Meine Schwester ist obdachlos

Liebe Silesia!

Auch wenn mir die Schilderungen über eine Mutter, die ihre Kinder verlässt, auch sehr nahegehen, so würde ich mich hüten, hier laut zu verurteilen, auch leise....

Mir ists bis jetzt immer passiert, dass - wenn ich am lautesten über andere gerichtet habe, ich kurze Zeit später selbst in deren Situation stand - offensichtlich, um diese Handlungsweise nachvollziehen zu lernen. Kann schmerzhaft sein, Silesia.

Es wurde schon erwähnt, dass NICHTS ohne Grund passiert. Du kannst als Außenstehende die Gründe dieser Frau nicht kennen - wie kannst Du dann richten?

Liebe Grüße
Reinfriede

Es gibt keinen einzigen Grund, (s)ein Kind schlecht zu behandeln.
Keinen.
Es zählen unsere Kinder - dannach muss ein Erwachsener leben!
 
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Die Schilderungen in verschiedenen Beiträgen bewegt mich dazu, doch noch ein bisschen mehr zu meinen Erfahrungen zu schreiben. Es wird in diesen verschiedenen Varianten sehr deutlich, was die Kriegserfahrungen der Eltern- und Großelterngenerationen in diesem Land alles angerichtet haben. Ich weiß zwar nicht, ob das auch das Problem in der Familie von Abendsonne ist, aber es gibt unterschiedliche Möglichkeiten, schwerwiegende Traumata davon zu tragen und die Verhaltensweisen dieser Eltern gleichen sich doch auf die eine oder andere Art.

Meine Eltern kamen als Jugendliche aus den ehemals deutschen Gebieten, die heute in Polen liegen, in einem Alter, in dem sie nicht wirklich verstanden, was da passierte. Aufgewachsen in einer Atmosphäre der Gewalt, musste meine Mutter mit ansehen, wie ihr Elternhaus zerbombt wurde und alles in Schutt und Asche lag, später eine Flucht im Winter, im Treck und in Viehwagons, sie hat nie darüber sprechen wollen. Von den Erfahrungen meines Vaters weiß ich gar nichts. Zwei schwer traumatisierte Menschen, auf der Flucht vor ihren Erinnerungen. Für die Überlebenden gab es keine therapeutischen Angebote, denn jeder war oder fühlte sich irgendwie mitschuld an der Katastrophe und wolte das nicht thematisieren und zugeben und die Devise war, zusammenreißen und weitermachen. Der psychische Druck landete ungebremst in der nächsten Generation.

Mein Vater ein Despot, meine Mutter, depressiv und innerlich abwesend, unterwarf sich seinen Ansprüchen und ließ bei jeder Konfrontation egal ob mit Lehrern, Nachbarn oder Vater ihre Kinder im Stich. Eine Atmosphäre von Leere, unterschwelligem Entsetzen und latenter Gewaltätigkeit, aber nach außen das genaue Gegenteil, die Fassade war vor allen Dingen das Wichtigste. Über die Probleme und über jede Art von Vergangenheit wurde geschwiegen, so kam es, dass ich ohne Vergangenheit und ohne Wurzeln, ja eigentlich ohne Eltern aufwuchs. Ich habe meine Eltern gehasst, vor allem in der Zeit der Pubertät, meine Mutter für ihre Schwäche und es gab heftigste Auseinandersetzungen mit meinem Vater. Mit den Geschwistern ist es ähnlich, wie schon berichtet, man redet nicht miteinander, es gibt psychische und psychosomatische Probleme, ich habe seit Jahren keinen Kontakt mehr zu meinen Eltern und meinen Geschwistern, mit gelegentlichen Ausnahme zu einem Bruder, der sich ebenfalls von der Familie abgeseilt hat. Ich denke, wir beiden halten für die anderen einen Zustand aufrecht, mit dem sie leben können, indem wir uns davon gemacht haben mit der Hauptlast der Probleme im Gepäck.

