis. Niemand weiß etwas darüber außer natürlich die beiden selbst und ich. Aber auch wenn ich es weiter erzählen würde, niemand würde mir das glauben. Die eine war bereits durch die offene Tür geschlüpft. Die andere drehte sich nach mir um, als ich gerade über die Treppen runter sprang. Ich musste einfach stehen bleiben. Sie starrte mich mit ihren blutunterlaufenen Augen an, hob die Hand und winkte mit ihrem gichtigen Zeigefinger wie eine echte Hexe. Sie lächelte sogar mit ihrem zahnlosen Maul, dass es mir heiß und kalt über den Rücken lief. Ich schluckte, folgte ihr aber doch mit klopfendem Herzen. Wie ich schon sagte, ihre Wohnung ist abenteuerlich. Zuerst meint man, in einen Dschungel einzutreten. Riesige Pflanzen füllen das Vorzimmer, wie ich sie noch nie gesehen habe. Das Seltsame daran ist, dass sie nicht nur aus Töpfen, sondern auch aus dem Boden sprießen. Ich ging damals auf einem Erdboden. Auch heute würde ich auf einem Erdboden gehen, da sich an der Einrichtung nichts geändert hat, außer vielleicht, dass die Pflanzen noch fülliger geworden sind. In der Wohnküche, die natürlich keine Wohnküche war und ist, gab und gibt es kaum Möbel. Rund um die Mauer liegen Matratzen, die mit bunten Decken belegt sind und in der Mitte des Raumes befindet sich eine Feuerstelle. Richt gelesen! Eine Feuerstelle! Eine offene Feuerstelle, wie man sie beim Campen oft sieht, mit glühen Holzscheiten. Und damals glühte sie noch, ohne den Boden zu verbrennen. Die erste Hexe war bereits in den nächsten Raum gegangen, in dem ein Tisch mit vier Sesseln stand. Rund um am den Mauern sah es aus wie in einem Chemielabor. Und abermals jede Menge Pflanzen und Kräuter, aus denen sie Cremen und Tinkturen herstellen. Der nächste Raum war wohl das einzige Zimmer, das zweckmäßig eingerichtet war. Mit zwei uralten Himmelbetten, die sie „antik“ nannten und ebenso uralten Kleiderschränken. Übrigens war auch das Bad mit dem WC sozusagen zweckmäßig eingerichtet. Und dann kam der Hammer! Der echte Hammer, wo ich dachte, jetzt haben sie mir wirklich das Gehirn aus dem Kopf geschlagen. Ich bekam natürlich keinen Schlag, nicht mal einen Kratzer. Das Gefühl war nur psychisch, als urplötzlich aus den beiden Schreckschrauben zwei wunderschöne, junge Frauen wurden. Wunderschön wäre vielleicht zuviel gesagt, denn das ist nur die Dame an der Brücke. Schön sind die beiden schon, aber eventuell nicht gerade das, was man unter Frauen wirklich versteht. Und dann sagten sie, dass sie mehrere Gestalten annehmen können. Also nicht nur die, die sie aussehen lässt, wie zwei weibliche Bodybuilderinnen. Als ich sie fragte, wie sie denn wirklich aussehen, lachten sie und meinten, dass es so was wie „wirklich“ in dieser Welt gar nicht geben kann.
 
Die Hexen gaben der Dame ein Zeichen. Es kann gar nicht anders gewesen sein, als ich ihnen sagte, ich möchte endlich einen Menschen kennen lernen, den ich bewundern kann, zu dem ich hoch blicken kann, dem ich vor allem vertrauen kann. Und dein Vater? – fragten sie wie aus einem Munde. Ach, der! Wahrscheinlich wollte er mich auch nicht und musste mich zwangsweise behalten, weil mich die von der Fürsorge nicht mitgenommen haben. Selbst damals nicht, als ich die Bauchrednerpuppe der zwei Dicken vom Balkon werfen wollte. So eine Kraft hätten wir der Kleinen niemals zugetraut. Zu zweit mussten wir sie nieder ringen und den Alten von ihr befreien. Dabei ist es doch nur eine Puppe! Warum sehen sie das nicht? Warum sehe nur ich das so? Ja, es stimmt tatsächlich. Die beiden Hexen wohnten damals, als das passierte und sogar die Polizei da war (jetzt ist es nicht mehr so dunkel und ich erinnere mich wieder warum sie da war), noch nicht in dieser Wohnung. Ich weiß auch nicht, wo sie früher wohnten. Wahrscheinlich in der Stadt oder in einer anderen Stadt, einem anderen Land. Noch habe ich sie nicht nach ihrer Vergangenheit gefragt. So was ist mir peinlich. Ich will ja auch nicht, dass sie mich nach meiner Vergangenheit fragen. Habe ich überhaupt eine? Und eine Zukunft? Und nochmals ja, es stimmt tatsächlich, dass ich mir die Puppe vom Fauteuil schnappte, auf den Balkon zerrte und über die schmale Brüstung werfen wollte. Meine Güte! Es ist ja nicht hoch und es wäre echt nichts passiert. Vielleicht hätte sie ein paar blaue Flecken davon gehabt. Die wohnen doch im Parterre! Das sind keine zwei Meter bis zum Boden. Mein Vater? Der war damals wieder mal auf Tournee, wie die alte Schlampe das so nennt. Von einer Kneipe zur anderen. Das konnte oft eine gute Woche dauern. Und ich hab es ihr von Anfang an gesagt. Mit dem wirst du nicht glücklich. Das einzige, was er kann, ist saufen. Und wenn er besoffen ist, kann er besonders gut toben. Aber ganz ehrlich, mir hat er bis jetzt noch nichts getan. Na ja, angeschubbst hat er mich mal. Und dann bin ich gegen die Kommode gefallen. Mit dem Gesicht voraus. Deshalb hab ich jetzt so eine platte und etwas krumme Nase. Ich weiß, Schönheit bin ich keine und Schönheitswettbewerb werde ich auch nie einen gewinnen. Aber das war wirklich das einzige Mal. Er schreit einfach nur herum und tritt auf Dinge, die ihm im Wege sind. Das dauert eine Weile, bis er sich irgendwohin fallen lässt und einschläft. Manchmal habe ich ihn ins Bett geschliffen. Aber meistens habe ich ihn einfach liegen gelassen und die Wohnung verlassen. Es war dann eh Zeit zur Schule zu gehen, da er die ganze Nacht durchgesoffen hat. Und das, obwohl es hier weder Tag noch Nacht gibt. Ich weiß nicht, wonach sich die Leute hier richten. Es muss wohl jeder eine Uhr haben. Oder ein Handy oder so was. Ich hab beides nicht. Deshalb kam ich oft zu spät zur Schule und musste schon mehrmals eine Klasse wiederholen. Aber dieses nächste Schuljahr schließe ich positiv ab und hab die Schule endlich hinter mir. Ich bin also nicht nur hässlich, sondern auch dumm.

Die Dame ist noch immer da. Ganz am Anfang neben dem Brückegeländer steht sie und hält sich mit einer Hand am Holzgeländer fest. Obwohl sie Jeans und einen lässigen Sweater an hat, wirkt sie elegant. An den Füßen trägt sie Converse. Solche Patschen hätte ich auch gerne, aber ich bekam in einem Billigshop schwarze Schnürstiefel, die man auch im Sommer tragen kann, wenn es denn so etwas wie Jahreszeiten hier geben würde. Es gibt ja nicht mal einen Tag-und-Nacht-Unterschied! Ihr Haar ist dunkel und halblang. Es glänzt, obwohl es keine Sonne zum glänzen bringt. Ja, sie ist da, weil ihr die beiden Hexen ein Zeichen gegeben haben. Sie haben mir einen Engel geschickt. Einen Engel aus Fleisch und Blut.

Eben fahren die dicke Frau und ihr dicker Sohn mit der Puppe spazieren. Sie haben sie in einen Rollstuhl gesetzt. Jetzt setzen sie gerade an über die Brücke zu der Dame hinüber zu fahren. Nein, nicht direkt zu der Dame. Aber in ihre Richtung. Meistens fahren sie unten am Fluss entlang und nicht in Richtung Stadt. Jetzt sind in Augenhöhe der Dame. Sie scheint sich zu erschrecken und hält die Hand, die eben noch auf dem Geländer lag, vor dem Mund und wendet sich ab, zum Fluss runter. Vielleicht ist sie gar nicht erschrocken, sondern kann das Lachen nicht zurückhalten, weil die beiden mit einer Bauchrednerpuppe im Rollstuhl spazieren fahren. Es sieht ja echt verrückt aus. Und wie die Puppe da drinnen sitzt! Als wäre sie wirklich lebendig. Das Gesicht haben sie ihr wieder, bis auf die Augen, mit einem Tuch verhüllt. Jetzt sind sie endlich weg und ich kann mich wieder auf die Dame konzentrieren, die noch immer zum Fluss runter blickt. Gerne würde ich zu ihr rüber gehen. Ich habe auch schon mehrmals dazu angesetzt. Aber ich habe Angst, dass sie mich abweist.


