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Alicebergamo
Guest
Ich saβ im Nachtzug nach Paris und hatte ein Abteil ganz für mich, fühlte mich jung und voller Tatendrang. Ja, mit neunzehn Jahren ist man fast noch zu jung, dachte ich, das erste Mal nach Paris, und ganz alleine. Ich fieberte geradezu dieser Stadt entgegen. Paris die Welt der schönen Mädchen, die Welt der Mode, dort wo sich meine Träume erfüllen sollten. Morgen würde ich meine Mutter in Paris treffen, sie wollte mich mit Madame Friedlander bekanntmachen, der wichtigen Verkaufschefin von Chanel.
Drauβen zogen die Wiesen und Felder einer flachen und belanglosen Landschaft vorbei. Ganz in Gedanken blickte ich auf die Bäume, die sich golden färbten, es war Mitte September.
Ich werde einen guten Eindruck machen müssen, überlegte ich und atmete einmal tief ein und aus. Abgesehen, dass ich künstlerisches Talent und schon einiges Können aufzuweisen habe, schaue ich auch gut aus. Ach, ich weiβ es einfach, ich kriege den Praktikantenjob und werde, so wie Madame Friedlander, am Telefon andeutete, aufgrund meiner Bewerbungsunterlagen und den Fotos, auch auf den Laufsteg vorführen das ist meine Eintrittskarte in diese neue Welt. Der Laufsteg interessiert mich mehr, als Kleider zu entwerfen und bis in die Nächte im Atelier zu hocken, mit Stecknadeln im Mund und Schneiderkreide in der Hand, das Maβband immer um den Hals gehängt, und um die schönen Modells rumknien. Meine Welt ist mit Sicherheit die Welt der Mode, aber auf dem Laufsteg!
Inzwischen war es dunkel geworden, ich nahm eine Zigarette und blies den Rauch gegen die Scheibe des Zugfensters. Prüfend betrachtete ich mein eigenes Spiegelbild. Meine Augen, leicht schräg gestellt, Blaugrün waren sie. Gesichtszüge mit hohen Backenknochen. Ich lächelte mir zu, betrachtete meinen Mund mit der ausgeprägten unteren Lippe. Eigentlich konnte ich zufrieden sein. Meine mahagoniefarbenen, gelockten Haare, die weit über die Schultern hinab fielen, waren mein ganzer Stolz. Ich stand auf, drehte mich einmal und betrachtete kritisch meinen Körper. Andererseits ist Paris voller schöner Mädchen, bin ich da wirklich schön genug? Schon wieder diese Zweifel, durchfuhr es mich. So beschloss ich erst mal nicht mehr darüber nach zu denken, denn morgen würde ich mehr wissen. Warum sich also den Kopf zerbrechen, wie schön ich sei?
Ich holte mein Buch von Albert Camus aus der Tasche, meine aktuelle Lieblingslektüre, war das Buch: Der Mythos von Sisyphos. Das Leben als Absurdität und die Frage, ob man durch einen Selbstmord entfliehen kann? Das ist keine leichte Aufgabe, hier ist nur rücksichtsloses, logisches Denken am Platz. Logisch sein ist bequem, aber bis ans Ende logisch sein, ist geradezu unmöglich. Gibt es eine Logik bis zum Tode?, fragte ich mich und seufzte. Seit der Zeit auf der Kunstschule, befasste ich mich mit den Fragen des Existentialismus und dachte über den Sinn oder Unsinn des Lebens nach.
Wir hatten inzwischen Aachen hinter uns gelassen, und die Grenze zu Belgien überquert, da öffnete sich die Türe zu meinem Abteil und ein Mann erschien. Er setzte sich ans Fenster und nickte mir kurz zu.
Ich schätze mal, er wird Ende zwanzig sein, dachte ich. Und Ausländer, er macht auf mich einen orientalischen Eindruck, seine dunklen Haare, eine Hakennase und stechend schwarze Augen, die nun in ein Buch vertieft waren. Auf dem rechten Unterarm hatte er eine kleine Tätowierung, es sah aus wie ein Skorpion.