Später habe ich dann drei mal geheiratet, nur um immer wieder in dasselbe Drama von latenter Gewalt, Missbrauch und Psychoterror zu geraten, anfällig für Drogen und Alkohol das Ganze mit purer Willenskraft immer wieder irgendwie geregelt zu kriegen, wohl nach dem Vorbild: zusammenreißen und nichts anmerken lassen. Allmählich dämmerte mir, dass es ein Muster war, das ich da ausagierte und begann mit der Aufarbeitung. Der ganze Komplex äußert sich mehr psychisch und unterwellig, wohl wegen der allgegenwärtigen Verdrängung der Probleme durch meine Eltern. Von meinen Kindern hat vor allem die Älteste einiges abbekommen, sie hat gravierende psychische Schwierigkeiten. Zum Glück ist es gelungen, den ganzen Mist nicht komplett an die beiden anderen weiterzugeben.

Ich sehe heute immer noch keine Möglichkeit, mit dieser Familie umzugehen, aber ich habe wenigstens für mich eine einigermaßen akzeptable Lebensweise erreichen können. Aber immer ich fühle mich immer noch wurzellos, in dieser Welt nicht zuhause und nicht erwünscht. Schuldzuweisungen helfen dabei überhaupt nicht weiter. Das Ausmaß dieser Erb-Lasten in diesem Land beginnt gerade erst richtig deutlich zu werden.

@Silesia
Es war immer schon an den Gerechten, sich zu hochmütigen Urteilen und moralischen Phrasen aufzuschwingen und Steine auf andere zu werfen. Ich denke immer, sie sollen selbst beurteilen, ob sie dazu berechtigt sind.

Grüße an alle!
Sheena
 
Mir ists bis jetzt immer passiert, dass - wenn ich am lautesten über andere gerichtet habe, ich kurze Zeit später selbst in deren Situation stand - offensichtlich, um diese Handlungsweise nachvollziehen zu lernen. Kann schmerzhaft sein
mein wort!
bei mir genauso - ist wie ein kosmisches gesetz oder so - echt witzig, wenn man das dann schon erkennt während man urteilt. muss schon immer schmunzeln, wenn ich mir wiedermal selbst eier lege :zauberer1

liebe grüße
 
Es gibt keinen einzigen Grund, (s)ein Kind schlecht zu behandeln.
Keinen.
Es zählen unsere Kinder - dannach muss ein Erwachsener leben!

manchmal kommst du mir wirklich unfehlbar vor - aber auch sehr verständnislos.

"Letztlich passiert alles aus Liebe" (zitat von irgendwem)

so, hab ich jetzt geurteilt? was mag jetzt wohl kommen liebes leben ... :schnl:
 
hallo,

absolut gefesselt hat mich jetzt u.a. sheenas beitrag. ich habe mich so etwas von "wiedergefunden" in ihrem/deinem posting, obwohl bei uns diese verschärfte art von kriegstraumata wahrscheinlich nicht stattfand..... .
es wird dennoch generell so sein, - ich habe es auch vorher schon mal so gehört - dass unsere generation den ballast von den generationen vorher abzuarbeiten hat - die generationen vorher hatten durch ihren überlebenskampf nicht die kraft/zeit, sich mit dem auseinanderzusetzen, was herumgeschleppt wurde.

wir bekommen das zu spüren, umsonst boomen diese familenaufstellungen nicht dermaßen.
........
sheena schreibt wie gesagt absolut treffend in einer art, wo wahrscheinich nicht nur ich mich wiederfinde.
eltern:...... in einem Alter, in dem sie nicht wirklich verstanden, was da passierte. Aufgewachsen in einer Atmosphäre der Gewalt, musste meine Mutter mit ansehen, wie ..........., sie hat nie darüber sprechen wollen. Von den Erfahrungen meines Vaters weiß ich gar nichts. Zwei schwer traumatisierte Menschen, auf der Flucht vor ihren Erinnerungen. Für die Überlebenden gab es keine therapeutischen Angebote, denn jeder war oder fühlte sich irgendwie mitschuld an der Katastrophe und wolte das nicht thematisieren und zugeben und die Devise war, zusammenreißen und weitermachen. Der psychische Druck landete ungebremst in der nächsten Generation.Mein Vater ....., meine Mutter, depressiv und innerlich abwesend, unterwarf sich seinen Ansprüchen und ließ bei jeder Konfrontation egal ob mit Lehrern, Nachbarn oder Vater ihre Kinder im Stich. Eine Atmosphäre von Leere, unterschwelligem Entsetzen und latenter Gewaltätigkeit, aber nach außen das genaue Gegenteil, die Fassade war vor allen Dingen das Wichtigste. Über die Probleme und über jede Art von Vergangenheit wurde geschwiegen, so kam es, dass ich ohne Vergangenheit und ohne Wurzeln, ja eigentlich ohne Eltern aufwuchs. Ich habe meine Eltern gehasst, vor allem in der Zeit der Pubertät, meine Mutter für ihre Schwäche

