Offen gestanden: ich hätte von mir selbst niemals geglaubt, daß ich irgendwann mal sagen würde: "verdammte Jammerossis!"
Aber genau das geht mir in den letzten Wochen immer häufiger durch den Kopf.
Ich bin jetzt als "Wessi" aus München vor 1 Jahr nach Sachsen, vor 7 Monaten dann weiter nach Berlin-Ost gezogen, wo ich mit meinem Partner zusammen eine kleine Firma übernommen habe. Und was ich bis dahin für ein Vorurteil gehalten habe, erlebe ich hier in Berlin extrem und extrem häufig (ist mir in Sachsen nie so gegangen, obwohl da die Leute, die ich kennengelernt habe, weitaus mehr Grund zum Jammern hätten): es wird gejammert, gemotzt, auf Montagsdemos gegangen und rumgemault, daß mir mittlerweile wirklich schon die Galle hochkommt.
Klar, als "Wessi" hier in der Gegend hat man fast schon verschissen (sorry) - da spielt überhaupt keine Rolle, welchen Background man mitbringt oder daß man als "ganz kleines Licht" sich mit denkbar schlechten Karten über viele Jahre erstmal hat hochackern müssen. "Der goldene Westen" sah zumindest für mich meistens so aus, daß ich mir an tollen Schaufenstern die Nase plattdrücken konnte um zu sehen, was ich mir hätte leisten können - WENN ich's mir hätte leisten können. War ok so, dafür bin ich während meiner Ausbildungszeit eben nachts noch auf Flughäfen zum Putzen gegangen und habe später auf dem 2. Bildungsweg nachts und an Wochenenden häusliche Behindertenbetreuung gemacht. Darin unterscheide ich mich übrigens nicht von vielen anderen "Besserwessis", die ich so kenne. Wie auch immer: Vorurteile gibt es hier zuhauf, jeder zweite Satz, den ich zu Anfang hier um die Ohren kriegte, war: "Wissen Sie, WIR IM OSTEN..." - und dann folgt, was man alles nicht hatte, nicht durfte, nicht konnte. Irgendwann konnte ich's bei allem Verständnis nicht mehr hören und machte klar, daß ich ganz bestimmt für sowas der falsche Ansprechpartner sei.
Ich erinnere mich noch gut an die ersten 2, 3 Jahre nach der Wiedervereinigung. Da kamen "Ossis" zuhauf nach München, vor allem aus Sachsen, die auf den Arbeitsmarkt drängten und tatsächlich etliche von den "Wessis" in Schrecken versetzten. Mißgunst, "die nehmen uns die Arbeit weg mit ihren Billiglöhnen" usw. - es dauerte einige Jahre, bis sich das Ganze eingependelt hatte. In den letzten Jahren hatte meine Abteilung 50 % Mitarbeiter aus dem ehemaligen Osten, und ich muß sagen: ich habe "Ossis" mit Begeisterung genommen, weil ich so viel Pflichtgefühl, Zuverlässigkeit und Kontinuität bei vielen Wessis nicht feststellen konnte. Das, was ich aus dem Osten kennengelernt hatte - z.B. Zuverlässigkeit, Treue (gerade auch im freundschaftlichen Miteinander) hat mich wirklich beeindruckt. Es waren Unterschiede da, die stellte ich vor allem aber zwischen den Generationen fest.
Was all solche Stammtischplattitüden angeht von wegen "Uns Wessis ginge es ohne den Osten besser!" oder umgekehrt "Ich will die Mauer wieder, die Wessis haben uns total betrogen!" - Bockmist. Es ist einfach nicht wahr!
Erstens: der Osten war in der Tat in Milliardenhöhe verschuldet, Honecker hatte schon seit vielen Jahren die stabilen Gehälter, seine ehrgeizigen Wohnbauprojekte, die vielgerühmte "Arbeit für alle" usw. auf Pump (vor allem Pump beim westlichen "Klassenfeind", u.a. z.B. Japan, Franz Josef Strauß als Vermittler von Milliardenkrediten) finanziert, die Russen konnten oder wollten Bedarfsgüter nicht mehr liefern - das bedeutet, der DDR-Staat wäre so oder so grandios zusammengekracht, hätte all seine "sozialistischen Errungenschaften" einschränken müssen, d.h. was jetzt hier im Osten als "westliche Härte" erlebt wird, wäre so oder noch schlimmer ohnehin eingetreten (wer's nicht glaubt, dem empfehle ich die Lektüre "Tatort Politbüro" Bd. 1 und 2 von Peter Przybylski, sehr aufschlußreich!)
Mir kommt die Haltung viel zu vieler Leute im Osten so trotzig-uneinsichtig vor, mir kommt da als Vergleich Orwells "Farm der Tiere" in den Sinn. Es wirkt, als wünschten sich ein Haufen Schlachtvieh seinen Bauern zurück - immerhin kippte der immer ausreichend Futter in den Trog. Daß "in Freiheit" nicht zwangsläufig beinhaltet, daß Vater Staat einem Frühstück, Arbeitsplatz und Weihnachtsgratifikation ans Bett bringt, will so manchem wohl einfach nicht in den Kopf.
Genauso isses Quatsch zu sagen, den Wessis ginge es ohne Wiedervereinigung wesentlich besser.
Menschenskinder, auch wir sind in der "sozialen Marktwirtschaft" aufgewachsen als wären Renten- , Sozialkassen und Staatssäckel auf immer voll und als wäre es verbrieftes Recht, daß, wer in die Arbeitslosenversicherung mal einbezahlt, dies in Form von Leistungen auch wieder rauskriegen müßte. Auch in Wessischädel sollte endlich mal Einzug halten, daß wir eine Pro-Kopf-Verschuldung von ca. 17.000 Euro im Land haben, daß die Wirtschaft auch ohne Wende WELTWEIT kriselt(e), daß wir viele, viele Jahre weit über unsere Verhältnisse gelebt haben und - weil wir gar so "gründlich und genau" sind, lange NACH Ländern wie Schweden überhaupt auf die Idee gekommen sind, Reformen einzuleiten.
Puh! Ich könnte mich momentan in Rage schreiben (gestern hat eine unserer Aushilfskräfte - die wir uns eigentlich nicht leisten konnten, die wir aber wegen ihres kriselnden Haupt-Arbeitsplatzes und ihrer daraus resultierenden finanziellen Ängste weiterbeschäftigt hatten, gekündigt. Grund: wir hatten Stundenkräfte nicht zum Weihnachtsessen eingeladen. *seufz*)
Ob die eingeleiteten Reformen den gewünschten Erfolg bringen? Ich weiß nicht - ich denke, sie werden viel bringen und diese Reformen waren längst überfällig.
Daß sie noch nachgebessert werden müssen: keine Frage. Aber notwendig waren sie!