nanabosho
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Wie findet ihr denn Folgendes?
In die neuen Fronten, die sorgfälltig und mit Leidenschaft errichtet worden waren, hatte sich die Welt gefügt. Auf der Seite aber, wo Haben galt, Scheinen und Maskenspiel, brodelte es in den Seelen der jungen Menschen. Neue Propheten hatten sich erhoben, riefen und sangen ihre Botschaft durch die Länder. Sie war immer dieselbe, kurz und bündig, schuf nur einfache Bilder, kam weder weise noch erwachsen daher. Doch sie klang anders als alles Bisherige.
Macht Liebe! tönte es frech und herausfordernd. Tanzt nackt in der Sonne, reibt euch aneinander im warmen Regen! Für den Spaß seid ihr hierhergekommen, für die Freude, für die Liebe! Verweigert euch nicht einander, gebt euch, was ihr wollt! Verlacht die Moral, verlacht die Gesetze, pfeift auf die Pflicht! Denn Moral verdirbt, Gesetze schaffen Hass, und die Pflicht führt ins Verderben! In den Krieg... Stellt euch vor, es ist Krieg, und niemand geht hin!
Die ersten Strahlen des Lichtes blendeten denen, die zu viele Jahre in der Finsternis verbracht hatten, die Augen. Nur die in der Dämmerung Geborenen waren bereit, ihre Lider vorsichtig zu öffnen und nahmen die Rufe auf. Wenige nur wagten den nackten Tanz in der Sonne, doch die Sehnsucht danach hatte sie alle ergriffen.
Neuartige, wirbelnde Rhythmen zuckten durch steife Körper, und die sich ihnen hingaben, schrien ekstatisch. Den Rausch suchten sie, die Vision, die er versprach, und nicht selten erlagen sie seinen Verlockungen und wählten einen frühen Tod.
Der lange zurückgehaltene Traum schäumte wild auf, bordete über, durchbrach alle Schranken. Wie viele Generationen hatten in Mühe gelebt, in Schwere, unsägliche Lasten tragend! Diese nun wollte alles abwerfen, alles hinter sich lassen, alles vergessen! Sie lachten, wenn man ihnen vom Alten predigte, sie verließen ihre Elternhäuser und achteten weder Ehre noch Besitz. Amerikas milde Pazifikküste bot ihnen erste Heimstatt, weder das Dach über dem Kopf noch den Pullover auf der Haut vermissten sie in den warm San Franciscan Nights. Wie die Lilien auf dem Felde wollten sie sein, wie die Vögel unter dem Himmel, frei und schön und sorglos und genährt von Gott allein.
Mann und Frau, in der Welt ihrer Vorfahren leidvoll getrennt,
erklärten sie als ebenbürtig. Die Natur entdeckten sie, Tiere, Wälder, Flüsse, von den machtlüsternen Herren der Wirtschaft benutzt und ausgelaugt, von Bibel, Talmud, Koran und Kommunistischem Manifest sträflich vernachlässigt. Und Eingeborene, einst verachtete Wilde, erwählten sie zu Lehrern.
Ängstlich und besorgt beobachteten Eltern und Erzieher, Geistliche und Staatslenker das Geschehen. Süßlich, verständnislos und rachesinnend lächelten sie, wenn jemand das Lied von den sich ändernden Zeiten anstimmte, mit dem ein näselnder Mundharmonikapoet aus Minnesota die Aufrührer begleitete. Sich ans Hergebrachte klammernd, riefen sie: Ungehorsam. Rechtsbruch. Unzucht. Schmutz. Radau. Jugendtorheiten. Unglauben. Revolte. Hurerei. Lästerung. Dabei bildeten sie sich ein, die Welt sei bislang besser gewesen, in den Jahrzehnten und Jahrhunderten, in denen man liebevolle Frauen und kluge Männer bei lebendigem Leibe verbrannte, in denen man der magischen Formel Gott mit uns! huldigte, um mit gutem Gewissen morden und brandschatzen zu können, in denen man den Sonnenanbetern das hölzerne Kreuz ins Gesicht stieß, um sie ihrer Goldketten zu berauben, in denen man Wasser predigte, um desto unverdächtiger Wein trinken zu können, in denen man Liebeslust durch Pflichtbeischlaf ersetzte, in denen man mahnte, auf Gott zu vertrauen, solange man sicher auf einem festen Einkommen saß, in denen man trickreich die Armen speiste, um von ihnen hochgeehrt zu werden.
Es durfte nicht sein, dass all das nun ein Ende haben sollte. Wenn nicht besser, war das Alte doch wenigstens sicherer gewesen, gewohnter, verlässlicher.
Aber es hatte keinen Sinn, gegen die eigenen Söhne und Töchter zu kämpfen. Sie waren jünger, kräftiger, ausdauernder, ihren Idealen verschworen und hinreichend furchtlos. Die wenigsten von ihnen indes waren unbestechlich.
