Beim Leiden gibt es zwei verschiedene Arten und Weisen: die von "echt jetzt" angesprochene "zufriedene" und die unzufriedene, also die hingebungsvolle und die leidensscheue Art.
In beiden Fällen ist sichergestellt, daß der Sinn des Lebens erreicht wird. Denn die Verweigerung des Leidens führt zu mehr Leiden und ist somit sogar ein größerer Sinn als die freiwillige Akzeptanz des Leidens.
Es ist also die Unterscheidung zwischen angenommenem Königsgambit (e5 x f4) und abgelehntem Königsgambit. Beim Ablehnen gibt es verschiedene Arten. Die erste Art ist ein Zug mit dem Damenbauer, um den Königsbauer zu schützen.
Der Damenbauer (d7-d6) zieht aber nur ein Feld nach vorne. Er ist nicht so mutig wie der Königsbauer (e7-e5), der sich naturgemäß heftig gegen das Leid sträubt. Der schwarze Königsbauer hat sich vollkommen dem weißen Königsbauer entgegengestellt. Der schwarze Königsbauer sagt: "Leiden? aus eigener erfahrung: no!" Da, wo der weiße Königsbauer einfach aus der Dualität, aus der zweiten Reihe aufgebrochen ist und in die vierte Reihe ging, in die Welt der Materie, und ein klares "Der Sinn des Lebens ist Leiden" ausdrückte, stellt sich sofort eine gleichwertige Gegenkraft entgegen. Jeder Bauer kann zwei Felder nach vorne ziehen, und doch existiert zu jedem Bauern eine absolut gleichwertige Gegenkraft, die auf den Plan gerufen wird, sobald die eine Kraft wirksam wird. Behauptet der eine: "Der Sinn des Lebens ist Leiden", so wird sogleich jemand anders behaupten wollen: "Nein, der Sinn des Lebens ist Freude" (also das hedonistische Prinzip). Und in der Tat ist auch da etwas dran, denn der Körper selbst ist hedonistisch programmiert. Der Körper funktioniert einfach besser, wenn man seiner Natur nachkommt und hedonistisch lebt. Die Welt der schwarzen Steine widerspricht also der Aussage der weißen Steine. Der Geist, der sich aus ewiger Freude in diese Welt hineinbegibt (mit der christ-all-klaren Richtung, also Sinn-gebung, dort sich zu begrenzen und zu leiden), stellt die Welt der weißen Steine dar. Doch der Körper ist bereits hier. Die Welt der schwarzen Steine hat einen anderen Sinn, den der Freude. Der Körper möchte wachsen und ins Licht gehen, woher er ursprünglich kam.
Der schwarze Damenbauer steht für die kleinen Freuden des Lebens, auch wenn man von vornherein auf der dunklen Seite steht, also die schwarzen Steine bekam. Es ist ein Lebensmut, der "trotzdem" sagt, der dem Unwirtlichen des Lebens kleine Freuden abgewinnt. Es ist die Erklärung am Ende des Lebens, daß es doch auch schön gewesen ist, auch wenn man sehr viel hat leiden müssen. Und das erste was er tut, die erste Idee, die ihm kommt, ist das nach-vorne-dringen, ein klein wenig auf der sechsten Reihe sexuelle Freuden genießend. Er tritt hervor aus der Welt der 7, der Reihe des Schweigens, des stummen Leidens, in die Welt der 6, und kräht froh hervor: "Das Leben ist geil!"
Doch nun entsteht eine neue "Stellung". Die gleichwertigen Gegenkräfte kommen aufeinander. Yin und Yang begegnen sich. Königsbauer steht Königsbauer gegenüber. Die weiße Seite hat sich gefährlich geöffnet. Der offene Punkt f2 ist ein möglicher Angriffspunkt. Der mögliche schwarze Damenzug auf h4 mit Schachgebot (eine unkluge Form der Ablehnung des Königsgambits) entspricht der frechen Frage: "Wenn es einen Gott gibt, der doch Freude und Liebe ist, weshalb läßt er das Leid zu?" Und die logische Antwort (g2-g3) wird in der jüdischen Mystik gegeben als: "Weil der Rückweg so schön ist." - und schwupps muß die vorlaute Dame sich wieder zurückziehen, wenn sie nicht gleich geschlagen werden möchte oder sich auf höchst gefährlichem Terrain bewegen.