Jeden Tag ist sie da. Zur selben Stunde. Ich weiß das nicht, aber ich fühle es. Menschen haben auch eine innere Uhr. Wie die Tiere. Hunde vor allem. Der Althippie hatte mal einen Hund. Eine Promenadenmischung, wie er es nannte. Das war ein echter Köter. Wie man sich halt einen echten Köter vorstellt. Undefinierbare Farbe, vielleicht graubraun oder so, nicht klein, nicht groß, lange dürre Beine, einen kurzen dicklichen Rumpf, eine runde, kleine Schnauze, herabhängende Ohren und einen Blick aus dunklen kugelrunden Augen, wo einem so richtig warm ums Herz wurde. Der Althippie sagte, der Köter sei ihm zugelaufen. Zwei Jahre war er bei ihm, dann wurde er krank und schlief einfach friedlich in der Wohnung für immer ein. Der Althippie und ich haben dann Rotz und Wasser geheult. Seit dem Tod von Köter (wir nannten ihn wirklich so), bin ich nie wieder in der Wohnung des Althippies gewesen. Habe ich schon erwähnt, dass ich Tiere liebe? Menschen hingegen mag ich nicht. Zumindest mag ich nicht viele Menschen. Der Althippie ist ganz okay, aber mögen tu ich ihn nicht wirklich. Die Dame, die seit seiner Woche jeden Tag an der Brücke steht, mag ich. Und die beiden Hexen. Vielleicht würde ich auch den Herrn Gandalf mögen. Aber der lässt keinen an sich ran. Einmal hab ich die beiden Hexen gefragt, ob sie nicht seine Bekanntschaft machen möchten, da er sehr gut zu ihnen passen würde. Der Hexenmeister und die zwei Hexen. Dabei sollte ich doch meinen Vater und seine alte Schlampe mögen, die so viel für mich getan haben. Die alles tun, damit ich zur Schule gehen kann, die ohnehin Pflicht ist. Würde ich nicht zur Schule gehen, müssten sie Strafe zahlen. Das ist jetzt ein neues Gesetz. Die Pflichtschule muss gemacht und erfolgreich beendet werden. Dann kommen die Lehrjahre. Irgendwas muss man lernen. Egal was. Hauptsache man macht eine Lehre. Man kommt sich bereits wie in einer Diktatur vor, so sehr wird über einen bestimmt. Das muss man machen. Das darf man nicht machen. Gesetze wohin man schaut. Rauchen ist auch überall verboten. Hat mich eh nie interessiert. Rauchen und saufen überlasse ich den anderen. Mir liegt nichts an meinem Leben. Nichts an meiner Gesundheit. Lange leben und Gesundheit sind nicht der Grund, warum ich diese Laster lasse. Es schmeckt mir einfach nicht. Genauso wenig wie mir Gänseleber schmeckt. Die alte Schlampe hat sie mal vom Einkaufen mit nach Hause gebracht. Sie war in einem Feinkostladen, wo es das Zeugs gab. Ich hab sie ausgespuckt, so eklig hat’s geschmeckt.

Warum kommt sie eigentlich nicht rüber? Und was will sie letztlich hier? Kommt sie meinetwegen? Warum habe ich das Gefühl, dass sie meinetwegen kommt? Und warum habe ich das Gefühl, dass ich sie kennen sollte? Ich wage nicht, diesen leisen, ganz im Hintergrund befindlichen Gedanken auszusprechen. Meine Mutter? Meine leibliche Mutter? Jetzt habe ich es doch gewagt. Sie könnte es sein. Meine Mutter ist eine Dame. Ein wohliger Gedanke. Jetzt sieht sie mich an und lächelt.

Wie komme ich nur auf den Gedanken, dass es die beiden Hexen waren, die sie her gerufen haben? Her gerufen durch Zauberkraft. Natürlich! Hexen können das.

Ich lächle zurück. Zumindest versuche ich zu lächeln, was wohl eher wie eine unglückliche Grimasse aussieht. Ich lächle nicht gerne. Eigentlich lächle ich niemals. Und lachen? Ich weiß gar nicht, wann ich das letzte Mal gelacht habe. Oh ja, ich weiß es, aber das stellt mich abermals in ein ganz schlechtes Licht. In dieses düstere Licht, das mich ständig umgibt. Dieses Licht, das weder Tag noch Nacht durchlässt. Das letzte Mal habe ich gelacht, als ich die Puppe über die Balkonbrüstung werfen wollte und die beiden Dicken mich davon abhalten wollten. Wie die beiden schrieen! Und ich habe sie ausgelacht. Es war kein echtes Lachen. Es war ein Auslachen.

Jetzt lächle ich ehrlich und echt. Ich schenke der Dame aus ganzem Herzen mein Lächeln. Sonst habe ich nichts. Kein Geld. Vater gibt mir nie Taschengeld. Und die alte Schlampe schon gar nicht. Wenn ich in den anderen Wohnungen war, klaute ich ab und zu etwas. Nie viel. Nur ein paar Münzen. Nie Scheine. Ich brauche ja auch kein Geld. Essen und Bett habe ich zu Hause und irgendwohin geh ich eh nicht. Viele in meinem Alter gehen schon in die Discos oder zu Konzerte. Das ist mir alles viel zu laut. Ich mag schon Musik. Aber wenn, darf sie nicht zu laut sein. Der Althippie machte gute Musik. Und nie zu laut. Wegen Köter. Hunde haben empfindliche Ohren, sagte er. Deshalb hörte er stets in Zimmerlautstärke. Zimmerlautstärke! Ein seltsames Wort. Die Hexen haben, nein, eine von ihnen hat mich erwischt, als ich an ihrer Geldbörse war. Ich dachte schon, sie verwandelt mich in einen Frosch. Aber sie lächelte freundlich. An diesem Tag waren die beiden ganz normale, durchschnittlich aussehende Frauen um die 40. Und sie sagte, wenn ich schon Geld brauche, soll ich sie fragen und sie wird mir welches geben, wenn ich denn nicht zu viel verlange. Von da an klaute ich nichts mehr. Und wenn ich ein paar Münzen für Naschereien möchte, frage ich eine der Hexen. Ja, die beiden mag ich. Sie sind nett und nicht so wie die anderen Nachbarn. Die anderen Nachbarn reden schlecht über mich. Einmal sagte eine Frau von den zwei Paaren, die über den beiden Dicken wohnen, dass ich nicht alle Tassen im Schrank hätte. Das sagten sie vom Dicken auch. Damals, als man seine Hand in der Kassa seines Chefs entdeckte. Bei mir meinen sie es anscheinend anders, weil dann eine andere Frau zu der Frau, die das mit den Tassen gesagt hat, meinte, man sollte mich in ein Sanatorium bringen, weil dann vielleicht noch Hoffnung besteht. Hoffnung wofür?


Ich laufe. Ich laufe so schnell ich kann. Vorbei an den beiden Wohnhäusern. Runter zum Fluss. Den Fluss entlang bis zur Koppel. Dorthin, wo die Reitpferde sind. Ich laufe, bis mir der Atem ausgeht. Es ist nicht mehr weit, aber ich kann nicht mehr. Es sticht in der Lunge. Sport bin ich überhaupt nicht gewohnt. Irgendwo habe ich mal gelesen, dass Sport Mord ist. Oh, ich lese viel. Lesen ist mir immer leicht gefallen. Viel lieber habe ich alle möglichen Bücher gelesen als das gelernt, was von der Schule kam. Schulwissen ist Blödsinn. Schule ist Scheiße. Es gibt so viele Fächer, die man im täglichen Leben nie mehr braucht. Außer man wird Wissenschaftler oder Pfarrer und vielleicht auch noch Arzt. Aber dann geht man nicht in eine Pflicht- sondern in eine Privatschule oder höhere Schule. Es macht sich innere Unruhe breit, wenn ich nur daran denke, dass bald wieder die Schulzeit anbricht. Nächste Woche ist es so weit. Aber dieses Jahr muss ich es schaffen, diese Zeit endlich zu Ende zu bringen. So dumm bin ich ja nicht. Ich konnte schon lesen, als die andern in der Klasse noch stotternd die Buchstaben zählten. Aber Geschichte, Geografie, Physik, Mathe und all das Zeug mochte ich nicht. Okay, ich kann zählen und weiß ungefähr, wie viel ein Kilo ist. Wozu brauch ich mehr über Zahlen wissen? Und wozu muss ich wissen, was vor hunderten oder gar tausenden von Jahren passiert ist? Und wozu muss ich wissen, wie viele Einwohner Japan hat, wo sich das eh jeden Moment ändert? Japaner werden auch geboren und sterben tun sie ebenso. Also wird die Einwohnerzahl nie richtig sein. Ich werde Japan nie besuchen. Also wozu darüber etwas wissen? Der einzige Raum in der Schule, in dem ich gerne bin, ist die Bibliothek. Aber die besseren Bücher gibt es in der Stadtbibliothek, in der ich sogar Mitglied bin. Ich habe eine Mitgliedskarte und darf die Bücher viel billiger ausleihen.

Jetzt gehe ich langsam weiter und sehe schon die Koppel mit den Reitpferden. Es ist eine riesige Wiesenfläche, wo sich die herrlichen Tiere austoben können. Insgesamt sind es zwölf Pferde. Zwei davon sind Haflinger. Die beiden sind ein Pärchen. Die beiden sind mir am liebsten. Sie kommen sofort zum Zaun, wenn ich sie rufe. Auguste und August heißen sie. Die anderen sind große Reitpferde. Eines war sogar mal ein Rennpferd und hat Preise gewonnen. Jetzt darf es als Pensionist ein ruhigeres Leben haben. Es ist komplett schwarz und ganz schlank, mit langen, sehr langen Beinen. Es ist das größte Pferd unter ihnen. Rufus heißt es. Auch die anderen kenne ich beim Namen.

