Sendung vom 25.07.2004 (WDR)
Japan
Die Insel der 100jährigen
Als diese Beine laufen lernten, hatte gerade ein neues Jahrhundert begonnen. Ushi Okushima ist heute 102. Ihre Gäste kann sie immer noch glänzend unterhalten. Nur das Gehen macht ihr neuerdings Probleme, deshalb kommen die Nachbarn zu ihr. Sie lebt mit einer Tochter zusammen. Die beiden altern zwar, aber seltsam langsam. Frau Okushima hat seit Jahren keine Medikamente mehr gebraucht. Und ihrer Tochter sieht man die 76 auch nicht gerade an.
Ushi Okushima lebt in dem kleinen Dorf Ogimi. 3500 Einwohner, davon sind zwölf schon über 100. Unter den Langlebigen Okinawas sind die Menschen hier die Könige. Sie werden älter und älter und verfügen dabei über wundersame Lebenskräfte.
Unter den Alten von Okinawa gibt es kaum Herz- und Kreislauferkrankungen. Die Krebsrate ist eine der niedrigsten der Welt. Ein Gesundheitsparadies also, für das Wissenschaftler sogar Erklärungen gefunden haben, zum Beispiel in den Kochtöpfen.
Frau Emiko Kinjo kennt die Zutaten für ein langes Leben. Eine heißt Goya und ist eine bitterschmeckende warzige Gurke, aber dafür vitaminreich und ein Klassiker auf Okinawa. Frau Kinjo führt ein kleines Restaurant in Ogimi. Sie sammelt traditionelle Rezepte. Auf der Speisekarte nur Langlebigkeits-Menüs. Viel dunkelgrünes Gemüse, wenig Fett, kaum Salz. Die Zutaten werden ausgewogen kombiniert, wie es die Alten seit Generationen vormachen. Das heißt zum Beispiel Tofu pur, und mal mit Kräutern, kleine Fische und Tintenfischwürfel, außerdem Meeresalgen. Reis, langgekochtes Schweinefleisch und Pilze sind noch in der in der Servierbox. Das ist nicht jedermanns Geschmack, dafür kalorienarm, und in Ogimi hat westliches Essen dagegen keine Chance. Das Essen holen sich viele noch selber aus dem Meer oder aus dem eigenen Garten. Die traditionelle Fischfangmethode mit Blick durch einen Eimer und auch mit 86 nach wie vor erfolgreich. Die Alten auf Okinawa erforscht Professor Makoto Suzuki seit 25 Jahren. Er erklärt die Langlebigkeit mit einer Vielzahl von Faktoren, das Essen vor allem und die körperliche Aktivität, aber auch Gelassenheit und Lebensfreude mit Tanz und Gesang bei jeder Gelegenheit zählt er dazu.
Doch während die Alten fröhlich älter werden, werden die jüngeren Generationen immer dicker. Zwei Autostunden entfernt: die Inselhauptstadt Naha. Die USA haben auf Okinawa 26000 Soldaten stationiert. Die haben die Esskultur der Jüngeren verändert. Die 20- bis 60jaherigen auf Okinawa sind mittlerweile die Dicksten in Japan, ihre Lebenserwartung nimmt rapide ab, vor allem Herzkrankheiten sind auf dem Vormarsch. Die Lage ist ernst. Die Behörden haben bereits reagiert. In mehren Schulen wurden die Speisepläne geändert. In den Mittagspausen kommen nur noch traditionelle Gerichte auf den Tisch, samt bitterer Goya-Gurke, Algensuppe und Salat. Außerdem steht nun Ernähungswissenschaften auf dem Stundenplan. Die Kinder sollen begreifen, warum dass Essen der Großeltern und Urgroßeltern für sie besser ist, auch wenn es nicht ganz so lecker schmeckt wie Hamburger und Pommes.
Zurück in Ogimi. Im Gemeindezentrum treffen sich die Alten und sind natürlich wieder in Bewegung: Diäten musste hier noch niemand machen. Und obwohl viele alleine leben, hat auch eine andere Zivilisationskrankheit hier wenig Chancen: Die Einsamkeit. Die Menschen helfen sich gegenseitig und die Familien sind meist sehr gross. Ushi Okushima hat sechs Kinder alleine gross gezogen, ihr Mann starb im Zweiten Weltkrieg. In ganz Japan ist sie ein Symbol für die Lebenskräfte des Okinawa-Essens. Doch davon alleine, meint sie, sei sie wohl nicht so alt geworden. Es sei alles ja auch bestimmt durch den Himmel. In Ogimi stehen diese noch einige Feste an, allein fuenf 100. Geburtstage. Und Ushi Okushima wird 103. Doch noch viel mehr freut sie sich auf die Geburt ihres zweiten Ururenkels.