Tod und Wiedergeburt
Das Wesen von allem ist offen, leer und rein wie der Himmel. Lichte und klare Leerheit, ohne Zentrum und ohne Umgebung: Morgendämmerung des reinen, nackten Rigpa.
Die vier Phasen der Dharmata
Das Sanskritwort „Dharmata“, „cho nyi“ auf Tibetisch, bezeichnet die immanente, wesenhafte Natur von allem: die Essenz der Dinge, so, wie sie sind. Dharmata ist die nackte, unbedingte Wahrheit, das Wesen der Wirklichkeit oder die eigentliche Natur der Existenz der Phänomene. Was wir hier behandeln, ist für ein Verständnis der Natur des Geistes und von allem von grundlegender Bedeutung.
Das Aufscheinen der Grund-Lichtheit am Ende des Auflösungsprozesses hat eine neue Dimension eröffnet, die sich nun zu entfalten beginnt. Dieser Vorgang lässt sich am Beispiel des Übergangs von der Nacht zum Tag besonders anschaulich nachvollziehen. Die letzte Phase im Auflösungsprozess des Sterbens ist die Schwärze im Zustand des „vollständigen Erlangens“. Diese Erfahrung wird beschrieben als „ein Himmel, in Finsternis gehüllt“. Das Aufgehen der Grund-Lichtheit entspricht in unserem Beispiel der Klarheit des leeren Himmels, direkt vor Beginn der Dämmerung, in dem dann allmählich die Sonne der Dharmata in all ihrem Glanz aufzugehen beginnt und die Einzelheiten der Landschaft langsam erkennbar werden lässt. Das natürliche Strahlen von Rigpa wird unmittelbar manifestiert und lodert auf als Energie und Licht.
So, wie die Sonne im klaren, leeren Himmel aufgeht, so erhebt sich auch die leuchtende Erscheinung des Bardo der Dharmata im allumfassenden Raum der Grund-Lichtheit. Wir geben dieser Erscheinung von Klang, Licht und Farbe den Namen „unmittelbare Präsenz“, da sie stets gegenwärtig ist, immanent in der Weite „ursprünglicher Reinheit“ – ihrem Urgrund.
Das Ganze ist eigentlich der Prozess der Entfaltung, in dem der Geist und seine grundlegende Natur sich allmählich immer deutlicher manifestieren. Der Bardo der Dharmata ist eine Stufe des Prozesses; durch seine Dimension von Licht und Energie entfaltet sich der Geist aus seinem reinsten Zustand, der Grund-Lichtheit, zu seiner Manifestation als Form im nächsten Bardo, dem Bardo des Werdens.
Ist es nicht äußerst vielsagend, dass die moderne Physik den Nachweis erbracht hat, dass sich Materie, sobald man sie eingehender analysiert, als ein Meer von Licht und Energie erweist?
Der Bardo der Dharmata hat vier Phasen, von denen jede eine Chance zur Befreiung bietet. Wenn eine Gelegenheit nicht wahrgenommen wird, dann entfaltet sich die jeweils nächste Phase. Meine Erklärung dieses Bardo hat ihren Ursprung in den Dzogchen-Tantras. Dort heißt es, dass die wahre Bedeutung des Bardo der Dharmata letztlich nur über die sehr fortgeschrittene Lichtpraxis des Tögal wirklich verstanden werden kann. Aus diesem Grund spielt der Bardo der Dharmata in den Unterweisungen der anderen tibetischen Traditionen zu Tod und Sterben auch keine besondere Rolle. Sogar im „Tibetischen Totenbuch“, das ja auch den Dzogchen-Lehren zuzurechnen ist, kommt die Abfolge dieser vier Phasen lediglich implizit vor und wird nicht in offensichtlicher, klarer und geordneter Struktur erläutert.
1. Lichtheit – die Landschaft aus Licht
Im Bardo der Dharmata nehmen wir einen Lichtkörper an. Die erste Phase dieses Bardo beginnt, wenn „Raum in Lichtheit aufgeht“.
Plötzlich werden sie sich einer fließenden, vibrierenden Welt von Klang, Licht und Farbe bewusst. Alle gewöhnlichen Erscheinungsformen unserer vertrauten Umwelt sind zu einer allumfassenden Landschaft aus Licht verschmolzen.
Wie stabil die überwältigenden Lichterscheinungen im Bardo der Dharmata sind, hängt ganz und gar von der Stabilität an, die sie in der Tögal-Praxis erreicht haben. Nur eine vollkommene Meisterschaft dieser Praxis wird sie in die Lage versetzen, diese Erfahrung so weit zu stabilisieren, dass sie sie nutzen können, um Befreiung zu erlangen. Andernfalls wird der Bardo der Dharmata einfach wie ein Blitzschlag unglaublich kurz aufleuchten, und sie werden es nicht einmal bemerken. Ich möchte noch einmal betonen, dass ausschließlich jemand, der Tögal geübt hat, zur alles entscheidenden Erkenntnis fähig ist: dass nämlich diese strahlenden Manifestationen von Licht nicht getrennt von der Natur des Geistes existieren.
