Schlaumeier und das "kritische Denken"

D

Déguórén

Guest
Ich möchte jetzt nicht das Thema "Esoterik ist Quatsch" neu aufwärmen. Ich würde aber gern auf ein paar häufig vorkommende methodische Fehler bei Gegnern und Befürwortern der Esoterik hinweisen.


1. Falsch verstandenes "Kritisches Denken" bei Esoterikern
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Mir ist aufgefallen, dass einige "Esoteriker" meinen, einen ganz großartigen Gedanken gefunden zu haben: "In der Schule wird einem irgendwas erzählt. Die Dummen und Unreifen glauben das dann. Aber ich, ha! ICH (der superschlaue) habe herausgefunden, dass man das Schulwissen auch mal hinterfragen muss!" Sie glauben, dass Verfechter des naturwissenschaftlichen Weltbildes quasi wie dumme Kinder einfach nur hinterherglauben ohne wirklich zu wissen, wovon sie da reden.

Was diese Schlaumeier übersehen: Niemand behauptet, dass in der Schule allumfassende Wahrheiten verkündet werden. Und in die Schule geht man eben nicht zuletzt, um kritisches Denken und "Hinterfragen" zu erlernen. Da die meisten Wissenschaften heutzutage so kompliziert sind, ist man darauf angewiesen, diese für den Schulunterricht auf ein kindgerechtes Format zurecht zu stutzen. Man begnügt sich daher damit, einen groben Überblick über gesicherte Theorien zu geben. Auf exakte Herleitungen, Beweise und Gedankengänge wird bewusst verzichtet, da notwendiges mathematisches oder anderes Rüstzeug nicht vorhanden ist.

Wer nun keine Angst vor echter geistiger Arbeit hat und den Kopf auch mal richtig glühen lassen will, der geht nach der Schulzeit zur Universität und kann dort u.a. ganz genau nachvollziehen, wie man zu den in der Schule vermittelten Ergebnissen kommt. Und das kann sehr anstrengend sein!

Meine Schlaumeier freilich machen es sich unendlich viel leichter. Sie behaupten - ohne Begründung natürlich, dass das alles falsch sei, was man in der Schule lernt. Und diese Dummschwätzerei stellen sie dann auch noch als kritisches und mutiges Nachdenken hin. Sie basteln sich dann ihr eigenes Weltbild in simpelster Bildersprache zusammen und verkünden dann ernsthaft, was "Besseres" gefunden zu haben. Nur: diese Vorgehensweise ist weder kritisch noch mutig, sondern feige. Anstatt wirklich den beschwerlichen Weg der Wissenschaft zu gehen und genau zu zeigen, wo diese fehlerhaft sei, werden irgendwelche wohlklingenden doch inhaltsarmen Phrasen gedroschen, scheinbar einzig mit dem Ziel, sich selbst als besonders intellektuell darzustellen.

Besonders lächerlich ist die Haltung meiner Schlaumeier unter einem anderen Gesichtspunkt, impliziert doch ihre Haltung, die Wissenschaft sei auch nichts anderes als Religion - im Prinzip ebenso dogmatisch und beliebig, wie irgendein anderer Glaube. Auch hier übersehen sie einen wesentlichen Punkt: insbesondere die Physik hat im Laufe ihrer Geschichte dramatische Umbrüche erlebt. Initiiert wurden diese von innen heraus, also nicht, um sich an irgendwelche "sachfremden" Gegebenheiten anzupassen. Möglich sind solche Umbrüche (von innen heraus wohlgemerkt) nur, weil Physik sich eben immer kritisch hinterfragt und bereit ist, sich zu ändern und weil sie eben weder dogmatisch noch beliebig ist. Physik unterscheidet sich ihrem Charakter nach vollkommen von Religion!

Bezogen auf die "Kritik" an der Physik sind meine Schlaumeier ja eigentlich nur eingebildete Dummköpfe. Damit könnte man ja noch leben. Aber mit genau der gleichen Dümmlichkeit werden ja auch alle Aspekte des gesellschaftlichen Zusammenlebens in Frage gestellt. Und dann ist man Ruckzuck bei irgendwelchen absurden Verschwörungstheorien (die bösen Medien, die bösen Amerikaner, die bösen Wissenschaftler, die bösen Juden, die bösen Politiker,...) und schwupps... schon ist es möglich die Judenvernichtung als anti-deutsche Hetzpropaganda hin zu stellen und derlei Nazi-Stuss auch noch als intellektuelle Leistung zu tarnen (Nach dem Motto: "Tjaaa, dann beweis mir doch mal, dass die Juden umgebracht wurden.").