Ich glaube, die Dame hat mir etwas nach gerufen, als ich plötzlich los gelaufen bin. Es war die Angst, dass sie näher kommen könnte, dass sie mich ansprechen könnte. Dann wäre der Zauber vorbei. Dann wäre sie keine Dame mehr. Ich weiß das. Als eine neue Lehrerin in die Schule kam, war ich so fasziniert von ihr. Sie war der Dame sehr ähnlich. Oder ist die Dame ihr ähnlich? Auf jeden Fall hatte sie das netteste Lächeln, das ich je gesehen habe. Sie wurde unsere Mathelehrerin. Das sagt dann schon alles. So eine nette Dame unterrichtet Mathe? Warum auch nicht? Aber es wurde alles anders, als sie zu unterrichten begann. Das, was ich in ihr sah, löste sich von Tag zu Tag mehr und mehr in nichts auf. Sie wurde schon eine andere, als ich ihre Stimme hörte. Und dann sah sie mich einmal ziemlich böse an und meinte, ich sei der Schandfleck in der Klasse. Ab diesem Moment war sie eine Furie. Es gab nichts Schönes mehr an ihr. Nichts Damenhaftes mehr. Und diese Angst habe ich bei der Dame an der Brücke. Wenn sie mich anspricht, wird sie keine Dame mehr sein. Dann wird sie entzaubert sein. Und die Hexen haben mir doch eine sanfte, stille Dame herbei gezaubert. Auf jeden Fall werde ich sie fragen, ob sie das wirklich getan haben. Aber jetzt widme ich mich mal den Pferden. Die beiden Haflinger kommen schon angetrabt. Sie halten mich nicht reif für die Klappsmühle. So sagte die eine Frau zur anderen. Nicht Sanatorium. Sie sagte, das Mädel gehört doch in die Klappsmühle. Ich tu doch niemandem was. Nur, weil ich einmal die Puppe vom Balkon werfen wollte? Und weil ich manchmal seltsame Sachen sage? Ich sehe die Welt eben mit anderen Augen. In einem Buch habe ich mal gelesen, dass jeder die Welt auf seine ganz individuelle Art wahrnimmt. Menschen sind Individuen. Also nehmen sie auch individuell wahr. Ich bin nicht wirklich so dumm, wie die anderen glauben. Sie sind die Dummen. Man kann nicht mit ihnen reden. Nicht wirklich. Was heute gekocht wird, wie teuer die Gurken bei diesem oder bei jenem Supermarkt sind, wie man Schmutzflecken am besten aus der Wäsche bekommt – diese Themen interessieren mich einen feuchten Dreck. Wenn, dann möchte ich wissen, was ihnen schmeckt, wie ihnen das Vogelgezwitscher am Morgen gefällt und was sie dabei empfinden. Oder wie es ihnen geht, wenn die Blätter von den Bäumen fallen, ob sie da an den Tod denken und was sie vom Tod halten. Glauben sie an Geister, an Götter, an Engel und wie stellen sie sich diese vor? Lass diesen Blödsinn und lerne war Gescheites, - heißt es dann. Deshalb liebe ich Bücher. Sie erzählen mir von all dem, was ich wissen möchte. Dass sie auch von Menschen geschrieben wurden, lass ich lieber im Dunklen. Nein, das waren keine Menschen, das waren Genies. Oder Außerirdische. Oder Hexen, wie meine beiden Freundinnen, die mir die Dame herbei gezaubert haben. Mit den beiden kann ich mich annähernd gut unterhalten.

Jetzt, wo ich Auguste über die lange weiße Mähne streichle, kann ich wieder frei durchatmen. Manchmal reißt sie aus. Obwohl sie das kleinste Pferd von allen in der Koppel ist, springt sie locker über den Zaun und galoppiert den Fluss entlang, wo ich sie manchmal sehen kann und die anderen sagen, sie sei nur ein Schaukelpferd. Ach, sind das alles hier Schaukelpferde? Wer, in aller Welt, stellt Schaukelpferde auf eine riesige, eingezäunte Wiesenfläche? Langsam glaube ich wirklich, ich lebe in einer Welt voller Verrückter.
 
Als ich den Weg am Fluss entlang nach Hause trabe, fällt gerade ein Fisch vom Baum und dem Fischer in den Schoß. Diesmal ist es wirklich ein Fischer. Manchmal hocken sie alle paar Meter am Flussufer. Beinahe bewegungslos halten sie ihre Angeln, mit Köder, ins Wasser. Es handelt sich um einen großen Fisch mit langen Flossen. Ob man ihn essen kann? Versuchs doch, Kleine! Ich nehme ihn mit, aber nicht, ohne ihn vorher auszunehmen. Dabei habe ich schon mehrmals zugesehen, also weiß ich, wie das geht. Und schon schnappe ich mir das Messer, welches er neben sich liegen hat und schneide den Fisch am Bauch auf. Warum er, der Fischer, sich angeekelt abwendet, verstehe ich nicht. Auch wenn viel Gedärm raus kommt und ich das Gefühl habe, als würde der Fisch seltsame Laute ausstoßen, obwohl er tot ist, wendet sich ein Fischer doch nicht ab, wenn ein Fisch ausgenommen wird. Zu guter Letzt ziehe ich ihm die Schuppen noch mit dem Messer ab. So gut es geht. An manchen Stellen sperren sie sich ein wenig. Welch seltsamer Fisch, welche seltsam weiche Schuppen, wundere ich mich noch, als mich der Fischer erbost auffordert zu verschwinden.

Die alte Schlampe kreischt, als ich den gehäuteten und ausgenommenen Fisch auf den Küchentisch werfe und sage, dass es heute Fisch zum Abendessen gibt. Das wollte ich ohnehin. Ich wollte einem der Fischer einen Fisch abkaufen. Der aber scheuchte mich weg und sagte gar nichts über einen Preis. Na, hab dich nicht so. Ist doch nur ein toter Fisch. Das ist eine Katze! Das ist die schwarze Katze von nebenan, vom Veteranen. Bist du blind, du Trampel? Hast was an den Augen? Ich wusste es doch. Die ganze Welt ist närrisch.

Ich schnapp mir das tote Tier, eile die Treppen hinunter, zum Haus gegenüber, die Treppen an der linken Seite hoch und läute bei den Dicken. Es summt an der Eingangstür. Ich stoße sie mit dem Fuß auf, weil ich in beiden Armen das tote Tier halte. Und schon lugt die alte Dicke bei der Tür heraus. Auch sie kreischt, als ich ihr den Fisch hinhalte und sie frage, ob das ihre schwarze Katze, mit den leuchtend gelben Augen ist. Wahrscheinlich hat sie mich nicht gehört, denn sie läuft, noch immer kreischend, in die Wohnung. Jetzt erscheint ihr dicker Sohn und hinter ihm im Rollstuhl die Bauchrednerpuppe. Es sieht gespenstisch aus, wenn Puppen von selbst Rollstuhl fahren. Die Puppe fasst tatsächlich an die Räder und schiebt den Stuhl an seinem Sohn vorbei. Die Puppe nimmt das Tuch vom Gesicht und ich sehe den fehlenden Unterkiefer. In der Tat! Schemenhaft erscheint der bewegliche Unterkiefer und wackelt auf und ab. Sie sagt irgendetwas. Nicht nur mir. Sie scheint es zur dicken Frau zu sagen. Irgendwie klingt es nach: Jetzt reicht es aber! Und plötzlich steht hinter mir die alte Schlampe, die mir anscheinend nachgelaufen ist. Ich hab schon angerufen, - sagt sie und sieht mich drohend an. Steckt sie in die Klappse und lasst sie nie wieder raus, - sagt die Dicke schluchzend. Ich verstehe überhaupt nichts mehr. Stimmt schon, kein Fisch fällt von einem Baum. Aber es sah doch nur so aus. Es war die Angelschnur, an der er hing, dass es so aussah, als würde er vom Baum fallen. Dabei löste er sich nur in der Luft vom Angelhaken und fiel dem Fischer in den Schoß. Es war eindeutig ein Fisch. Es war ein toter Fisch. Ich würde niemals einem lebenden Fisch den Bauch aufschneiden. Man muss ihn auch sofort, wenn der Fisch von der Angel genommen ist, totschlagen. Sonst erstickt er. Ich liebe Tiere. Sie sind meine Freunde. Meine einzigen Freunde. Und die schwarze Katze? Immer habe ich sie gestreichelt, wenn ich sie draußen gesehen habe. Ihre leuchtenden Augen habe ich geliebt. Wie sie mich immer angesehen hat. Als würde sie jedes Wort, das ich sage, verstehen. Niemals würde ich einen Fisch mit einer Katze verwechseln.

Sie kommen! Ich höre schon das Horn. Horn? Bin ich verletzt? Ich blicke an mir herab. Ja, da ist Blut an meinen Jeans. Aber das ist nicht meines. Das ist Fischblut. Hört ihr? Es ist Fischblut! Und der Fisch war bereits tot! Verdammt, ich weiß, dass es ein Fisch war! Warum hört mir niemand zu?! Lasst mich los! Lasst mich gehen! Wenn das nächste Mal die Dame an der Brücke ist, werde ich mit ihr gehen. Versprochen! Ich gehe euch nicht mehr auf die Nerven. Irgendetwas pickt am Arm und Sekunden später wird mir schwarz vor den Augen.

Als ich wieder zu mir komme, liege ich in einem weißen Zimmer, in einem weißen Bett und bin mit Lederriemen an den Armen und Beinen ans weiße Bett gefesselt.
 
