Ich habe die Lebensgeschichte meiner Mutter via Voice-Rekorder aufgenommen und ins Schriftdeutsche übertragen. Zu der betreffenden Frage erzählte sie:
"Ich erinnere mich an einen Vorfall, bei dem mir fast das Herz stehen blieb das sehe ich noch heute so lebendig vor mir, als sei es gestern geschehen. Als ich eines Tages von der Schule kam und am "Ring", dem Marktplatz von Reichenstein, angelangt war, zogen die Juden an uns vorbei, in Viererreihen und in Sträflingsanzügen, kahlgeschoren, mit hängenden Köpfen. Sie wurden von Soldaten mit Gewehren angetrieben, die Langestraße hoch ins Bergwerk; dazu mussten sie durch die Stadt und am Ring vorbei. Wir waren dick eingemummelt, es war Winter, und diese Menschen hatten nur dünne Sträflingsanzüge an und Lumpen um die Füße. Die Soldaten schrieen und stießen sie nach vorn, es sollte schnell gehen, damit die Leute so wenig wie möglich mitkriegten. Es war entsetzlich.
Immer wieder hört man Beteuerungen wie: "Von der Judenverfolgung und den Vernichtungslagern wussten wir nichts, es spielte sich hinter den Mauern ab." Für meinen Teil kann ich sagen: Das ist gelogen. Wir wussten es sehr wohl, alle wussten es, es war nur nicht offiziell. Hinter vorgehaltener Hand unterhielten sich die Erwachsenen darüber: "Haben Sie schon gehört, den und den haben sie heute abgeholt." Wir wussten auch, dass die Juden vergast wurden, es war durchgesickert. Im Grunde wusste jeder Bescheid,
aber keiner durfte darüber reden. Vor allem: Die Leute hatten ja auch Angst, Denunziation war zu einer Art Volkssport geworden. Es reichte schon ein Hitlerwitz. "Führerbeleidigung" hieß es dann, und das war eine Straftat."