Das ist dann eben der Punkt, wo's gefährlich wird. Die hier von mir gebrandmarkten Pseudo-Esoteriker haben eine Grundregel kritischen Denkens nicht begriffen: Selbstverständlich ist es möglich, ALLES in Frage zu stellen. Sinn macht das ganze aber nur, wenn man Beweise hat. Hat man solche nicht vorzuweisen, so hat man sich gefälligst tolerant zu verhalten. Man kann ja sagen: "Naturwissenschaft find ich nicht so schön. Mir gefällt das und das besser." Man kann auch sagen (wenn es denn der Wahrheit entspricht): "Naturwissenschaft kann dies und jenes nicht erklären." Man kann aber nicht sagen: "Naturwissenschaft ist Quatsch und ich mit meiner Idee habe Recht und alle anderen sind doof."


2. Falsch verstandenes "Kritisches Denken" bei Nicht-Esoterikern
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Naturwissenschaft stellt Theorien auf, die auf Axiomen basieren. Anschließend werden diese Theorien experimentell überprüft. Der Aufbau auf Axiomen macht deutlich, dass Naturwissenschaft letztendlich nicht beweisbar ist, sondern lediglich widerlegbar. Deswegen ist es Quatsch, die Naturwissenschaft zu instrumentalisieren, um Glaubens-Überzeugungen anderer für falsch zu erklären. Einem Naturwissenschaftler bleibt gar nichts anderes übrig, als sich in Toleranz zu üben. (Naturwissenschaft kann weder die Existenz noch die Nicht-Existenz Gottes oder anderer "übersinnlicher" Dinge beweisen)


3. Falsch verstandene Naturwissenschaft an und für sich
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Umgekehrt müssen aber auch Esoteriker sehr vorsichtig sein, wenn sie die ihnen genehmen Erkenntnisse der Physik instrumentalisieren für Aussagen wie: "Alles ist möglich. Siehe Quantenmechanik". Solche Aussagen sind jedenfalls mit Vorsicht zu genießen. So beliebig ist zumindest die mir bekannte Schrödinger-Quantenmechanik auch wieder nicht. Was stimmt, ist dass sie den strengen Determinismus der klassischen Physik einschränkt. Das heißt aber noch lange nicht, dass sie alles erlaubt. Erlaubt sind lediglich die Dinge, die sich als Lösung der Schrödinger-Gleichung formulieren lassen. Und zu diesen Dingen gehört z.B. auch - allerdings nur grenzwertmäßig - die klassische Physik, also das, was man in der Schule lernt. Und da schließt sich der Zirkel.
 
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Hallo Deguoren,

ich gebe dir in allem recht und unterstreiche es dick und fett!
Es ist DUMM, etwas in Frage zu stellen oder zu negieren, wenn man null Ahnung davon hat oder weil man irgend etwas nachplappert.
Um die Arbeit und Arbeitsweise von Wissenschaftlern und Aerzten (beliebte Ziele von "Kritik") zum Beispiel auch nur ansatzweise beurteilen zu koennen, muss man schon etwas davon verstehen!
Immerhin haben diese Menschen viele Jahre ihres Lebens geistige Arbeit geleistet und ihren analytischen Verstand geschult und geschaerft und (beileibe nicht nur totes) Wissen gesammelt und angewandt.
Viele ihrer "Kritiker" hingegen, die sich dann auch noch wichtigtuerisch als "bahnbrechende Revoluzzer" sehen, haben eine merkwuerdig duerftige Vita vorzuweisen...
Ja, sie tun sogar so, als sei die Tatsache, dass es so ist, besonders hervorzuheben und eine Grosstat!
So, als sei es eine LEISTUNG:
ICH habe NICHT studiert, aber ich finde oder ich meine etc....
Ich sage manchmal, wenn ich besonders spoettisch empfinde, zu Leuten, die "Fachidioten" kritisieren, dass diese immerhin EIN Fach beherrschen, waehrend andere NUR Idioten sind...