Später habe ich dann ....., nur um immer wieder in dasselbe Drama von latenter Gewalt, Missbrauch und Psychoterror zu geraten, .....das Ganze mit purer Willenskraft immer wieder irgendwie geregelt zu kriegen, wohl nach dem Vorbild: zusammenreißen und nichts anmerken lassen. Allmählich dämmerte mir, dass es ein Muster war, das ich da ausagierte und begann mit der Aufarbeitung. Der ganze Komplex äußert sich mehr psychisch und unterwellig, wohl wegen der allgegenwärtigen Verdrängung der Probleme durch meine Eltern. Von meinen Kindern hat vor allem die Älteste einiges abbekommen, .....
Ich sehe heute immer noch keine Möglichkeit, mit dieser Familie umzugehen, aber ich habe wenigstens für mich eine einigermaßen akzeptable Lebensweise erreichen können. Aber ich fühle mich immer noch wurzellos, in dieser Welt nicht zuhause und nicht erwünscht. Schuldzuweisungen helfen dabei überhaupt nicht weiter. Das Ausmaß dieser Erb-Lasten in diesem Land beginnt gerade erst richtig deutlich zu werden. [/B

..... meinen vater als kleinen buben zu sehen (er hatte die soldaten mit steinen beworfen:) - ich weiß nicht, ob er sehr viel mehr mitbekommen hat vom krieg selber, dennoch, die härte war mit sicherheit da) dies, und das verlassen-werden von der eigenen mutter, als er selber noch klein war (ja, auch meinen vater hatte die mutter verlassen bzw. sie wurde verjagt - ich denke, das ist die treffendere variante, die erzählt wurde), sein kleiner toter bruder, der im bach nebenan ertrunken war, die schläge, die er abbekam, dass heute noch narben da sind, all das hat mich meinen vater in meinem ersten teil des "aufarbeitens" mit mitgefühl betrachten lassen.

ich weiß nicht wirklich, ob DAS gut war, ich meine, mitgefühl und somit verständnis für ihn zu bekommen. leichter hab ich mir getan, als mir vater in der ersten phase meiner nachjugendzeit gleichgültig war, und in der folge, als ich ihn verurteilte für das, wie er war/wie er ist.

denn es ist mir mit dem "vater-anders-betrachten" nur eine zeit besser gegangen, weil ich ihn somit "sein-lassen-konnte" wie er ist = anerkennen, was ist.

damit habe ich aber MICH belastet, weil somit die verpflichtung wieder da war, mich mehr um den vater, der mich nach wie vor nicht sieht, zu kümmern, was ich dann aber irgendwann nicht mehr konnte/wollte. dann kamen die schuldzuweisungen: "du kümmerst dich nicht um den vater, das ist nicht schön von dir".

beneiden tu ich in gewisser weise all die menschen, die es schaffen, sich abzugrenzen von eltern, die ihnen nicht gut-tun,
die nicht nur das "ich-hab-verständnis-für-dein-verhalten" anschauen ("ja, du bist mein vater, und alles was du tust, nehme ich deshalb an"), sondern sich selber,

die nicht aus der moralischen verpflichtung heraus ("es sind deine eltern")

und aus dem es-nicht-glauben-wollen

noch immer verhaftet bleiben.


so wie es sheena schafft, norluchs`bruder, alice`bruder, meine schwester, viele andere, es würde auch bei mir eine riesenlast abfallen, wenn ich mich aus meiner vermeintlichen verpflichtung befreien könnte, die eltern in meinem leben zu belassen.

in gewisser weise habe ich also die volle achtung vor meiner schwester.

ich denke, das ist auch der grund, warum ich absolute scheu vor den familienaufstellungen habe. denn dort geht es ja auch darum, mit den eltern in frieden zu kommen (ihnen noch dazu die "ehre" zu erweisen). und ich weiß nicht wirklich, ob ich das möchte.
leichter wäre für mich tatsächlich ,wenn ich sagen könnte,
und wünsche dir/euch noch ein schönes leben, aber bitte ohne mich.