2. Vereinigung – die Gottheiten
Wenn es ihnen nicht gelingt, diese Erscheinungen als den unmittelbaren Ausdruck von Rigpa zu erkennen, beginnen die einfachen Strahlen farbigen Lichts sich zu verbinden und sich zu Lichtpunkten oder –kugeln verschiedener Größe, „Tikles“ genannt, zusammenzuballen. In ihrem Innern erscheinen die „Mandalas der friedvollen und zornvollen Gottheiten“ als unermessliche sphärische Lichtkonzentration, die scheinbar das gesamte Universum umfassen.
Dies ist die zweite Phase, und sie ist bekannt als „Lichtheit geht in Vereinigung auf“, wobei das Licht in Form von Buddhas oder Gottheiten von verschiedener Größe, Farbe, Gestalt und die unterschiedlichsten Gegenstände haltend, manifestiert wird. Das strahlende Licht, das von den Gestalten ausgeht, ist blendend, der Klang ist gewaltig wie das Krachen von tausend Donnerschlägen, und die Lichtstrahlen sind wie alles durchdringende Laserstrahlen.
Dies sind die „zweiundvierzig friedvollen und achtundfünfzig zornvollen Gottheiten“, die im Tibetischen Totenbuch beschrieben werden. Sie entfalten sich über eine bestimmte Zeitspanne von „Tagen“ und nehmen jeweils eigene Mandala-Muster in Fünfergruppierungen an. Diese Vision erfüllt ihre gesamte Wahrnehmung mit derartiger Intensität, dass Sie, wenn Sie sie nicht als das erkennen, was sie ist, erschreckend und Furcht einflößend wird. Dann können nackte Angst und blinde Panik sie erfassen und sie verlieren das Bewusstsein.
Von ihnen selbst und von den Gottheiten gehen feine Lichtstrahlen aus und verbinden ihr Herz mit dem ihren. Unzählige Sphären aus Licht erscheinen in ihren Strahlen, die sich erst ausdehnen und dann zusammenrollen, wenn sich sämtliche Gottheiten in Ihnen auflösen.
3. Weisheit
Wenn Sie wieder nicht erkennen und Stabilität gewinnen können, entfaltet sich die nächste Phase, die „Vereinigung geht in Weisheit auf“ genannt wird.
Wieder geht ein feiner Lichtstrahl von Ihrem Herzen aus und entfaltet sich zu einer gewaltigen Vision, in der jedes Detail dennoch ganz präzise unterscheidbar bleibt. Dies ist der Ausdruck der verschiedenen Weisheitsaspekte, die sich zusammen in einer Schau von ausgebreiteten Lichtteppichen und leuchtenden sphärischen Tikles aus Licht folgendermaßen entfalten:
Zuerst erscheinen auf einem Teppich aus dunkelblauem Licht saphirblau funkelnde Tikles in Fünfergruppen. Darüber erscheinen auf einem Teppich aus weißem Licht kristallweiß strahlende Tikles; darüber goldene Tikles auf einem Teppich aus gelbem Licht, und darüber wieder, auf einem Teppich aus rotem Licht, rubinfarben schimmernde Tikles. Alles wird gekrönt von einer strahlenden Lichtspähre, die wie ein ausgedehnter Baldachin aus Pfauenfedern wirkt.
Diese strahlende Erscheinung aus Licht ist die Manifestation der fünf Weisheiten des allumfassenden Raums, Spiegelgleiche Weisheit, Weisheit der Wesensgleichheit, Weisheit der Unterscheidung und Allesvollendende Weisheit. Da aber die Allesvollendende Weisheit ausschließlich in der Erleuchtung vervollkommnet wird, erscheint sie hier noch nicht. Daher fehlt ein fünfter Teppich aus grünem Licht mit seinen entsprechenden Tikles; die Eigenschaft der fünften Weisheit ist aber in den anderen Farben enthalten. Was hier manifestiert wird, ist unser Potential zur Erleuchtung; die Allesvollendende Weisheit erscheint dagegen erst, wenn wir tatsächlich Buddhaschaft erlangen.
Wenn Sie auch hier nicht Befreiung erlangen, indem Sie unabgelenkt in der Natur des Geistes ruhen, lösen sich alle Lichtteppiche mit ihren Tikles wieder auf.
4. Unmittelbare Präsenz
Jetzt kündigt sich die letzte Phase im Bardo der Dharmata an, „Weisheit geht in unmittelbare Präsenz“ auf. Die Gesamtheit der Wirklichkeit präsentiert sich nun in einer ungeheuren Erscheinung. Zuerst dämmert der Zustand ursprünglicher Reinheit wie ein offener, wolkenloser Himmel. Dann erscheinen die friedvollen und zornvollen Gottheiten, gefolgt von den reinen Bereichen der Buddhas, und darunter die sechs Bereiche samsarischer Existenz.