Es ist kein Aufwachen. Es ist viel mehr ein Abtauchen. Wie ich es beim Baden im Fluss kenne, wenn ich bis zum Grund tauche. Tauchen sei zu viel gesagt, da der Fluss, wie bereits mehrmals erwähnt, nicht tief ist. Aber das Gefühl dürfte dasselbe sein. Alles wird dumpfer. Man hört dumpf. Man sieht dumpf. Alles ist dunkler. Noch dunkler. Und die Stimmen so weit weg. Vielleicht sollte ich nicht hier sein. Ich hab es ihnen ja gesagt. Ich gehe mit der Dame in die Stadt. Dann habt ihr eure Ruhe vor mir und müsst keine Angst haben, mit einer Verrückten so nah zusammen leben zu müssen. Eine Verrückte? Bin ich doch nicht. Nur, weil ich die Welt anders wahrnehme als ihr? Wer sagt, dass nur eure Wahrnehmung richtig ist? Weil ihr die Mehrheit seid? Hat denn immer nur die Mehrheit recht?

Die Stimmen sind wieder da. Dumpfe Stimmen. Und ganz weit entfernt Nebelscheinwerfer. Es müssen Nebelscheinwerfer sein, da alles rund herum voll Nebel ist. Der dumpfe Blick. Die dumpfe Stimme. Ich will nichts mehr von euch sehen und hören. Lasst mich einfach in Ruhe und lasst mich mit der schönen Dame gehen. Vielleicht will sie mich gar nicht mit sich nehmen. Wenn sie meine Mutter ist, will sie mich sicher nicht mit sich nehmen. Sie hat uns schon einmal verlassen. Mich und Vater. Ich bin ihr deshalb nicht böse. Das war ich auch nie. Ich konnte sie durchaus verstehen. Sie hatte gar keine Zeit zu erkennen, dass der Mann, mit dem sie sich leichtsinnigerweise eingelassen hat, ein aggressiver Alkoholiker ist. Als sie schwanger war, war es zu spät. Das habe ich damals Vaters Schwester sagen hören. Wo hätte sie hin sollen? So jung noch und schwanger! Die Eltern haben sie raus geworfen. Sonst hatte sie niemanden. Aber das Baby hätte sie nicht im Stich lassen sollen. Es bekam einen Stich. Das Baby. Anscheinend. Sonst wäre ich nicht hier gelandet. In diesem weißen Zimmer. In diesem weißen Bett. Mit Lederriemen an Armen und Beinen angeschnallt.

Meter für Meter. Nein, es sind eher Zentimeter. Er sagte, das sind die Medikamente gewesen, die mich so dumpf wahrnehmen ließen. Er sagte, man wollte mich in dieselbe Welt zwingen, in der sie, die Mehrheit, leben. Und er wunderte sich, warum ich nur zwei Welten wahrnehmen kann. Ob ich es noch immer kann? Nach all diesen Medikamenten? Dies hier, in diesem weißen Raum, in diesem weißen Bett waren die wahren Sturmnächte. Er lächelte und meinte, die Sturmnächte kommen erst noch und ich werde aus dem Staunen nicht mehr herauskommen.

Zentimeter für Zentimeter kämpfte ich mich hoch und je mehr ich kämpfte, umso tiefer fiel ich in diese dunkle Dumpfheit zurück. Manchmal hörte ich seine Stimme: Kümmere dich nicht um die Vergangenheit! Lass alles zurück! Nur eines merke dir: Das Leben ist wie die Zusammensetzung eines Orchesters. Es ist die Musikhalle des Universums. Den Dirigenten kennt niemand. Aber man kann ihn spüren. Und vergiss nie, dass wir nur Beobachter sind. Wir dürfen niemals handeln. Für das Handeln sind andere zuständig. Du weißt ja, was dabei herauskommt, wenn Beobachter handeln. Dann fallen gelähmte Männer über den Balkon. Gewöhnliche Frauen werden zu Hexen. Eine liebliche Katze wird als Fisch gehäutet. Sicher war all das nicht deine Schuld. Denn wie konntest du auch wissen? Wir Beobachter sind die Speicher des Lebens. Deshalb ist es für uns so wichtig, alles zu beobachten. Genau beobachten! Und nur beobachten, ohne darüber zu urteilen, was geschieht. Urteilen darf nur der Dirigent, denn er möchte einst die perfekte Sinfonie vorführen. Erst wenn alles in harmonischem Klang funktioniert, die perfekte Sinfonie ertönt, ist auch das lebendige Universum vollkommen. Dann wird es wieder paradiesisch sein. Das Goldene Zeitalter wird anbrechen. Aber bis dahin werden einige einiges auf den Deckel bekommen, weil sie nicht auf den Dirigenten hören. Wie denn auch? Nicht mal du wusstest, dass es einen Dirigenten gibt, der genau weiß, wie das Leben gespielt wird. Nur er kennt die Regeln, nach denen wir uns richten sollen. Du fragst dich, wer uns da verarscht? Niemand. Es ist nun mal so. Das Spiel wäre doch langweilig, wenn wir sofort wüssten, wie es funktioniert.

Aber mal alles der Reihe nach. Ich greife nur deshalb vor, um nichts von den Worten des jungen Mannes zu vergessen, die mir jetzt gerade wieder einfallen. Wie gesagt, kämpfte ich mich Zentimeter für Zentimeter nach oben, um wieder Luft zu bekommen. Manchmal war mir, als würde ich ersticken, nicht genug Luft bekommen. Es gab nicht wirklich helle Momente, wie mir später manche der Patienten erzählten. Meine Momente wechselten von tiefste Nacht bis Dämmerung. Ich kann mich gar nicht erinnern, jemals helle Momente gehabt zu haben. Es gab keine Tage. Nur Nächte oder Dämmerungen. Das habe ich ja auch schon mehrmals erwähnt. Der junge Mann sagte, ich sei eine Nachtbeobachterin. Das nur nebenbei. Aber nun weiter. Als ich das erste Mal den weißen Raum verlassen durfte, kam es mir vor, als würde ich durch eine zähe Flüssigkeit waten. Ja, da wäre noch etwas zu klären, um keinen Widerspruch aufkommen zu lassen: Weiße Räume und weiße Betten sind hell. Obwohl ich erkannte, in einem weißen Raum, in einem weißen Bett zu liegen, war es für mich trotzdem Dämmerlicht. Das Weiß war nicht wirklich weiß, obwohl ich wusste, dass es weiß ist. Seltsam, nicht wahr? Aber es kommt noch seltsamer! Ich watete wirklich durch eine zähe, durchsichtige Flüssigkeit. Immerhin konnte ich meine nackten Füße sehen und das knieweiße Kleid, das eher wie eine Schürze gebunden war. Noch ging mir die Flüssigkeit nur bis zur Hälfte meiner Waden. Je weiter ich mich voran schleppte, mit einer Pflegerin an meiner rechten Seite, umso tiefer watete ich in die Flüssigkeit hinein, bis sie mir schließlich bis zum Hals hoch reichte. Ängstlich blickte ich auf die Pflegerin, die ebenso in der Flüssigkeit steckte. Da sie kleiner war als ich, war ihr Mund bereits von der Flüssigkeit verschlossen, was ihr anscheinend nichts ausmachte. Auch die anderen Menschen im nächsten Raum taten, als wäre es vollkommen normal, von einer zähen, durchsichtigen Flüssigkeit umschlossen zu sein und dabei atmen und sich frei bewegen zu können. Nur ich tat mir ungemein schwer, mich weiter zu schleppen. Als die Flüssigkeit meine Lippen erreichte, bekam ich Panik. Ich weiß nicht mehr, wie sich das bei mir äußerte. Auf jeden Fall waren plötzlich mehrere Pfleger und Pflegerinnen bei mir und ich spürte einen leichten Stich an der Hüfte. Das nächste, woran ich mich erinnern konnte, war, dass ich mich wieder im weißen Raum, im weißen Bett befand. Angeschnallt war ich diesmal nicht. Ich konnte mich also frei bewegen. Aber nur dann, wenn diese verdammte Flüssigkeit nicht da war. Sie war jedoch da, als ich vom Bett aufstand. Das Ganze wiederholte sich drei Mal. Als ich das dritte Mal nach der Injektion erwachte, stand der junge Mann an der offenen Tür und lächelte. Er hatte ein wunderschön strahlendes Lächeln. Sein Lächeln war das erste Helle, das ich wahrnehmen durfte. Das waren nur seine rosa Lippen um zwei blendend weiße, ebenmäßige Zahnreihen. Ich sah dieses Bild rund wie durch einen Feldstecher. Um dieses Bild herum wurde es dunkler und dunkler. Vorerst bestand der junge Mann also nur aus einem strahlenden Lächeln und einer leisen, sanften Stimme. Sie war nicht so dumpf wie die der Pfleger und Ärzte im Sanatorium. Er sagte etwas, aber ich konnte nur den Klang seiner Stimme lauschen. Der Sinn seiner Laute blieb mir noch verborgen.

Du solltest erkennen, dass nichts wirklich ist, dann kannst du atmen. Und ich erkannte. Irgendwie. Genauso wie er erkannte, nicht nur ein Mensch, sondern auch ein Vogel zu sein, als er sich todesmutig, vor mir, aus dem Fenster stürzte. Es war das Faszinierendste, was ich jemals gesehen hatte. Er öffnete beide Fensterflügel, breitete die Arme aus und flog durch die Gitterstäbe hindurch in den blauen Himmel. Ich konnte die Verwandlung wie in Zeitlupe sehen. Und doch war da noch der junge Mann, der auf dem Fensterbrett stand und gleichzeitig der kleine Vogel, der zum Himmel hochschwebte.