Bijoux
 
imho ein sehr gutes post, das klar sagt, wo mißverständnisse und fehler entstehen. insbesondere bei kritik an der esoterik und (hier habe ich beim gestrigen stundenlangen durchstöbern des forums sehr viel zu kurz gedachtes und manchmal auch schlicht dummes entdeckt) bei deren verteidigung.

eigentlich ein pflichttext für jeden, der auf angemessenem niveau die pros und cons von esoterik und wissenschaft gegenüberstellen will.

was mich bei den vertretern der puren wissenschaft stört, ist deren alleinige zulassung von rationalität zur erklärung der welt und damit auch der esoterik. doch grad die esoterik fängt da an, wo innere gefühlswelt und die intuition das szepter schwingen, d.h. wo rationalität und logik verblassen.

wie der threaderöffner auch schon gesagt hat, ist es eine krasse fehlannahme, das wissenschaft auch nur ein 'glaube' unter vielen ist. die gründe hat er gut dargelegt. wenn wissenschaft zur religion wird, hat eine fehlentwicklung stattgefunden und man ist in einer sackgasse. esoterik pseudowissenschaftlich betrieben führt auch immensem humbug (siehe die ableitung der existenz des jenseits aus der tatsache von nichtlokalen quanteneffekten).
rationalität und glaube bilden ein system von zwei gegensätzlichen konzepten, die erst zusammen ein komplettes ganzes bilden. das gute alte "yin-yang"-symbol paßt auch hier perfekt.

Nach dem Motto: "Tjaaa, dann beweis mir doch mal, dass die Juden umgebracht wurden."
ein gutes beispiel, welches stellvertretend ist für eine der größten -sry, aber das muß man so sagen- dummheiten, der man immer und immer wieder begegnet. wenn auf diese weise argumentiert wird, kann jeder alles behaupten ,überläßt den (unmöglichen!) gegenbeweis den anderen und besudelt einen der wertvollsten schätze des universums: die wahrheit (wenn auch dieses ZIEL in vielen fällen unerreichbar ist) und, eigentlich noch wichtiger, das ehrliche streben zur wahrheit (den WEG).

tulpe
 
Hallo,

als Physiker kann ich mich dem Originalpost auch anschließen. Will aber auch noch meinen Senf dazu geben:

Kritik an "Esoterikern" (Ich setzte das mal in Anfürungsstrichen, da ich ja auch an Esoterik interessiert bin): Es ist manchmal haarsträubend, was einige Leute als Beweis anerkennen. Da gibt es Leute, die Behaupten, besondere Fähigkeiten zu haben oder nutzen zu können (z.B. Wünschelruten). Als Beweis dafür wird dann z.B. gebracht: "Damit habe ich schon einige Brunnen gefunden." Dass diese Methode allerdings besser sein soll, als die Methode "ich bohre an einem zufällig gewählten Ort" dieser Beweis bleibt aus. Und hier in Deutschland ist der Grundwasserspiegel ziemlich hoch... da kann man fast überall bohren und findet Wasser. Und das war nur das Beispiel Wünschelruten laufen... es gibt da noch viele Beispiele.

Kritik an "Realisten": Die Naturwissenschaften basieren auf reproduzierbaren Experimenten. Das ist auch sinnvoll, da so die Naturgesetze entschlüsselt werden, die immer gelten. Viele Leute in dieser Schiene meinen aber, wenn etwas nicht reproduziert werden kann, existiert es nicht. Wenn jemand z.B. behauptet mit seinem Schutzengel gesprochen zu haben. Warum sollte es nicht stimmen? Weil er den Kontakt nicht wieder bekommt? Unter den vielen esoterischen Phänomenen können viele als falsch oder naturwissenschaftlich erklärbar "degradiert" werden. Allerdings darunter können durchaus auch richtige Phänomene sein, die unbemerkt bleiben, und die, falls eine Statistik angefertigt werden sollte, in der Statistik untergehen, weil sie eben nicht immer reproduzierbar sind.

Viele Grüße
Joey
 
Joey schrieb:
Die Naturwissenschaften basieren auf reproduzierbaren Experimenten. Das ist auch sinnvoll, da so die Naturgesetze entschlüsselt werden, die immer gelten.
Da irren aber die Naturwissenschaftler, wenn sie das glauben. Die Existenz von Naturgesetzen konnte bisher nicht bewiesen werden, und das wird auch nie möglich sein (letzteres ist eine Behauptung meinerseits). Es gibt zwar überragende Evidenzen für deren Existenz, aber keinen endgültigen Beweis. Es sei hier auf Karl Popper verwiesen, der gezeigt hat, dass eine Verifikation einer Theorie im strengen Sinne unmöglich ist, und nur deren Falsifikation durch ein einziges Gegenbeispiel gelingen kann.
 
