Aron Gruen, "Der Fremde in uns"
Auszug:
Zwei Forschungsprojekte, die sich dem Thema der Autonomie-Entwicklung widmeten, haben gezeigt, daß die Weichen zum Menschlichsein oder zur Entfremdung schon früh gestellt werden. Helen Bluvol und Ann Roskam führten Studien (beide 1972) an einem Gymnasium durch. Sie untersuchten zwei Gruppen von -Schülern - eine, die äußerst erfolgreich war, und eine andere, deren Leistungen zwar als genügend eingestuft werden konnten, die aber kein großes Interesse an Erfolg zeigte. Die erste Gruppe zeichnete sich durch ein starkes Bedürfnis nach Bestätigung aus; diese Schüler reagierten mit Angst, wenn sie den Eindruck hatten, von gängigen Verhaltensnormen abzuweichen. Die Schüler dieser Gruppe waren auch unfähig, die Eltern als eigenständige, differenzierte Menschen wahrzunehmen. Sie neigten dazu, nicht nur die Eltern, sondern auch andere Autoritätspersonen wie ihre Lehrer zu idealisieren. Die Gruppe der wenig erfolgsorientierten Schüler dagegen beschrieb die Eltern als reale Persönlichkeiten mit guten und schlechten Seiten. Idealisierungen waren ihnen fremd.
Bluvol und Roskam fanden noch etwas heraus: Die erfolgsorientierten Schüler; die ihre Eltern idealisierten, hatten eine starke Tendenz, ihre Mitschüler zu Unterlegenen zu machen. Nur dann empfanden sie sich als "autonom". Hier sehen wir die Aussicht in Hinblick auf Erfolg und allgemeines "Wohlverhalten" den allgemeinen Normen unterordnete und somit am stärksten im System elterlich autoritärer Erwartungen gegangen war, fühle sich unabhängig - und zwar dann, wenn sie andere niedermachen konnte. Das Heißt: Wir erleben Gefühl von Freiheit und Autonomie, wenn wir das Fremde im anderen - und damit in uns selbst bestrafen.
So kommt es zu zwei problematischen Fehlentwicklungen. Erstens: Im Fall der Leistungsorientierten wird Ehrgeiz verknüpft mit dem Prozeß der Entfremdung. Ehrgeiz als ein "Mit-sich-selbst-Ringen" kann auch zum Transzendieren eigener Möglichkeiten führen. Wenn er jedoch auf die Bestätigung für gehorsames Verhalten abzielt, ist er ein Resultat der Entfremdung. Zweitens: "Autonomie" kehrt sich bei dieser Entwicklung in eine Perversion um und bringt eine Verzerrung der Gefühlslage mit sich. Einen anderen zu beherrschen und herunterzumachen vermittelt dabei ein Gefühl des Freiseins, weil es von der Last des eigenen Opferseins befreit.