Die Seele ist zu groß, um einen einzigen Körper zu bewohnen. Alles ist beseelt. Sogar das kleinste Staubkörnchen. Er sagte so viele kluge Sätze. Ich verstand sie. Irgendwie. Ja, meinte er lächelnd, du wirst das alles auch selbst erlernen. Und wieder war da dieses runde Bild mit den rosa Lippen, die zwei blendend weiße, ebenmäßige Zahnreihen umrahmten. Wir sind nur Beobachter. Und die Verwandlungen? Ist das denn kein Handeln, das uns angeblich untersagt ist? Du musst unterscheiden lernen. Du musst lernen, die Unterschiede zu erkennen. Die beiden Hexen waren real und gleichzeitig irreal. Auch die beiden gewöhnlichen Frauen waren real und gleichzeitig irreal. Dasselbe war mit der Puppe und dem Veteranen. Die Hexen und die Puppe und womöglich auch das Schaukelpferd gehören in eine andere Dimension als die beiden gewöhnlichen Frauen, der Veteran und die Pferde in der Koppel. Und nicht zu vergessen, die Katze… Nein! Das will ich nicht hören! Schon gut, wir wissen doch, dass du niemandem Leid zufügen wolltest. Deshalb musst du lernen zu unterscheiden, wer und was in welche Dimension gehört. Und das geschieht durch das Beobachten, weil du eine Beobachterin bist. Und wer sind die Handelnden? Das kommt noch. Du wirst sie noch früh genug kennen lernen.

Nachdem der junge Mann aus dem Fenster gesprungen war, drang kaum etwas bis zu unserer Station durch. Aber irgendwie erfuhr ich trotzdem, dass er, nachdem er das Gitter aus der Verankerung gerissen hat, kurz darauf in den Tod stürzte. Geschah das nur in dieser Dimension? In welcher kann ich dich finden, kleiner Vogel? Ich sah es doch ganz genau. Du warst ein wunderschöner, kleiner grauer Vogel, der akrobatisch durch die Gitterstäbe segelte. Und wie du geflattert bist! Direkt in den Himmel hinein. Durch dich sah ich das ersten Mal den Tag in dieser Welt. Zuerst nur deinen Mund und deine weisen Worte. Aber als du zum kleinen grauen Vogel wurdest, wurde die Welt zum Tag.

Die Pflegerin glaubte mir nicht, als ich ihr sagte, dass du nicht tot bist, sondern in einer anderen Dimension als Vogel in den Himmel fliegst. Ja, ich weiß, ich sollte vor den Unwissenden schweigen, sonst spritzen sie mich wieder nieder. Wenigstens kann ich jetzt mein weißes Zimmer verlassen und in den anderen Raum durch die zähle Flüssigkeit atmend waten, wo die anderen Patienten sich zeitweise aufhalten. Dafür bin ich dir dankbar, kleiner Vogel. Wie stark du warst. Das sagten sie nämlich auch. Sie hätten dir niemals zugetraut, das Gitter mit einer derartigen Kraft heraus zu reißen. Damals hast du mir zugezwinkert und gesagt, du würdest dir die Kraft aus einer anderen Dimension holen, in der du ein immens kräftiges Wesen bist. Auch das werde ich noch lernen. Warum auch nicht, wenn ohnehin alles real und gleichzeitig irreal ist?

Ich vermisse den Fluss, der eigentlich ein Bächlein ist. Auch die Brücke vermisse ich, die eigentlich ein schmaler Steg ist, auf dem gerade noch jemand einen Rollstuhl fahren kann. Die breitere Brücke für Fahrzeuge ist weiter oben, in der Nähe der Pferdekoppel. Manchmal, wenn ich im weißen Raum, im weißen Bett liege, in dem ein neues Fenstergitter eingesetzt wurde, die Augen schließe, sehe ich den schmalen Steg vor mir und auf der drüberen Seite die schöne Dame. Und dann frage ich mich, in welcher Dimension sie wohl auf mich wartet. Manchmal denke ich auch über die klugen Worte des jungen Mannes nach, der nun als kleiner Vogel vor dem Fenster zwitschert. Ach, könnte ich nur die Vogelsprache verstehen. Du kannst alles, wenn du nur willst, - sagte er auch oft. Ich will ja! Das sei der falsche Wille. Er meine einen ganz anderen Willen, der viel mehr mit Überzeugung zu tun hat. Esoterischer Quatsch, - gab ich ihm zur Antwort und er lachte wieder. Der Geist ist trotzdem immer eins, auch wenn ich dies esoterischen Quatsch nenne. Manchmal findet ja auch ein blindes Huhn ein Körnchen. Geist lässt sich nicht wirklich teilen. Genauso wenig wie Wasser. Es wird immer ein ganz anderer Tropfen sein, der aus dem Meer isoliert wird. Immer? Nun ja, das sei dann das Wunder der so genannten Wiedergeburt, wenn es mal ein und derselbe Tropfen ist, der zum zweiten oder gar zum dritten Mal isoliert wird.

Ich erinnere mich an das Bild. Es war eine Brücke. Und gegenüber stand die Dame. Sie lächelte. Sie kam auf mich zu. Ganz langsam. Dann lief ich davon. Ich wollte sie nicht mit all denen, die ich kannte, gleichstellen. Sie sollte anders sein als alle anderen. Das sei ein noch idiotischerer Traum als mein gesamtes Leben, - sagte der junge Mann. Niemand ist anders als alle anderen. Wir alle sind ein und dieselbe Masse wie alles andere auch. Eingebildete Masse. Halluzinierte Masse, wenn man so will. Ja, wenn man will. Und nur so entstand Materie. Weil man will und wollte. Quatsch! Nicht nur, denn die Welt kann ja an und für sich sehr schön sein. Wer sagte nun was? Es ging so lange, bis wir beide nicht mehr wussten, wer nun was von sich gibt. Erst dann entschloss er sich zu fliegen. Mal sagte er – Quatsch. Und mal sagte ich – Quatsch. An und für sich sollte weder etwas schön, noch hässlich sei. Es ist. Das ist alles. Alle Beurteilung, alle Gefühlsregungen haben in der Geisterwelt keine Bedeutung. Dort ist alles. Rein und unverwundbar. Von ewig und unendlich hat er nie etwas gesagt. Da lächelte er nur milde und nannte es statt meiner esoterischen Quatsch. Rein und unverwundbar – trifft es eher.

Vater und seine Nutte wollen, dass ich für immer in dieser Einrichtung bleibe. So nennen sie es: diese Einrichtung. Aber das liegt nicht mehr an ihnen. Von nun hat endlich die Fürsorge übernommen. Ich unterstehe der Fürsorge. Es geht schon sehr seltsam in dieser Welt zu. Ob es in den anderen Dimensionen auch so zugeht? Der junge Mann, der mir nie seinen Namen nannte, meinte, es gibt noch viel schlimmere Dimensionen. Aber wenn ich einmal so weit bin, um bewusst in andere Dimensionen zu gehen, werden sie für mich weder gut noch schlimm sein. Das mit der Beurteilung und den Gefühlen muss ich noch viel eingehender lernen. Erst dann werde ich das Reine und Unverwundbare ebenso bewusst erkennen. Und erst dann kann ich mir den wahren Willen zunutze machen. Ich habe Zeit. Ich habe so viel Zeit zu lernen.
 
Der junge Mann ist wieder da. Er schien nie weg gewesen zu sein. Als ich den Aufenthaltsraum betrete, steht er am offenen Fenster, hält sich mit einer Hand an den Gitterstäben fest, während er hinaus auf den Park blickt, wo die weniger gefährlichen oder gefährdeten Patienten flanieren. Die zähe Flüssigkeit, die ich inzwischen gut im Griff hatte, verwandelt sich in dunkelbraunen, fast schwarzen Schlamm, der sich in alle Körperöffnungen frisst. Jede kleinste Pore meiner Haut füllt sich mit Schlamm, wird zu Schlamm. Und er trocknet. Er trocknet sogar sehr rasch.

Schlammwesen, wohin gehst du?

Und du? Bist du nicht mehr der kleine, freie Vogel?

Wo denkst du hin! Anscheinend hast du es noch immer nicht begriffen. Wir bewegen uns auf eine sehr sonderbare Art zwischen den Welten. Wir alle hier. Schau dich doch um. Die alte Frau hockt nur da und schaukelt ständig mit dem Oberkörper. Und der Mann dort im Eck. Er stiert nur nach unten vor sich hin, als würde auf dem Fußboden etwas Interessantes passieren. Du drehst ständig durch, wenn du diesen Raum betrittst, weil du diese irreale Situation hier nicht erfassen kannst. Nichts davon hat Bedeutung. Du musst tiefer blicken.

Irgendwie habe ich es satt, ihm zuzuhören. Er macht sich nur wichtig in dieser Einrichtung. So redet er auch mit den Pflegern. Heute sind nur Pfleger auf unserer Station. Pflegerinnen gibt es nur wenige. Die meisten haben Angst vor uns, weil wir so stark sind. Nun, wer schafft es schon, die eingemauerten Gitterstäbe heraus zu reißen?

Du weißt, dass du selbst es warst. Nicht wahr, Schlammwesen?

Vielleicht war es doch nicht der junge Mann, der geflogen ist. Möglich ist alles. Immerhin sagt er das auch oft. Geist lässt sich nicht trennen. Wir sind alle eins. Nein, nicht wir! Materie ist Trennung. Geist ist Einheit. Sind wir denn Geist? Nein! Wir sind Materie. Wir sind Schlammwesen.