Hallo Déguórén

Dein Text gefällt mir sehr gut. Ich stelle auch immer wieder fest, wie unkritisch viele Esoteriker sind und was sie mitunter für eine sonderbare Einstellung zur Wissenschaft haben.

Man darf aber nicht vergessen, dass sehr viele Forumsmitglieder nie die Möglichkeit hatten, wissenschaftliche Luft zu schnuppern, sprich, ein Studium zu absolvieren. Selbst ein Studium scheint mir oft nicht einmal die Garantie dafür zu sein, sich wissenschaftliches Denken anzueignen. Auf den Universitäten ist es vielleicht sogar davon abhängig, welches Studienfach man belegt.

Was soll aber derjenige machen, der nie eine Universität von innen gesehen hat, der nie so etwas wie Bildung genossen hat, der auch sonst in seinem Leben keine Lust hat, sich fortzubilden, dessen Lust an der Entdeckung und Auseinandersetzung mit tausenden von interessanten Themen nie geweckt wurde und der sich statt dessen Tag für Tag die Bildzeitung kauft?

Er baut sich oft genug sein eigenes Märchenschloss zusammen, und sei es noch so sehr auf Lügen aufgebaut. Dahinter steht oft genug auch eine ungeheure Angst. Wenn jemand zum Beispiel sich in irgendwelche rechtsradikalen Verschwörungstheorien verbissen hat, so ist das nicht nur Resultat von Unwissenheit, sondern es weist in der Regel gleichzeitig auf unbearbeite psychische Probleme hin.

Man könnte also durchaus die Behauptung aufstellen, es mit psychisch kranken Menschen zu tun zu haben. Sie sind nicht nur psychisch krank, sondern von ihrer ganzen Einstellung her, sehr ängstliche Menschen. Oft genug fehlt ihnen jedes Bewusstsein, diese psychisch-intellektuellen Zusammenhänge zu erkennen. Man hat sie ihnen nicht nahe gebracht, bzw. man hat sie ihnen ganz bewusst vorenthalten.

Wenn ich sage, es handelt sich um ängstliche Menschen, dann meine ich damit, dass ihnen der Mut fehlt, sich mit ihrer inneren Unzufriedenheit, mit ihrem Hass und mit ihrer grenzenlosen Angst auseinander zu setzen. Man hat ihnen beigebracht alles zu schlucken, und sie haben reichlich geschluckt. Schau in sie hinein und du entdeckst grenzenlosen Hass. Dieser Hass ist so gross, dass er oft genug gar keinen Platz mehr für Liebe, Mitleid oder für intellektuelle Auseinandersetzungen läßt.

Aber ich möchte auch nicht nur mit dem Finger auf andere zeigen. Eigentlich sind wir alle so gestrickt. Der eine mehr, der andere weniger. Das ist das Resultat unserer Gesellschaft, in der materielle Werte angebetet werden und emotionale Werte unterdrückt werden, und zwar massiv unterdrückt werden.

Alles Liebe. Gerrit
 
Hallo Joey

Joey schrieb:
Kritik an "Realisten": Die Naturwissenschaften basieren auf reproduzierbaren Experimenten. Das ist auch sinnvoll, da so die Naturgesetze entschlüsselt werden, die immer gelten. Viele Leute in dieser Schiene meinen aber, wenn etwas nicht reproduziert werden kann, existiert es nicht. Wenn jemand z.B. behauptet mit seinem Schutzengel gesprochen zu haben. Warum sollte es nicht stimmen?

Sorry, Joey, aber diese Haltung ist eines Wissenschaftlers nicht angemessen. Irgendwo muss man eine eindeutige Grenze ziehen, denn sonst bewegt man sich im Bereich der Spekulation, des Glaubens. Ich bin wirklich überrascht, so etwas aus dem Munde eines Physikers zu hören.

Ich will übrigens gar nicht bestreiten, dass jemand den Eindruck haben könnte, mit einem Engel gesprochen zu haben. Ich bin allerdings davon überzeugt, dass dann keine übersinnliche Fähigkeiten mit im Spiel sind, sondern dass solche Erfahrungen Ausdruck physiologischer Prozesse sind. Und die sind eventuell sogar reproduzierbar, wenn man ganz bestimmte Regionen des Gehirns stimuliert. Aber wenn man solchen "übersinnlichen" Erfahrungen so unkritisch gegenüberstehst, wie du das machst, dann gleitet man leicht ins Wunschdenken ab und verlässt den Boden der Realität.