Ich wendete mich erneut meinem Camus zu: Tiefe Gefühle besagen - wie groβe Kunstwerke - immer mehr, als sie bewusst aussagen. Las ich weiter. Das ständige Vorhandensein, einer Regung oder eines Widerwillens in einer Seele lässt sich in Gewohnheiten des Denkens und Handelns feststellen und noch
Was für ein Zufall! Sie lesen Camus?, holte mich die Stimme des Fremden aus meinen Gedanken über die Seele, die von vielem nichts weiβ. Von den groβen Gefühlen, begleitet von der Welt der Seele, ob diese Welt nun glanzvoll oder jämmerlich sei
Ich blickte hoch. Er hielt mir lächelnd sein Buch entgegen. Das Lächeln machte ihn gleich viel sympathischer. Und was stand auf seinem Buch? Jean-Paul Sartre, Les Mots, ein Buch in französischer Sprache, aber der Fremde sprach einwandfreies Deutsch.
Ich lächelte zurück, ein wenig schüchtern, ein wenig reserviert. Er aber brach bald das Eis zwischen uns und erzählte, dass Sartre und Camus, seine Lieblinge seien.
Ich habe auch von Sartre gelesen, erwiderte ich. Aber ich ziehe Camus vor. Sartre ist mir zu extrem, da finde ich nicht den richtigen Zugang. Im Mythos von Sisyphos, ist die zentrale Frage, ob das Leben die Mühe, gelebt zu werden, lohnt oder nicht.
Ich heiβe Achmed. Er zwinkerte mir zu und meinte: Das ist die Grundfrage aller Philosophie.
Achmed?, fragte ich. Das ist kein französischer Name, oder?
Ich komme aus Ägypten und studiere Philosophie an der Sorbonne. Er bot mir eine Zigarette an.
Ich heiβe Claudia. Dann fahren sie auch nach Paris? Er nickte.
So werden wir genügend Unterhaltungsstoff haben, meinte ich freudig.
Und genau so war es. Wir diskutierten die halbe Nacht über den Existentialismus und den Sinn des Lebens. Über unsere Gedankenkonstrukte und über unsere Ideale.
Kierkegaard fand einen Weg heraus, sagte ich. Der Existentialismus ist für mich der Nullpunkt.
Mystische Gedankengänge, sind so legitim wie jede andere Geisteshaltung. Braucht das Leben einen Sinn, um gelebt zu werden?
Ich war fasziniert von seinem Geist, den er mir mit einem umwerfenden Charme präsentierte und von seinen dunklen Augen, sie sprühten geradezu.
Achmed war aus Kairo und wir redeten von den Pyramiden und den Zerfall der Zeit, den Untergang der Kulturen und dem Geist, der alles überdauert. Aber auch über die Mauern des Absurden, die wir durchdringen müssen.
Ich glaube, ich werde dir eines Tages Ägypten zeigen, sagte er plötzlich und lachte mich an. Ich bin sicher, es wird dir gefallen, Claudia.
Wahrscheinlich bleibt uns ein Mensch immer unbekannt, sagte ich. Wir duzten uns inzwischen. Auch wenn ich dich kenne, so würde immer etwas Unlösbares bleiben.
Es war wunderbar mit Achmed zu reden. Sein geschliffener Geist hatte mich gänzlich gefangen genommen. Irgendwann um vier Uhr schliefen wir beide ein und erwachten erst, als der Zug in die Gare du Nord, von Paris einfuhr. Ich gab meinen kleinen Koffer in ein Schlieβfach und ging mit Achmed in ein Bistro in der Nähe vom Bahnhof Frühstücken. Milchkaffee und knusprige Croissants, bestellten wir. Dann rauchten wir noch eine Zigarette. Achmed schrieb seine Telefonnummer auf einen Zettel und schob ihn zu mir rüber. Melde dich heute, sobald du Zeit hast, sagte er und lächelte mir zu. Dann zeige ich dir Paris bei Nacht.