Ich bin nicht geflogen. Im letzten Moment haben mich vier Pfleger zurück gerissen, niedergespritzt und im Bett niedergebunden. Die ganze Station ist dann davon betroffen. Diese Krankheit, die wir angeblich haben, verbreitet sich wie überschwappendes Wasser. Alle werden davon nass. Sogar die Frau, die ständig mit dem Oberkörper wackelt, sprang auf und drehte sich so lange um sich selbst, bis sie schwindlig wurde und stürzte. Zum Glück tat sie sich nicht weh beim Sturz. Wenn nur einer oder eine von uns durchdreht, egal wo, spürt das jeder und jede auf dieser Station. Hier sind wir alle eins. Hier gibt es keine Trennung. Hier sind die Gefährlichen und die Gefährdeten. Mich stufen sie in beide Gruppen ein. Ich bin also genauso gefährlich wie gefährdet. Der junge Mann sagt oft, ich sei wohl die gefährlichste auf der Station. Auf der geschlossenen Station, wo sie mich für immer behalten sollten. Sagt Vater. Und Mutter? Bist du meine Mutter, schöne Dame?

Es hat niemand nach dir gefragt. Nur einmal sind zwei Frauen hier gewesen, in deren Wohnung du einmal ein Lagerfeuer gemacht hast. Erinnerst du dich? Du dachtest, die Frauen selbst würden ihre Wohnung so einrichten, dabei warst du das und hättest fast die gesamte Wohnung abgefackelt. Du bewegst noch zu sehr zwischen den Welten. Zwischen den Dimensionen des Universums. So wirst du niemals zur Beobachterin werden.

Will ich das? Ich möchte doch nur wissen, ob die schöne Dame meine Mutter ist. Und ob es die schöne Dame überhaupt gibt. Ja? Es gibt sie? War sie da? Hat sie nach mir gefragt?

Schlammwesen, du solltest jetzt ein wenig schlafen und vor allem solltest du atmen. Atme! Der Schlamm ist nichts anderes als die zähe, durchsichtige Flüssigkeit. Es zählt nicht, ob etwas dunkel oder durchsichtig ist. Du kannst sehen, wenn du willst. Und du kannst atmen, wenn du willst. Atme!


Noch bevor die Sonne verglüht, wird die Erde erbeben und ihr wahres Gesicht zeigen. Ihr inneres Feuer wird alles auf und in ihr verbrennen. Zurück bleibt nichts.

Er ist zum Propheten geworden. Ständig steht er am Fenster und redet wirres Zeug von der Erde, der ein ganz böswilliger Geist innewohnt. Wir Menschen, sagt er, der junge Mann, der mich einst die Helligkeit erkennen ließ, - wir Menschen sind noch weniger als nichts, wenn wir logisch nachdenken. Marionetten, die an unsichtbaren Fäden hängen und sich nebenbei das Leben schwer machen. Das einzige Leben, das wir haben. Gott? Es gibt keinen Gott. Und wenn es einen gibt, liegt ihm nichts an uns Menschen. Aber er hat doch seinen einzigen Sohn für uns Menschen geopfert. Ich hab das gelesen, junger Mann, der mir seinen Namen nicht verraten will. Das gelesen, das Menschen geschrieben haben, um Macht über andere Menschen zu haben. Religionen sind Machtgeschäfte.

Manche sagen, der junge Mann sei gar nicht so daneben und hätte in manchen Ansichten den Durchblick. Manche sind gewisse Pfleger, die gerne mit ihm diskutieren. So wie ich. Er ist der erste Mensch, mit dem ich mich gerne unterhalte, seit es mir, laut Stationsärzte, besser geht. Vielleicht komme ich bald hier raus und werde auf eine andere Station verlegt. Dann dürfe ich auch im Park flanieren. Es wäre schön, wieder reine Luft zu atmen und das Grün der Erde zu sehen. Das Grün der Erde, das bald Vergangenheit sein wird, wenn sich die Prophezeiung des jungen Mannes erfüllen sollte.

Aber so bedenke doch, was das über uns aussagt, - fährt er hoch und seine hellen Augen quellen fast aus den Höhlen, - wir werden bald Geschichte sein. Nicht einmal mehr Geschichte, denn niemand wird etwas über uns wissen, da nichts von uns übrigbleibt, wenn es die Erde nicht mehr gibt. Verstehst du endlich, warum ich stets sagte, dass alles real und zugleich irreal ist? Aber der Geist bleibt. Rein und unverwundbar. Unveränderlich? Niemals. Er wird sich so lange verändern, bis er perfekt ist.

Ich freue mich auf die Verlegung und darauf, diesen esoterischen Quatsch nicht mehr hören zu müssen, den er von sich gibt. Die Pfleger lachen heimlich hinter seinem Rücken über ihn. Aber was, wenn er recht hat mit seiner Prophezeiung? Er sagte, wir müssen zum Geist zurückkehren. Nur dann können wir uns retten. Vor allem die Beobachter müssen zum Geist zurückkehren. Er weiß, dass auch ich über ihn lache und nicht glauben kann, was er sagt. Immerhin habe ich die Bibel gelesen, von der alle, die ich kenne, sagen, dies sei das einzig wahre Buch. Ganz ehrlich? Ich glaube weder der Bibel noch dem jungen Mann. Woran und was ich glaube? An das Nichts, das er so wunderbar prophezeit. Das Nichts, das mich schon immer umhüllte. Das Nichts, aus dem ich hervorging und zu dem ich wieder zurückkehre. Es ist wie der Geist, nur nicht rein und unverwundbar. Es ist einfach nur das Nichts, über das es absolut nichts zu sagen gibt.


Natürlich fühlt man sich als Nichts, wenn man bedenkt, wie groß das Universum im Gegensatz zu sich selbst ist. Es gibt da ein Video, wo man Unmengen von Galaxien zu sehen bekommt und man anscheinend mit einer außergalaktischen Megainfrarotkamera immer näher zum Geschehen zoomt, bis schließlich die Milchstraße erscheint und irgendwo an einem äußeren Kringel ein mikroskopisch kleiner Pfeil erscheint, der auf ein noch mikroskopisch kleineres Pünktchen zeigt und man lesen kann: Hier bist du. Schließlich wird auf das mikroskopisch kleine Pünktchen hin gezoomt und es erweist als blaugrüner Planet, genannt Erde. Es wird weiter gezoomt. Der Kontinent, auf dem du dich befindest, erscheint. Das Land, auf dem du dich befindest, erscheint. Die Stadt, in der du dich befindest, erscheint. Die Straße, in der du wohnst, erscheint. Und schließlich bist du zu sehen, wie du aus dem Fenster eines Reihenhauses schaust, das angeblich zum Schutz der Mieter videoüberwacht wird, weshalb es im Video so toll zu sehen ist. Und du fühlst dich aufgrund dieses Größenverhältnisses – Universum und du – auf jeden Fall wie ein Nichts. Dann aber blickst du genauer hin. Nicht nur auf dich, wie du aus dem Fenster schaust und es gar nicht mitbekommst, da es eine Aufnahme aus längst vergangenen Zeiten ist, - genauso vergangen wie der Blick zu den Sternen hoch, - und schaust auf die anderen Nichtse, die durch die Straßen wandern und plötzlich sehen sie aus wie kleine Spielegeln. Manche sind bunt, aber die meisten erscheinen in einem dumpfen Grau wie die Umgebung. Grau und wie in der Dämmerung. Sozusagen fast Nacht. Nebelige, graue Nacht. Und der Wind weht und entwickelt sich fast zum Sturm. Du solltest das Fenster schließen. Aber du tust es nicht, weil es von oben keinen Befehl dazu gibt. Die Figuren werden erst bewegt, wenn der Spieler es will. Du bist nicht der Spieler. Du bist nur ein Kegel von vielen, von unzähligen, denen ein bisschen was vom Spieler eingehaucht wurde. Gleichzeitig jedoch sind der Spieler und die Kegel eins, denn dieses Spiel muss gespielt werden und ohne Spiel gibt es keine Kegel und ohne Kegel kein Spiel. Der Spieler selbst ist davon nicht betroffen, denn er könnte, wenn er will, sich ein neues Spiel basteln.

Befinden wir uns jetzt in einem Raumschiff?

Nein, in einem Lift. Wir fahren nach unten. Du wirst verlegt. Erinnerst du dich nicht mehr?

Klar! Ich darf in den Park und mit den anderen Patienten flanieren. Ob ich die dementsprechende Garderobe dazu habe? Ich möchte gerne ein langes, fliederfarbenes Kleid mit Rüschen am Saum und am sehr tiefen Ausschnitt. Dazu einen breiten, ebenso fliederfarbenen Hut und ein langes Band daran, welches hinten bis zum Po runter hängt. Und ein buntes Rüschenschirmchen gegen die Sonne. Natürlich nur, wenn das möglich ist. Keine Sorge, ich dreh nicht mehr durch. Es sind nur Worte, die ich mit mir selbst wechsle. Ist es denn für Sie denn nicht auch sehr seltsam, wenn sie sagen, dass sie über etwas nachdenken müssen. Vielleicht sogar über sich selbst? Ich denke, also bin ich? Aber wer ist dieses Ich, das über sich selbst nachdenkt? Gibt es da noch ein zweites oder gar drittes? Irgendwie habe ich es schon immer gewusst, dass alles nur ein Spiel ist. Vor allem ein Spiel mit Worten. Überflüssigen Worten. Man nennt es Gott. Man nennt es Geist. Man nennt es Seele. Und man unterscheidet sogar zwischen Gott, Geist und Seele. Klar, damit es auch die Dummen verstehen, an denen man gebrauchtes Wissen verkaufen kann. Ein Kluger würde selbst denken. Über sich selbst nachdenken und erkennen, dass er gleichzeitig ist und nicht ist.