Der Macht des Geldes mussten sie erliegen. Und reihenweise taten sie das. Plattenverkaufs- und Hitlisten kanalisierten die wilde, furchterregende Musik, Modezeitschriften nahmen sich der ausufernden männlichen Haartrachten ebenso an wie der herausfordernden kurzen Röcke junger Frauen, Presseartikel und Philosophiepodien verwässerten und verwüsteten die unschuldigen Gedankenparadiese. Wohl war die neue Kultur unvermeidlich geworden, aber nun hatte man sie im Griff.
Auf der anderen Seite indessen, der des Duckens und Anpassens, der Vorsicht und des Lauerns, tickten die Uhren langsamer, verhaltener. Zwar verspürten Jünglinge und Mädchen den neuen, frischen Wind, der über den Erdball wehte, und sie waren bereit, sich ihm anzuvertrauen, doch sie mussten heimlicher zu Werke gehen, umsichtiger, mutvoller. Der folgenreiche Titel Staatsfeind konnte einen treffen, der in den Besitz von Beatles-Platten gelangt war, um sie gemeinsam mit Freunden anzuhören: eine Gefahr, die mehr schreckte als die Verachtung der Eltern, Lehrer und Pfarrer. So wuchs der Duft des Abenteuers im Leben der hier Aufwachsenden, ihre Sehnsucht und ihr Durst nach Erkenntnis und dem Inhalt unkontrollierter Pakete, die sie aus der wohlhabenden und verklärten Welt des Westens erreichten.
Klassenkampf! Klassenkampf! schrien die selbsternannten Führer des Volkes hektisch, denn sie wollten Nebel schaffen und das Spiel der Jahrhunderte ebenso fortführen wie es ihre vermeintlichen Gegner hinter dem Zaun taten. Viele Menschen hatten jedoch bereits begonnen, ihre Herzen zu befragen, und wenn sie sich unbeobachtet wussten, lachten sie über den Unfug der Oberen. Und als sie vernahmen, dass im satten Teil Deutschlands Studenten aufstanden, die im Namen des Neuen ebenfalls Klassenkampf! riefen, schüttelten sie verständnislos die Köpfe und vermuteten die Langeweile des Universitätsalltags als Urheberin des Wirrwarrs.
...
(Aus: Abrahams Irrtum in Andreas H. Buchwald, SOMMERTRAUMS LIEBESLEBEN UND ANDERE ERZÄHLUNGEN)
In die neuen Fronten, die sorgfälltig und mit Leidenschaft errichtet worden waren, hatte sich die Welt gefügt. Auf der Seite aber, wo Haben galt, Scheinen und Maskenspiel, brodelte es in den Seelen der jungen Menschen. Neue Propheten hatten sich erhoben, riefen und sangen ihre Botschaft durch die Länder. Sie war immer dieselbe, kurz und bündig, schuf nur einfache Bilder, kam weder weise noch erwachsen daher. Doch sie klang anders als alles Bisherige.
Macht Liebe! tönte es frech und herausfordernd. Tanzt nackt in der Sonne, reibt euch aneinander im warmen Regen! Für den Spaß seid ihr hierhergekommen, für die Freude, für die Liebe! Verweigert euch nicht einander, gebt euch, was ihr wollt! Verlacht die Moral, verlacht die Gesetze, pfeift auf die Pflicht! Denn Moral verdirbt, Gesetze schaffen Hass, und die Pflicht führt ins Verderben! In den Krieg... Stellt euch vor, es ist Krieg, und niemand geht hin!
Die ersten Strahlen des Lichtes blendeten denen, die zu viele Jahre in der Finsternis verbracht hatten, die Augen. Nur die in der Dämmerung Geborenen waren bereit, ihre Lider vorsichtig zu öffnen und nahmen die Rufe auf. Wenige nur wagten den nackten Tanz in der Sonne, doch die Sehnsucht danach hatte sie alle ergriffen.
Neuartige, wirbelnde Rhythmen zuckten durch steife Körper, und die sich ihnen hingaben, schrien ekstatisch. Den Rausch suchten sie, die Vision, die er versprach, und nicht selten erlagen sie seinen Verlockungen und wählten einen frühen Tod.
Der lange zurückgehaltene Traum schäumte wild auf, bordete über, durchbrach alle Schranken. Wie viele Generationen hatten in Mühe gelebt, in Schwere, unsägliche Lasten tragend! Diese nun wollte alles abwerfen, alles hinter sich lassen, alles vergessen! Sie lachten, wenn man ihnen vom Alten predigte, sie verließen ihre Elternhäuser und achteten weder Ehre noch Besitz. Amerikas milde Pazifikküste bot ihnen erste Heimstatt, weder das Dach über dem Kopf noch den Pullover auf der Haut vermissten sie in den warm San Franciscan Nights. Wie die Lilien auf dem Felde wollten sie sein, wie die Vögel unter dem Himmel, frei und schön und sorglos und genährt von Gott allein.
