Wenn Du als Erkenntnis erstmal den Punkt nimmst an dem Du erkennst, woher der Schmerz gekommen ist (also die Verbindung zum Erlebnis von früher herstellst), gebe ich Dir Recht. Auch durch diesen Schmerz muss man noch weiter durch und im laufe dieses Teiles wird einem auch klar, was man aus sich gemacht hat oder hat machen lassen, was für Probleme es einem gemacht hat, warum andere so auf einen reagieren. Es ist schon ein weiter Weg durch die Traurigkeit bis dahin, wo man auch an dem Punkt ankommt, wo es keinen Schmerz mehr gibt und sich die Perspektive komplett verdreht. Doch bis man da ist, klingt das meist theoretisch...
Dazu eine "kurze" Geschichte...
Ich habe einen Stiefvater. Der hat mich ein paar mal geschlagen. Nicht täglich. Nicht zu oft. Aber es reichte, um ca. fünf Jahre lang ängstlich nach Hause zu kommen und zu beten, dass er noch nicht da ist, damit ich nach der Schule wenigstens noch für eine gewisse Zeit in mein Zimmer konnte. Wenn ich seine Schritte hörte gefror mir das Blut in den Adern. Ich wahr heilfroh, als ich endlich auch mit der Ausbildung durch war und es keine Schule mehr gab... Es hatte u.a. zur Folge, dass ich ein großes Problem mit Authorität hatte. Ich machte nie den Mund auf, lies mich herum kommandieren und schluckte, was es zu Schlucken gab.
Als ich mit meiner Wutarbeit begann, kam eine Menge Hass auf ihn nach oben. Bis dahin war ich immer der Meinung, es wäre auch okay gewesen, denn ich war wirklich sehr Faul. Doch das ist eine sehr einfache Sichtweise... Es dauerte eine Weile, bis sich das etwas legte. All das war immer gepaart mit Tränen. Dann kam der Punkt, an dem ich mich erinnerte, wie meine Stiefschwester (seine Tochter) mit erlebte, wie ich geschlagen wurde und ich höre sie heute noch weinen "Papa, hör auf!" Natürlich kam die Erinnerung an diese Situation nicht aus heiterem Himmel, aber an einem Punkt im Prozess begann ich auf einmal wegen ihr zu weinen. Ein völlig verändertes Gefühl für die Situation. Mein eigener Schmerz war egal, den hatte ich nach außen gebracht. Aber ich fand es furchtbar, dass sie das miterleben musste.
Und irgendwann kam der Punkt, an dem ich erkannte, dass ich es war, der diese Dinge so wollte. Denn mein Stiefvater war in meinen Augen ein Weichei. Er hatte keine klare Position, stand unter dem Pantoffel, war fleißig, okay. Aber mein Vater ist ein Kerl. Einer, der mit der Faust auf den Tisch haut und einen klaren Kurs vorgibt. Ob der nun immer gut war steht auf einem anderen Papier. Aber Stichwort "Grenzen geben Halt" fand ich keinen Halt beim Stiefvater. Mein richtiger Vater gehörte damals nicht zu meinem Leben dazu.
Damit aber mein Stiefvater endlich mal der Große war, der Starke, der, der sagt, wo es lang geht, provozierte ich ihn wo ich nur konnte. Es gab nichts was ich nicht unterlies (Hausaufgaben z.B.) um ihn aus der Reserve zu locken. Die Schläge dafür habe ich gerne eingesteckt, denn wenigstens da waren unsere Rollen so, wie es sein sollte: Er war Groß, ich war Klein. Auf einmal war er kein Täter mehr. Er wurde Opfer.
Und als er da als Opfer innerlich vor mir Stand sah ich seine Armut und seine Hilflosigkeit. Er wollte nicht stark sein, denn er hatte seine erste Frau verloren, weil er stark sein wollte. Sein Vater war nicht stark Zuhause, seine Mutter hatte das Sagen. Es war sein Bild. Sein Glaubenssatz. Nicht sein Wesen. Seine Maske. Schwach sein. Ich selbst wollte auch nie stark sein, weil ich vor der Strafe Angst hatte. Dachte ich. Das war mein Bewusstsein... Wir waren beide gleich. Wir hatten beide Angst.
Ich fühlte diese Armut. Ich erinnerte mich daran, wie arm ich mir vorkam, wenn ich in meinen Kindergruppen nicht weiter wusste und laut wurde. Ich habe mich geschämt, weil ich geschrieen habe. Aber ich wusste nicht weiter, weil die kleinen Racker nicht hören wollten. Ich kam mir erbärmlich vor. Genau wie er. Und ich hasste mich dafür, dass ich im Berufsleben so viel mit mir habe machen lassen, weil ich immer den Kopf eingezogen habe. Und ich hätte so manches mal aufstehen müssen...
So habe ich beide Seiten dieser Medaillie erlebt. Ich war groß, innerlich. Und ich war auch klein. Innerlich. Es hat mich sehr viel weiter gebracht, aber es war ein langer Weg, den ich hier auch nur "kurz" Skizzieren kann, ohne jetzt noch alle "Kleinigkeiten" zu wissen. Vieles verliert sich auch durch die Prozesse...
Aber am Ende stand die Liebe und das Mitgefühl. Für den Täter (Stiefvater), der eigentlich das Opfer war. Und natürlich auch für mich, weil ich sowohl den Ursprung meines Schmerzes gefunden hatte als auch, und das ist viel wichtiger, dass mich niemand bestrafen will oder wollte. Ich brauchte vor niemandem Angst haben, denn ich bestimmte damals das Geschehen.
Im übrigen brauchte ich ihm nicht einmal mehr Verzeihen. Es war nichts mehr da zum Verzeihen, denn er hatte nichts gemacht. So kommt man als vermeindliches Opfer (ich) in der Familienaufstellung an den Satz "Für Dich habe ich es gerne getan". Denn ich wollte ihm helfen. Mit meinen Möglichkeiten als Kind.
Sorry, sehr viel Text, zeigt aber vielleicht ein bisschen die unterschiedlichen Stationen...
Gruß
Andreas