Interessant finde ich in diesem Zusammenhang auch die Überlegungen einiger Neurotheologen:

Mit dem Glauben an Gott beschäftigen sich jetzt Wissenschaftler. Sie versuchen Fragen wie "Kann der Glaube an Gott auf neuronale Vorgänge im Gehirn zurückgeführt werden?" oder "Wie sieht die Biochemie religiöser Visionen aus?" zu beantworten. Dieser recht neue, interdisziplinäre Wissenschaftszweig nennt sich Neurotheologie.

Wenn alles, was den Menschen bewegt, seine Grundlage in den biochemischen Vorgängen des Gehirns hat, so der Ansatzpunkt der Forscher, müssten auch religiöse Gefühle und Vorstellungen dort entstehen oder ihre Spuren hinterlassen.

Hinweise auf einen solchen Zusammenhang geben Beobachtungen und Erfahrungen von Epileptikern, schreibt das Wissenschaftsmagazin "bild der wissenschaft" in seiner Juli-Ausgabe. Bestimmte Formen der Epilepsie werden nämlich ungewöhnlich häufig von extremer Religiosität begleitet. In solchen Fällen sind die Anfälle meist auf den linken Schläfenlappen des Gehirns begrenzt und äußern sich nur selten in Krämpfen oder Bewusstlosigkeit.

Die Betroffenen haben vielmehr das Gefühl einer göttlichen Gegenwart, verfallen in Verzweiflung oder auch in Ekstase. Häufig ist ihre gesamte Persönlichkeit verändert, sie sind arrogant, ichbezogen, humorlos und sehen selbst in den trivialsten Dingen kosmische Zusammenhänge. Auch sensorische Störungen wie Lichteindrücke und akustische Wahrnehmungen während der Anfälle sind typisch - Phänomene, wie sie auch viele Religionsstifter oder stark religiöse Persönlichkeiten der Geschichte beschreiben. So hatte der spätere Apostel Paulus beispielsweise eine Lichterscheinung und hörte die Stimme Jesu, Mohammed ließ sich den Koran von einem Engel diktieren und auch Johanna von Orleans handelte auf Befehl einer göttlichen Stimme.

Eine Schlüsselrolle bei diesen Erscheinungen schreiben Psychologen dem Limbischen System im Schläfenlappen zu, das für die Verarbeitung von Gefühlen zuständig ist. Wird es stimuliert - sei es durch Reize von außen oder durch die elektrischen Entladungen während eines epileptischen Anfalls - spürt der Betroffene eine starke emotionale Erregung. Interessanterweise sind bei Schläfenlappen-Epileptikern zwar einige, aber nicht grundsätzlich alle Gefühle übersteigert: Die so genannten Schläfenlappenpersönlichkeiten reagieren hauptsächlich auf religiöse Wörter und Symbole, während zum Beispiel sexuelle Bilder nur sehr gedämpfte Echos hervorrufen. Das deutet nach Ansicht einiger Forscher auf ein "Gott-Modul" im Kopf hin, eine spezielle Gehirnregion für Gotteserfahrungen.

Gestützt wird die wichtige Rolle des Schläfenlappens auch durch Experimente des kanadischen Neurowissenschaftlers Michael Persinger: Ihm gelang es sogar, spirituelle Erlebnisse künstlich hervorzurufen - mithilfe eines umgebauten Motorradhelms, in dem acht Magnetspulen schwache, fluktuierende magnetische Felder rund um den Schläfenlappen erzeugen. Mehr als 1000 Freiwillige haben sich diesen Helm bereits auf den Kopf gesetzt - und mehr als 80 Prozent von ihnen berichteten anschließend von spirituellen Erlebnissen, wie dem Hören von Stimmen, einer vibrierenden oder schwebenden Empfindung oder dem Gefühl einer fremden Präsenz. Dabei spielte es keine Rolle, ob die Probanden Atheisten waren oder an eine höhere Wesenheit glaubten.