Mann und Frau, in der Welt ihrer Vorfahren leidvoll getrennt,
erklärten sie als ebenbürtig. Die Natur entdeckten sie, Tiere, Wälder, Flüsse, von den machtlüsternen Herren der Wirtschaft benutzt und ausgelaugt, von Bibel, Talmud, Koran und Kommunistischem Manifest sträflich vernachlässigt. Und Eingeborene, einst verachtete Wilde, erwählten sie zu Lehrern.
Ängstlich und besorgt beobachteten Eltern und Erzieher, Geistliche und Staatslenker das Geschehen. Süßlich, verständnislos und rachesinnend lächelten sie, wenn jemand das Lied von den sich ändernden Zeiten anstimmte, mit dem ein näselnder Mundharmonikapoet aus Minnesota die Aufrührer begleitete. Sich ans Hergebrachte klammernd, riefen sie: Ungehorsam. Rechtsbruch. Unzucht. Schmutz. Radau. Jugendtorheiten. Unglauben. Revolte. Hurerei. Lästerung. Dabei bildeten sie sich ein, die Welt sei bislang besser gewesen, in den Jahrzehnten und Jahrhunderten, in denen man liebevolle Frauen und kluge Männer bei lebendigem Leibe verbrannte, in denen man der magischen Formel Gott mit uns! huldigte, um mit gutem Gewissen morden und brandschatzen zu können, in denen man den Sonnenanbetern das hölzerne Kreuz ins Gesicht stieß, um sie ihrer Goldketten zu berauben, in denen man Wasser predigte, um desto unverdächtiger Wein trinken zu können, in denen man Liebeslust durch Pflichtbeischlaf ersetzte, in denen man mahnte, auf Gott zu vertrauen, solange man sicher auf einem festen Einkommen saß, in denen man trickreich die Armen speiste, um von ihnen hochgeehrt zu werden.
Es durfte nicht sein, dass all das nun ein Ende haben sollte. Wenn nicht besser, war das Alte doch wenigstens sicherer gewesen, gewohnter, verlässlicher.
Aber es hatte keinen Sinn, gegen die eigenen Söhne und Töchter zu kämpfen. Sie waren jünger, kräftiger, ausdauernder, ihren Idealen verschworen und hinreichend furchtlos. Die wenigsten von ihnen indes waren unbestechlich.
Der Macht des Geldes mussten sie erliegen. Und reihenweise taten sie das. Plattenverkaufs- und Hitlisten kanalisierten die wilde, furchterregende Musik, Modezeitschriften nahmen sich der ausufernden männlichen Haartrachten ebenso an wie der herausfordernden kurzen Röcke junger Frauen, Presseartikel und Philosophiepodien verwässerten und verwüsteten die unschuldigen Gedankenparadiese. Wohl war die neue Kultur unvermeidlich geworden, aber nun hatte man sie im Griff.
Auf der anderen Seite indessen, der des Duckens und Anpassens, der Vorsicht und des Lauerns, tickten die Uhren langsamer, verhaltener. Zwar verspürten Jünglinge und Mädchen den neuen, frischen Wind, der über den Erdball wehte, und sie waren bereit, sich ihm anzuvertrauen, doch sie mussten heimlicher zu Werke gehen, umsichtiger, mutvoller. Der folgenreiche Titel Staatsfeind konnte einen treffen, der in den Besitz von Beatles-Platten gelangt war, um sie gemeinsam mit Freunden anzuhören: eine Gefahr, die mehr schreckte als die Verachtung der Eltern, Lehrer und Pfarrer. So wuchs der Duft des Abenteuers im Leben der hier Aufwachsenden, ihre Sehnsucht und ihr Durst nach Erkenntnis und dem Inhalt unkontrollierter Pakete, die sie aus der wohlhabenden und verklärten Welt des Westens erreichten.
Klassenkampf! Klassenkampf! schrien die selbsternannten Führer des Volkes hektisch, denn sie wollten Nebel schaffen und das Spiel der Jahrhunderte ebenso fortführen wie es ihre vermeintlichen Gegner hinter dem Zaun taten. Viele Menschen hatten jedoch bereits begonnen, ihre Herzen zu befragen, und wenn sie sich unbeobachtet wussten, lachten sie über den Unfug der Oberen. Und als sie vernahmen, dass im satten Teil Deutschlands Studenten aufstanden, die im Namen des Neuen ebenfalls Klassenkampf! riefen, schüttelten sie verständnislos die Köpfe und vermuteten die Langeweile des Universitätsalltags als Urheberin des Wirrwarrs.
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(Aus: Abrahams Irrtum in Andreas H. Buchwald, SOMMERTRAUMS LIEBESLEBEN UND ANDERE ERZÄHLUNGEN)