Die Faszination Oshos liegt wohl darin, dass Osho den Menschen erzählte, sie könnten durch tantrische Sexualpraktiken Erleuchtung erlangen. Und da etwa 99 % aller Menschen sexfixiert sind, sind sie für solche Ideen natürlich sehr empfänglich. Ich möchte nicht abstreiten, dass Erleuchtung durch tantrische Sexualpraktiken erlangt werden kann. Im Endeffekt geht es aber darum, den Sex zu transformieren, über ihn hinauszuwachsen. Und da scheint mir der Weg des Yoga, der viel einfachere zu sein.
In diesem Zusammenhang möchte ich auf einen Satz Anandamayi Ma's aufmerksam machen, die folgendes gesagt hat: "Wenn ihr eure Begierden und Leidenschaften ständig verbergt und unterdrückt, werden sie an einem bestimmten Zeitpunkt auch vergehen".
Sri Yukteswar, der Guru Paramahansa Yoganandas, sagt mit einem Beispiel aus der Bibel mit anderen Worten genau das gleiche wie Anandamayi Ma. Der Beitrag ist der Autobiographie Yoganandas entnommen und leider etwas länger, sorry.
Yogananda: »Die Geschichte von Adam und Eva ist mir unverständlich!« bemerkte ich eines Tages etwas hitzig, nachdem ich mich vergeblich bemüht hatte, diese Allegorie zu verstehen. »Warum bestrafte Gott nicht nur das schuldige Paar, sondern auch die unschuldigen, ungeborenen Nachkommen?«
Meine Heftigkeit belustigte den Meister mehr als meine Unwissenheit. »Das 1. Buch Mose ist tief symbolisch und darf nicht wörtlich ausgelegt werden«, erklärte er. »Der darin erwähnte Baum des Lebens« ist der menschliche Körper. Das menschliche Rückgrat gleicht einem umgekehrten Baum: die Haare sind seine Wurzeln und die motorischen und sensorischen Nerven seine Äste. Der Baum des Nervensystems trägt viele genießbare Früchte, nämlich die Sinneswahrnehmungen (Gesicht, Gehör, Geruch, Geschmack und Tastsinn). Diese darf der Mensch rechtmäßig genießen; doch der Geschlechtsgenuß, die »Frucht« in der Mitte des Körpers (»mitten im Garten«)14 , wurde ihm untersagt.
Die »Schlange« ist die zusammengerollte Energie am Ende des Rückgrats, welche die Geschlechtsnerven anregt. »Adam« ist die Vernunft und »Eva« das Gefühl. Wenn das Gefühl (das Eva-Bewußtsein) des Menschen von sexuellen Impulsen beherrscht wird, kapituliert auch seine Vernunft (Adam)15.
Als Gott das Menschengeschlecht erschuf, materialisierte Er kraft Seines Willens männliche und weibliche Körper und verlieh den neuen Lebewesen die Fähigkeit, sich auf ähnliche »unbefleckte« oder göttliche Weise zu vermehren16. Da alle individuellen Seelen bis dahin nur in instinktgebundenen Tierkörpern gelebt hatten, wo sie ihre Vernunft nicht voll entfalten konnten, erschuf Gott nun die ersten menschlichen Körper, die symbolisch Adam und Eva genannt werden. Diesen hauchte Er die Seelen oder göttlichen Wesenheiten zweier Tiere ein17 und gab ihnen damit die Möglichkeit zur Höherentwicklung. In Adam, dem Manne, herrschte die Vernunft vor, und in Eva, der Frau, überwog das Gefühl, womit das Prinzip der Dualität oder Polarität, das der ganzen Welt der Erscheinungen zugrunde liegt, zum Ausdruck kam. Solange sich der menschliche Geist nicht von der Schlangenkraft tierischer Gelüste verlocken läßt, verbleiben Vernunft und Gefühl gemeinsam im Himmel der Freude.18
Der menschliche Körper ist also nicht nur auf dem Wege der Evolution aus der Tierwelt hervorgegangen, sondern wurde durch einen besonderen Schöpfungsakt Gottes erschaffen. Die tierischen Formen waren zu primitiv, um der Göttlichkeit voll Ausdruck zu verleihen; den ersten Menschen wurden als einzigen Lebewesen der potentielle, allwissende »tausendblättrige Lotos« des Gehirns und die okkulten Zentren der Wirbelsäule gegeben.
Gott - das göttliche Bewußtsein in dem ersten erschaffenen Paar - riet ihnen, alle Sinnenfreuden zu genießen, mit einer einzigen Ausnahme: dem Geschlechtsgenuß. Dieser war ihnen untersagt, damit die Menschheit nicht in die niedrigere, tierische Zeugungsart zurückfalle. Doch Adam und Eva beachteten die Warnung nicht und erweckten ihre im Unterbewußtsein schlummernden tierischen Instinkte, die sie dazu verleiteten, die primitive Art der Fortpflanzung wieder aufzunehmen. Und so verloren sie die paradiesische Freude, die den ersten, vollkommenen Menschen noch eigen war. Da wußten sie, »daß sie nackt waren« und verloren das Bewußtsein ihrer Unsterblichkeit - wovor Gott sie gewarnt hatte. Sie unterwarfen sich damit dem physischen Gesetz, demzufolge jeder körperlichen Geburt ein körperlicher Tod folgt.
Das Wissen um »Gut und Böse«, das Eva von der »Schlange« versprochen wurde, bezieht sich auf die relativen und gegensätzlichen Erfahrungen, denen alle unter dem Einfluß der Maya stehenden Menschen ausgeliefert sind. Als der Mensch durch Mißbrauch seines Gefühls und seiner Vernunft (des Eva und Adam-Bewußtseins) unter den Einfluß der Maya geriet, verzichtete er damit auf sein Recht, den himmlischen Garten der Selbstgenügsamkeit zu betreten. Jedes menschliche Wesen ist persönlich verantwortlich dafür, seine »Eltern«, d.h. seine zwiespältige Natur, zu einer harmonischen Einheit oder zum Garten Eden zurückzuführen.«
Als Sri Yukteswar seine Erklärungen beendet hatte, blickte ich mit neuer Ehrfurcht auf die Seiten des Alten Testaments.»Lieber Meister«, sagte ich, »zum ersten Male fühle ich Adam und Eva gegenüber so etwas wie eine Kindespflicht.«
14 »Wir essen von den Früchten der Bäume im Garten, aber von den Früchten des Baumes mitten im Garten hat Gott gesagt: Esset nicht davon, rühret's auch nicht an, daß ihr nicht sterbet.« 1. Mose 3, 2-3
15 »Das Weib, das du mir zugesellt hast, gab mir von dem Baum, und ich aß ... Das Weib sprach: Die Schlange betrog mich also, daß ich aß.« 1. Mose 3, 12-13
16 »Und Gott schuf den Menschen ihm zum Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie einen Mann und ein Weib. Und Gott segnete sie und sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und macht sie euch untertan.« 1. Mose 1, 27-28
17 »Und Gott der Herr machte den Menschen aus einem Erdenkloß, und er blies ihm ein den lebendigen Odem in seine Nase. Und also ward der Mensch eine lebendige Seele.« 1. Mose 2, 7
18 »Und die Schlange (der Geschlechtstrieb) war listiger denn alle Tiere auf dem Felde (als alle anderen körperlichen Sinne).« 1. Mose 3, 1