Die Grenzenlosigkeit dieser Vision liegt vollständig außerhalb unserer gewöhnlichen Vorstellungskraft. Jede Möglichkeit wird hier präsentiert: von Weisheit und Befreiung bis zur Verwirrung und Wiedergeburt. An diesem Punkt finden Sie sich mit hellsichtiger Wahrnehmung und geschärftem Erinnerungsvermögen ausgestattet. So sehen Sie zum Beispiel mit völliger Hellsichtigkeit und unbehinderten Sinnen Ihre vergangenen und zukünftigen Leben, können in den Geist anderer blicken und haben das Wissen von allen sechs Dimensionsbereichen. In nur einem Augenblick können Sie sich jede Unterweisung, die Sie erhalten haben, wieder in Erinnerung rufen, und selbst Belehrungen, die Sie nie vernommen haben, werden in Ihrem Geist wach.
Wenn Sie die Stabilität besitzen, diese Manifestationen als die „Eigenstrahlung“ Ihres eigenen Rigpa zu erkennen, sind sie befreit.
Die Dharmata verstehen
Nun, da mir der Bardo der Dharmata dämmert,
will ich alle Regungen von Furcht und Panik aufgeben,
will, was immer auch erscheint, als Ausdruck meines Rigpa
und als natürliche Erscheinung dieses Bardos erkennen.
Nun, da ich diesen entscheidenden Punkt erreicht habe,
will ich die friedvollen und zornvollen Gottheiten nicht fürchten,
die doch aus der Natur meines eigenen Geistes entstehen.
Der Schlüssel zum Verständnis dieses Bardo liegt darin, dass alle Erfahrungen, die in ihm gemacht werden, der natürliche Ausdruck der Natur des Geistes sind. Es geschieht Folgendes: Verschiedene Aspekte der erleuchteten Energie unseres Geistes werden frei gesetzt. Und ähnlich wie die tanzenden Regenbögen, die durch Lichteinfall von einem Kristall ausgehen, sein natürlicher Ausdruck sind, können auch die blendenden Erfahrungen der Dharmata nicht von der Natur unseres Geistes getrennt werden. SIE SIND SEIN UNMITTELBARER AUSDRUCK. Wie erschreckend die Erscheinungen auch sein mögen, sagt das Tibetische Totenbuch, sie bräuchten unsere Furcht nicht mehr zu erregen als ein ausgestopfter Löwe.
Streng genommen ist es eigentlich nicht richtig, diese Erscheinungen „Visionen“ oder gar „Erfahrungen“ zu nennen, weil Visionen und Erfahrungen auf dem dualistischen Prinzip von einem Wahrnehmenden und etwas Wahrgenommenen beruhen. Wenn wir diese Erscheinungen des Bardo der Dharmata als die Weisheitsenergie unseres eigenen Geistes erkennen können, gibt es keinen Unterschied zwischen Wahrnehmenden und dem Wahrgenommenen mehr, und wir erfahren Nicht-Dualität. In dieser Erfahrung ganz und gar aufgehen bedeutet Befreiung erlangen. Kalu Rinpoche sagte: „Befreiung entsteht in dem Augenblick des Nah-Tod-Zustands, da das Bewusstsein erkennt, dass seine Erfahrungen nichts anderes sind als der Geist selbst.“
Ob sich nun die reine Vision der Buddha-Familien und ihrer Wesenheit manifestiert oder ob die unreine Vision der Aggregate und negative Emotionen entsteht – beide sind in ihrer grundlegenden Natur wesenhaft identisch. Der Unterschied liegt in unserer Sicht: ob wir sie als getrennt von uns erleben oder ob es uns gelingt, zu erkennen, dass sie aus dem Grund der Natur des Geistes als seine erleuchtete Energie ausstrahlen.
Schauen wir uns näher an, was in unserem Geist als negative Emotionen manifestiert wird: Wird Begierde in ihrer wahren Natur erkannt, erscheint sie, vom Greifen befreit, als die „Wesenheit der Unterscheidung“. Wenn Hass und Abneigung durchschaut werden, entstehen sie als diamantene Klarheit, frei vom Greifen: die „Spiegelgleiche Weisheit“. Wenn Unwissenheit erkannt wird, erscheint sie als weite, natürlich Klarheit ohne Konzepte: die „Weisheit allumfassenden Raums“. Stolz erkannt man, sobald man ihn durchschaut, als Nicht-Dualität und Gleichheit: die „Weisheit der Wesensgleichheit“. Eifersucht wird durch Erkennen von Parteilichkeit und Greifen befreit und entsteht als die „Allesvollendende Weisheit“. Das Erscheinen der fünf negativen Emotionen ist also die direkte Folge unseres Nichterkennens ihrer eigentlichen Natur. Würden wir sie durchschauen, wären sie gereinigt und befreit und würden als Ausdruck der fünf Weisheiten in Erscheinung treten.