ich wollte eigentlich so einiges anderes schreiben jetzt, auf eure fragen antworten,
sheenas beitrag hat mich aber in eine andere richtung gebracht.

vorerst mal genug zu lesen für euch :flower2:


bis später

abendsonne
 
Indigomädchen;1005838 schrieb:
Ich habe auch schon Leute kennen gelernt, die bewußt und gewollt obdachlos waren. Für mich wär´s auch nichts, aber manche schätzen die Freiheit so sehr, dass sie sich nichtmal an eine Wohnung binden wollen.
... so hab ich es noch nicht gesehen, danke dafür.
könnte bei uns tatsächlich in der familie ein thema sein, diese sehnsucht nach freiheit.
auch ich fühle mich irgendwie immer getrieben und auch jetzt fällt es mir sehr schwer, ansässig zu bleiben. "für immer hier" erschreckt mich sehr.
auch meinem bruder geht es nicht gut, ihn zieht es immer in die berge, jetzt möchte er gänzlich weg in die freiheit, weg von der familie sogar. er spart deshalb auch, um später von den zinsen leben zu können, ohne tägliche verpflichtung irgendwo an einem ort seines wunsches verharrend.

meine schwester war auch immer am weltenbummeln, bevor sie die kinder bekam.
als die kinder in die schulplicht kamen und sie sesshaft werden musste, drehte sie völlig durch. sie bekam diese absolut psychischen probleme und ging dann ganz.

eben auf die straße.


jetzt aber wirklich bis später

abendsonne
 
Wenn ich eines mit der größten Sicherheit sagen kann, dann ist es die Tatsache, dass ich für meine Tochter da bin und sein werde, solange ich denken(!) kann.
Ich habe meinen Beruf nach meiner Tochter gewählt, ich habe sie mit 17 bekommen und gerade eine Wahnsinns-Chaos-Zeit mit ihr durchlebt, sehr viele heimliche Tränen geweint, die Starke spielen müssen, ganz tief unten.
Ich habe eine super Familie im Background, habe mir jedoch überlegt von einem Hochhaus zu springen .. mit ihr, oder allein?!
Nein - es war nur meine Traurigkeit, meine Kraftlosigkeit, diese Gedanken waren absurd.
Sie ist ein sehr glückliches aufgewecktes reifes Kind, das alles hat und bekommt. Das Meisterwerk meines Lebens.
Mama ist immer da - wir sind unschlagbar.

Keine Macht, kein Universum wird mein hartes Urteil bestrafen.
Mein Urteil kommt von tiefster Liebe, harten Lektionen und ist die reinste Erkenntnis, die ich erlangt habe!
 
Noch ein kleiner Erfahrungsbericht zum Thema Urteilen:

Meine Mutter wollte sich das Leben nehmen, als ich 3 Jahre alt war.
Ich machte Mittagsschlaf, sie schluckte Tabletten und legte sich neben mir ins Bett.
Durch Zufall bin ich zu früh aufgewacht, habe rumgebrüllt, bis Oma aus dem 1.Stock runtergekommen ist.
Meiner Mama konnte der Magen in letzter Minute ausgepumpt werden - Sie ist seit dem frei von allen Depressionen, sie ist ein Engel, für alle Menschen.
Ich liebe sie abgöttisch, aber ich werde es niemals verzeihen, dass sie mich alleine lassen wollte.
Sie weiss das. Sie weiss, dass es nichts schlimmeres für mich geben könnte, als dass sie mich einfach verlässt.

Ich sage es noch einmal
Mein Urteil kommt von tiefer Liebe. Mutter und Kind bedeuten die wahre Liebe.
 
Silesia, die Gschichten kennen wir eh schon. :weihna1 Das ist der Thread von Abendsonne mit dem Titel "Meine Schwester ist obdachlos".....

Liebe Grüße
Reinfriede
 
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Silesia schrieb:
Ich sage es noch einmal
Mein Urteil kommt...

Egal, woher dein Urteil kommt. Dass ein anderer Mensch deinem Empfinden nach einen Fehler begeht, gibt dir noch lange nicht das Recht, ihn zu (ver-)urteilen.

*und wieder weg :escape:

lichtbrücke
 
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