Auch hier spielen wahrscheinlich lokale Nervenüberaktivitäten im Limbischen System eine Schlüsselrolle, berichtet "bild der wissenschaft". Auch Schlafentzug, Sauerstoffmangel oder starke Unterzuckerung können solche Überaktivitäten auslösen. Persinger glaubt sogar, dass viele Berichte von göttlichen Visionen auf Schwankungen des Erdmagnetfelds zurückgeführt werden können, wie sie beispielsweise vor einem Erdbeben auftreten.

Doch auch wenn die Neurotheologen mystische Erlebnisse biologisch beobachten und sogar wissenschaftlich erklären können, bleibt die Bedeutung dieser Befunde eine Frage der Interpretation. Während also Michael Persinger Gott für ein Artefakt des Gehirns hält, sieht der Stuttgarter Pfarrer Helmut A. Müller die Neurotheologie in einem größeren Zusammenhang. Nach Gott zu suchen sei schließlich eine Frage, die immer in Bezug auf das aktuelle Weltbild gestellt würde. So sei es alles andere als überraschend, dass im Zeitalter der Hirnforschung Gott im Gehirn gesucht werde.

Über die eigentliche Existenz Gottes kann die Neurotheologie jedoch seiner Ansicht nach schon aus methodischen Gründen keine Aussage machen. Seine Analogie: "Wale fängt man normalerweise mit Harpunen und Heringe mit Netzen. Wenn nun der Walfänger behaupten würde, dass es in den Weltmeeren keine Heringe gibt, weil er ein Leben lang keine Heringe gefangen hat, würde er sein Instrument, seine Methode des Fischfangs, schlicht überschätzen."

Quelle: Gott im Gehirn - Die Biochemie des Glaubens

Alles Liebe. Gerrit
 
Hallo,

@fckw: Warum sollte es keine Naturgesetze geben? Wie sähe eine Welt ohne Naturgesetze aus?

@Lutusz: Ich habe mich wohl missverständlich ausgedrückt. Du rennst bei mir weitgehend offene Türen ein. Wenn man ein angeblich übernatürliches Phänomen natürlich erklären kann... umso besser. Aber sind deswegen ALLE Medien Schläfenlappenepilleptiker? Basieren ALLE Tonbandstimmen auf der menschlichen Einbildung oder zufällig aufgefangenen Radiosignalen? Ganz streng genommen können wir das nicht beweisen. Über diesen möglichen Rest kann die Wissenschaft keine Aussagen machen.

Wenn man mit einem Röntgenteleskop (z.B. Chandra oder XMM) ein Objekt betrachtet und keine Röntgenstrahlung höher als das allgemeine Rauschen empfängt, sagt man auch nicht: "Diese Quelle strahlt keine Röntgenstrahlung aus." Man rechnet eine obere Grenze der Röntgenhelligkeit aus.

Garantiert sind über 99.9% aller übernatürlichen Phänomene durchaus natürlichen Ursprungs. Aber ich wage nicht den Schritt, die Zahl auf 100% zu erhöhen.

Natürlich muss alles äußerst kritisch beäugt werden (bestimmt sogar kritischer, als ich es in meinem Interesse an Esoterik tue). Aber ich halte es für falsch zu sagen: "Das Jenseits gibt es nicht, weil wir alle damit verbundenen Phänomene auch anders erklären können.", und diese Aussage treffen einige meiner Kollegen. Richtig halte ich in diesem Fall die Aussage: "Wir können alle Phänomene natürlich erklären. Damit können wir sagen, dass über soundsoviel % der Jenseitskontakte "Fakes" sind. Über den Rest können wir (noch) keine Aussage treffen."

Ich hoffe, es ist etwas klarer geworden, was ich meinte.

Viele Grüße
Joey
 
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Hallo Joey

Wenn du sagst, wir können 99 % aller Phänomene natürlich erklären, über den Rest aber können wir (noch) keine Aussage treffen, dann kann ich dir zustimmen. Und ich könnte dir sogar zustimmen, wenn du sagen würdest, dieses eine Prozent könnte übersinnlichen Ursprung haben. Aber ich fürchte, dieses eine Prozent wird uns für immer verschlossen bleiben. Ich bezweifel allerdings, dass ein ernsthafter Wissenschaftler ein Jenseits ausschliesst. Solange er keine Beweise hat, ob dieses Jenseitige existiert oder nicht, wird er sich bescheiden zurück halten.

Und Tonbandstimmen, na ich weiß nicht. Ich würde eher vermuten, da will sich jemand zu 100 % wichtig machen.

Alles Liebe. Gerrit
 
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