Eine Dame möchte dich sehen.

Ich weiß. Das gehört zum Spiel. Und ich werde gehorchen, weil ich nur die Beobachterin bin. Mann, bin ich froh, dass die mich nicht ernst nehmen. Der junge Mann hat tatsächlich etwas in mir bewegt. Und wenn ich weiter darüber nachdenke, wie sich ein Mensch nach so einem Video fühlt und sich bloß als sich bewegende Materie wahrnimmt, wird mir fast übel. Aber er wird weiterdenken, nämlich, dass diese sich bewegende Materie vielleicht vom Affen abstammt und als einzige Spezies der Erde ein Gehirn entwickelt hat, das über sich selbst nachdenken kann. Ein Gehirn, das anscheinend Bewusstsein entwickelt hat, das vorher nicht da war. Und dann wird er wahnsinnig. Kein Wunder! Gleichzeitig mit dem Gedanken, im Gegensatz zur Größe Universum und er selbst, ein Nichts zu sein und doch so etwas wie göttliche Fähigkeiten zu haben! Wie lässt sich das vereinbaren? Gar nicht! Aber manche von ihnen, wenn sie das wirklich bewusst erkennen, werden statt wahnsinnig, erleuchtet.

Die Dame und ich sitzen auf einer Bank draußen im Park. Die gewünschte Garderobe war leider nicht zu haben. Das nur nebenbei bemerkt.

Neben dem Lärm in meinem Kopf, den all diese eben erwähnten Gedanken machen, sagt sie ganz leise, dass alles gut wird. Ich lächle und sie glaubt, ich lächle aus Freude, weil eh alles gut wird. Nein, liebe Dame, ich lächle, weil alles IST. Alles kann nie gut werden, denn das Gute setzt immer auch das Böse voraus. Deswegen wäre es angebracht, sich nicht nur ständig Gedanken über sich selbst zu machen, sondern manchmal auch über den Gebrauch der Worte. Und wie heißt es dann, liebe Dame? Ja, genau! Alles ist!


Wie auch alles NICHT IST, sagt die Dame und entpuppt sich plötzlich als der junge Mann, der gar kein Patient, sondern ein Therapeut aus einer anderen Dimension des Universums ist. Und irgendwo im Süden eines mächtigen Landes wird gerade an einem Passagierraumschiff gebaut. Das Universum ist nur spärlich bewohnt. Leider. Denn würden manche phantasiebegabten Wesen ihre Phantasie beanspruchen, wäre dies nicht so. Natürlich reicht das nicht, um irgendwelche Planeten mit halbwegs intelligente Lebewesen auszustatten. Man muss auch an seine Phantasie glauben. So wie das bei Religionen der Fall ist. Leider, oder man kann auch Gott sei Dank sagen, ist auch der Glaube an Gott nicht sehr oft bedingungslos, was nicht weiter verwunderlich ist. Wer braucht schon einen Gott, der in der Mitte einer paradiesischen Landschaft einen Baum wachsen lässt, von dem die einzigen zwei Bewohner nicht essen dürfen? Das wäre ja noch okay, aber von sich selbst behaupten, man sei allwissend, stellt ja wohl alles in den Schatten. Wäre dieser Gott wirklich allwissend, hätte er dieses Verbot niemals aufgestellt und auch das von den zehn Geboten, man soll nicht lügen und nicht betrügen, ebenso wenig, denn er hätte wissen müssen, dass Menschen nun mal so sind, wie sie sind.

In einer anderen Dimension des Universums sind die Menschen phantasievoller und auch glaubwürdiger, denn dort haben sie keinen Gott, sondern einen bewohnten Planeten ganz in ihrer Nähe erfunden und demnach auch erschaffen. Er liegt vollkommen im Schatten des Planeten Erde, weshalb man ihn erst so spät entdeckt hat. Das heißt, die Entdeckung war zum selben Zeitpunkt wie die Erschaffung. Verstehen braucht man das nicht, aber akzeptieren. Dann hat man es leichter in dieser Dimension und wird nicht ständig in irgendwelche Sanatorien eingeliefert. In manchen Dimensionen des Universums gibt es nur den Erdschatten. Er ist wirklich nur ein Schatten und sonst nichts. In anderen wiederum ist der Schatten ein Schatten und zugleich steckt darin ein etwas kleinerer Zwillingsplanet der Erde. Das heißt, dieser Planet ist der Erde mit ihren Meeren und Inseln darin sehr ähnlich. Auch die Bewohner, bis auf einigen Ausnahmen, gleichen sich. Aber um den wirklich auf den Grund zu gehen, wird ein Passierraumschiff gebaut, um damit den Erdschattenplaneten und seine Bewohner zu besuchen.

All das erzählt mir die schöne Dame, bzw. der junge Mann, der zugleich mein Therapeut ist. Und ich höre still und unbeweglich zu. Man muss glauben, sagt sie, bzw. er immer wieder. Die Ärzte sagen, ich sei in den letzten Tagen in eine Art Wachkoma gefallen. Wenn die wüssten, was ich in diesem Zustand alles erlebe. Da fehlt es mir nämlich nicht an Glaube. Ebenso wenig an Erkenntnis. Ich will die Intelligenz der Menschen sicher nicht schmälern, denn einige von ihnen haben Großartiges geleistet. Aber Straßen und Städte zu bauen, tut der Erde weh und somit auch irgendwann einmal den Menschen selbst. So weit hätten sie denken müssen. Die Menschen. Vor allem die etwas intelligenteren Menschen. Unterirdisch hätte es auch keinen Sinn gemacht. Das wäre so, als würde man einem Menschen etwas vollkommen Unnötiges in die Leber oder in den Magen verpflanzen, wodurch er sich selbst nicht mehr entgiften und obendrein zu wenig Nahrung zu sich nehmen kann. Sowas passiert nämlich mit der Erde, wenn man zu viel in ihr herumstochert. Und schließlich später auch mit den Menschen und anderen Lebewesen auf der Erde. Aber mir will ja niemand glauben. Wollte man auch nie. Die spinnt ja! Die ist ja irre! So hieß es immer, wenn ich mal was zur Rettung der Natur gesagt habe. Außerdem, wer glaubt schon einem Teenager, der nicht mal die Grundschulen in einem durch schafft? Wohl niemand. Und niemand vermutet im Kopf so einer ein Gehirn mit den Fähigkeiten eines weltberühmten Astrophysikers. Das mit Recht, denn im Kopf so einer befindet sich grad ein halbwegs durchschnittliches Gehirn. Mehr ist auch nicht nötig. Bei niemandem! Es geht nicht immer ums Gehirn, auch wenn darin das Zentrum fürs Vorstellungsvermögen liegt. Hauptsache, dieses Zentrum ist groß genug. Alles andere, bis auf die Körpererhaltungssysteme, kann runtergefahren werden, wie man in der Computersprache so sagt. Dann geht es erst richtig los. Dann passiert wirklich das, was man ideale Sturmnächte, was man das echte Leben nennt. Alles andere ist Humbug und Zeitverschwendung. Ja, Zeitverschwendung, denn es braucht immer Zeit, wenn etwas getan werden muss. Natürlich beobachte ich nur, aber ich beobachte mit einem so enorm starken Glauben, dass alles, was ich glaube zu sehen, Wirklichkeit für mich wird. Auch das sagt der junge Mann, der mein Therapeut ist. Die schöne Dame lächelt nur schweigend.


Es ist ein schneeweiß glänzendes Raumschiff. Seine Form ist länglich und erinnert an eine dicke Zigarre, die auf vier Paar dünnen Füßen steht. Sie sehen wirklich wie Füße aus und scheinen sogar Zehen zu haben, die in schwarzem Gummischuhen stecken. Nicht ganz in der Mitte der riesigen Zigarre – sie dürfte an die 25 Meter lang sein, öffnet sich eine ovale Tür und eine Gangway wird heruntergelassen. An der Tür steht, als Stewardess verkleidet, die schöne Dame und winkt mir zu. Freudig eile ich hoch zu ihr und befinde mich urplötzlich in der Kommandozentrale, deren Fußboden aus Kunstrasen besteht. Ich darf direkt neben dem Kapitän Platz nehmen. Er sieht eher wie ein alter Seemann als wie ein Raumschiffkapitän aus. Selbst die Kleidung, in Marineblau, mit weißen Streifen und einem Anker an der rechten Seite des Jacketärmels, erinnert an Meer und Segelschiff. Auch die Stewardess ist ganz in Blau gekleidet und trägt eine Art Seemannmütze über dem dunklen, halblangen Haar. Sie lächelt mir aufmunternd zu und setzte sich ganz hinten im Raum auf eine Bank. Die Einrichtung besteht aus weißen Möbeln, die ziemlich normal aussehen. Eigentlich hätte ich mir das Innere des Raumschiffes futuristisch vorgestellt. Was immer das auch ist – futuristisch – auf jeden Fall hätte es mich überraschen müssen und als etwas darstellen sollen, was ich noch nie gesehen habe. Das tut es nicht, denn die Bänke hinten an den Wänden, wo unter anderem die schöne Dame, verkleidet als Stewardess, sitzt, sehen wie ganz normale weiße Bänke aus. Unbequem harte, weiß gestrichene Holzbänke. Nicht einmal die Steuerung sieht aufregend aus. Der Kapitän hockt in einem weißen Plastikschalensitz, über den (den Plastikschalensitz) ein Lammfell gelegt ist, vor einem ganz gewöhnlichen Lenkrad. Daneben befindet sich eine Gangschaltung wie bei einem alten Automobil. Nur die Frontscheibe ist etwas größer als bei einem Auto und zeigt plötzlich sensationelle Bilder vom Universum, das angeblich eine Sonde aus dem All schickt. Seltsamerweise hocke ich in einem blau geblümten Fauteuil. Der Kapitän meint, dies sei mein neuer Lieblingssessel, wenn wir im Aufenthaltsraum fernsehen dürfen. Dürfen? Ja, gewisse Sendungen, die uns nicht allzu sehr aufregen, dürfen wir uns ansehen. Das hier ist noch nicht die ganz unterste Station vor der Entlassung. Wir dürfen tagsüber zwar stundenweise in den Park, aber die Aufsicht ist noch immer sehr streng.