Der Bauer auf f4 bietet sich ganz schutzlos an. Er ist der Gambitbauer, also der Opferbauer. Er ist ein typischer Vertreter des Yin-Prinzips, des nachgebenden. Ich gebe etwas her, schenke mich hin. Ich weiß nicht, ob du mich dafür schlagen wirst oder freundlich sein wirst. Die Welt des Geistes bietet nicht nur die Gerechtigkeit an, also paritätischen Austausch, sondern bietet mehr. Sie gibt sich hin, ohne Garantie, daß die Hingabe überhaupt erkannt wird als freiwillig. Der andere könnte auch denken: "Mann ist der weiße Spieler blöd. Verschenkt einfach einen Bauern."
Sage ich also: "Der Sinn des Lebens ist Leiden", und der andere entgegnet "no", dann steht es Aussage gegen Aussage. Der schwarze Königsbauer auf e5 ist der Geist der stets verneint. Und die weiße Seite kann ihr intelligent begegnen. Anstatt sie zu bekämpfen, lädt sie ihn ein, auf ihre Seite zu kommen. Der Bauer auf f4 ist diese Einladung. Die weiße Seite nimmt die Herausforderung an und gestaltet sie um. Kämpfe nicht gegen den Gegner, sondern nutze seine Kraft. Der schwache Punkt f2 kann zur Stärke werden, wenn nach der kleinen Rochade der Turm die F-Linie beherrscht. Dann wird die schwarze Kraft zur Kraft, die stets das Böse will, und stets das Gute schafft.
Denn die Genußsucht der schwarzen Körperseite, ihre Wünsche und Begierden, sind Ursache des Leidens. Insofern ist diese Form der Eröffnung eine tantrische, sinnliche. Sie akzeptiert das Leiden, nimmt es als Teil des Sinnes, ja sogar als einzigen Sinn. Und vertraut darauf, daß die Polarität ihr Spiel ins Gegenteil verkehren wird. Ja, ist es nicht witzig, daß sinnlich und Sinn so eng verwandt sind? Der Körper kräht mit allen Sinnen Sinn-lich-keit, Freude. Und gleichzeitig liegt in allen körperlichen Sinnen die Ursache für das Leiden des Geistes...
Die weißen Steine könnten ja auch alleine spielen. So wie die Engel, die allezeit bei Gott sind. Sie sind nicht inkarniert, nicht Fleisch geworden, erleiden nicht die Begrenzungen des Todes. Aber wer diese Begrenzungen erleidet, der kann gewinnen. Er gewinnt die zusätzliche Freude des Zurückkommens. Die ewige Freude der weißen Steine ist schon immer da und bleibt auch immer. Jedes Schachspiel hat diese 16 weißen Steine, und selbst wenn sie unsichtbar geworden sind, vom Brett genommen sind, werden sie ja nicht weggeworfen, sondern für ein weiteres Spiel verwahrt.
Die schwarzen Steine sind einfach nur, um noch mehr Freude zu haben. Die Freude eines Gegenübers, die Freude von nichtvorhersehbarer Freiheit der Entfaltung. Die Spannung, wer wohl gewinnen wird oder ob es ein Remis wird. Doch dadurch entsteht eben auch das Leid. Die weißen Steine, wenn ein Spiel begonnen ist, können sich nur in Richtung Schwarz bewegen. Es geht ja gar nicht anders. Ihr Sinn, ihre Richtung des Lebens, ist eindeutig: Sie wollen Leid. Niemand braucht zu spielen. Wer sich ans Schachspiel setzt, sitzt freiwillig dort. Es ist also von der Ausgangsposition her ein freiwilliges Leiden, dem man sich aussetzt.
Und es ist schon das, was "echt jetzt" in seiner Signatur schreibt: "zufrieden weinen und lachen können." Es ist ein Spiel, und kein Kampf. Und doch auch ein Kampf, und doch auch sehr ernst.
Man darf gespannt sein, wie es weitergeht.