Langsam durchschaue ich diese sich wechselnden Sequenzen und kann bald richtig unterscheiden, in welcher Dimension ich mich momentan befinde. Der junge Mann meint, ich müsse nur geduldig sein und vor allem glauben. Glaube! Man muss glauben! Das ist nicht nur mein neuer Lieblingssessel, sondern auch mein neues Lieblingsmantra. Man muss glauben! Vor allem an sich selbst.
 
Es gibt aber auch eine andere Sichtweise. Es gibt immer eine andere Sichtweise. Es gibt sogar unzählige andere Sichtweisen. Manche wagen sogar zu behaupten, dass jedes Lebewesen, jedes einzelne Lebewesen seine ganz eigene Sichtweise hat. Warum sich also als Nichts bezeichnen? Warum nicht glauben, man selbst sei der Mittelpunkt des Universums. Ja! Das gesamte, unendlich große Universum dreht sich um mich selbst.

Die schöne Dame hat so was von recht. Warum auch nicht sich selbst als Mittelpunkt zu betrachten? Es klingt doch um einiges positiver als sich selbst als Nichts zu betrachten.

Es gibt da aber noch etwas zu bedenken, meint die schöne Dame und setzt sich in der Kommandozentrale des Raumschiffes neben mich auf die weiße Bank. Wenn sich nun jedes Lebewesen, sogar das winzigste Staubkörnchen (denn im Universum lebt alles) als Mittelpunkt des Universums sieht, was ist dann das Universum? Existiert es überhaupt? Oder existiert es immer so, wie der Beobachter es beobachtet? Verändere ich mich selbst, wenn mich andere beobachten? Verändere ich mich selbst, wenn 5 Personen mich unterschiedlich beurteilen, mich unterschiedlich sehen? Wohl kaum. Das Universum bleibt, bis auf die obligaten Veränderungen, bedingt durch Raum und Zeit, immer dasselbe, egal wie viele Lebewesen es im Moment betrachten. Und ich selbst, so wie alle Beobachter, bleiben auch immer dieselben, bis auf die obligaten Veränderungen durch Raum und Zeit. Dennoch ist etwas anders. Es ist die Wahrnehmung jedes einzelnen. Und wir haben nichts anderes als unsere Wahrnehmung. Also vertraue ihr und denke so wenig wie möglich darüber nach. Und was auch sehr wichtig ist, selbst, wenn du deiner eigenen Wahrnehmung bedingungslos vertraust, nimm sie niemals ernst.

Und nicht handeln. Das habe ich mir noch gemerkt, als es der junge Mann betonte und als sehr wichtig betrachtete. Das war, als du noch nicht unterscheiden konntest. Jetzt, im Moment, weißt du, wo du dich befindest und wer um dich ist. Jetzt, im Moment, befindest du dich mit dem Kapitän, dem jungen Mann als Copilot und mir, der schönen Dame, in der Kommandozentrale eines Raumschiffes, das sich mit unglaublicher Geschwindigkeit von der Erde entfernt und sich langsam, aber sicher dem Schwesternplaneten, der sich im Schatten der Erde versteckt, nähert und in Bälde auf ihm landen wird.
 
Landen ist auf dem Schattenerdplaneten verboten. Aber es gibt einen Hafen in der Stratos- oder in irgendeiner anderen Sphäre, von dem aus wir uns mit Fallschirmen aus dem im Nichts geparkten Raumschiff und hinab in die Tiefe stürzen.

Noch immer frage ich mich, ob ich tatsächlich gesprungen bin. Das Gitter herausreißen war schon eine Heldentat. Wie eine von Superwoman oder eher von Supergirl, was mein jugendliches Alter betrifft. Und wenn ich gesprungen wäre, müsste ich jetzt entweder schwer beschädigt irgendwo in einem Heim dahinsiechen oder tot sein. Was sagt mir meine Wahrnehmung? Sie sagt: Nimm mich niemals ernst!

Ich konnte nicht bei euch bleiben, erzählt die schöne Dame, während wir uns die Fallschirme umschnallen. Sicher war ich auch noch zu jung, aber es gab und gibt jüngere, die sich den Irrsinn, eine Familie zu gründen, aufhalsen. Es lag an deinem Vater, wie du sicher selbst wissen wirst.

Und warum hält es die Nutte bei ihm aus? Vielleicht liebt sie ihn. Vielleicht kann sie ihn lieben, ohne ständig verzeihen zu müssen. Aber nachdem er das erste Mal gebrüllt hat, musste die junge Löwin das Rudel verlassen. Ja du hast richtig gehört. Es war ein Rudel. Dein Vater war einmal sehr gut aussehend. Sonst hätte er mich wohl kaum rumgekriegt. Damals lag mir nämlich noch sehr viel am Aussehen. Jetzt spielt es keine oder eben nur eine sehr kleine Rolle. Klar, dass ich mir keinen Penner anlache, dessen Stinkwolke ich bereits einen Kilometer, bevor ich ihn sehe, einatmen muss. Also, gepflegt muss er schon sein. So wie der Käpt’n hier, mit seinem Rauschebart. Den Bart hatte er schon immer. Er ging nämlich zu Weihnachten immer als Weihnachtsmann und erschreckte die Kinder. Was ich sagte wollte, dein Vater hatte neben mir noch einige andere schöne Damen laufen. Nicht so wie du denkst. Nein, nein, er war kein Zuhälter. Er war nur einer, der nicht ‚nein‘ sagen konnte und mit jeder ins Bett kroch. Wahrscheinlich bist du nicht seine einzige Tochter. Es gibt sicher noch mehrere von dir da draußen. Und vielleicht auch einige Söhne. Aber frauenverliebt, wie er nun mal war, denke ich, dass er nur Töchter produzierte.

Ich sprang noch nie mit einem Fallschirm ab. Ja, wahrscheinlich bin ich tatsächlich aus dem Fenster gesprungen, nachdem ich die Gitterstäbe herausgerissen habe. Anders kann es gar nicht gewesen sein. Ich muss doch meine Wahrnehmung vertrauen. Was sagt sie mir? Wie immer: Nimm mich niemals ernst! Aber es hat sich etwas verändert, seit wir im Raumschiff gewesen sind. Es ist wieder heller geworden. Und je länger der Sprung mit dem Fallschirm dauert, umso heller wird es. Die Sturmnächte werden anscheinend zu Sturmtage. Ein Sturm wird es immer bleiben.

Weißt du, ich hätte dich schon damals an dem kleinen Steg mitgenommen, - sagt die schöne Dame, als sich unsere Fallschirme öffnen und wir nebeneinander hinab schweben. Aber ich erkannte deine Angst und Unsicherheit. Angst und Unsicherheit haben auf diesem Schattenerdplaneten nichts verloren. Hier herrscht Harmonie und Freude. Rein und unverwundbar. Ja, das auch, sagt der junge Mann, der lächelnd neben uns vorbeischwebt. Der Käpt’n, wie die schöne Dame ihn immer nennt, schwebt noch über uns. Immerhin verlassen die Kapitäne das Schiff immer als letzte.

Dieser Planet ist besetzt mit Auslese. Hier sind Atlantis, Avalon und all das andere, das es auf der Erde nur der Sage nach gibt, Wirklichkeit. Hier, meine Liebe, sind Märchen wahr geworden und werden immer wieder wahr.

Als meine nackten Füße den weichen, unbeschädigten Boden berühren und ich reine frische Luft einatme, verstehe ich, was die schöne Dame meint. Hier bekomme ich ein langes, fliederfarbenes Kleid mit Rüschen am Saum und am sehr tiefen Ausschnitt. Dazu einen breiten, ebenso fliederfarbenen Hut und ein langes Band daran, welches hinten bis zum Po runter hängt. Und ein buntes Rüschenschirmchen gegen die Sonne. Ja, es ist die Sonne, die in meine Augen lacht. Zum ersten Mal in meinem Leben erkenne ich das Licht in der Sonne. Die helle Seite der Sonne. Nie mehr wieder die dunkle, auch wenn das eine das andere mit einbezieht, denn hier werden Märchen wahr. Jawoll!
 
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@Serenade

Sind deine ellenlangen Texte hier eigentlich selbst verfasst oder kopierst du hier Buchtexte rein?
Du gibst das hier durch nichts zu erkennen, obwohl es ausdrücklich hier überschrieben und verpflichtend ist.
Zum Schutze des Forums.

Aber eigentlich wissen ja zumindest Buchautoren von "Absätzen" Gebrauch zu machen, damit es überhaupt angenehm für irgendjemanden lesbar ist.

Du pusht hier ja auch immer wieder beharrlich"hoch"....möchtest du hier von jemandem entdeckt werden?
 
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