Seit Mitte der 80er Jahre hat sich in puncto Gewaltbereitschaft in quantitativer und in qualitativer Hinsicht etwas geändert. Es sind mehr Kinder und Jugendliche als früher, die in jüngerem Alter und häufiger zu gewalttätiger Durchsetzung neigen. Zugleich sind die Formen bzw. Anlässe der Gewalt anders geworden: Wo Gewalt unter Heranwachsenden vorkommt, ist sie brutaler und roher, die Hemmschwellen sanken, und die Anlässe für Gewalttätigkeit wurden nichtiger. Auch die Kriminalitätsstatistik spricht eine eindeutige Sprache: Laut Bundeskriminalamt (BKA) hat sich die Zahl der heranwachsenden Tatverdächtigen von 1987 bis 2000 in der Altersgruppe der Kinder unter 14 Jahren fast verdreifacht, in der Altergruppe der Jugendlichen zwischen 14 und 18 mehr als verdoppelt. Insgesamt müssen heute knapp zehn Prozent der männlichen Jugendlichen und rund zwei Prozent der weiblichen Jugendlichen als gewalttätig gelten.
Wenngleich Erfurt am 26. April 2002 mit insgesamt 17 Toten die bislang schlimmsten Massenmorde in Schulen der USA übertraf, so ist doch die Gewaltszene unter Jugendlichen in anderen Ländern der sog. ersten Welt zum Teil noch dramatischer ausgeprägt als die Gewaltszene in Deutschland. Vor allem in den USA und Japan sind erheblich mehr Gewalttaten in den Schulen zu beobachten.
2 Formen der Gewalt unter Heranwachsenden
Die Formen der kindlichen und jugendlichen Gewalt umfassen ein sehr großes Spektrum, das zwar empirisch kaum beziffert werden kann, in seinen Erscheinungsformen aber klar zu Tage tritt. Im Grunde kommen unter Kindern und Jugendlichen alle Formen von Gewalt vor, die es auch unter Erwachsenen gibt. Im Einzelnen sind folgende Entwicklungen zu beobachten:
Der Umgangston unter Schülern ist rauer und gereizter geworden. Sog. Szenesprüche, deftigste Schimpfnamen von einer früher nicht üblichen Menschenverachtung oder Drohungen künden bereits unter Grundschülern von einer bedenklich gesunkenen Hemmschwelle.
Zugenommen haben Vandalismus-Schäden. Das Beschädigen, Bemalen, Besprühen (Graffiti) oder Verschmutzen von Gebäuden und Einrichtungen scheinen ebenso an der Tagesordnung zu sein wie das Beschädigen von Eigentum von Alterskollegen (vor allem von Fahrrädern).
Ein Teil der Kinder und Jugendlichen stattet sich mit Waffen aus. Durchaus üblich sind Messer, "Butterflys", Wurfsterne, Schlagringe, Gaspistolen, Schlagketten und zweckentfremdete Baseball-Schläger, aber auch Defensivwaffen (Gassprays).
In vielen Fällen kommt es zur Erpressung. In der Schule oder im Schulbus etwa werden Schutzgelder erpresst. Manche zwingen ihre Mitschüler unter Androhung von Gewalt zum "Spickenlassen". In einzelnen Kreisen ist das "Jackenziehen" üblich, das heißt, Mitschülern werden teure Lederjacken oder auch teure Turnschuhe geraubt.
Die Formen der körperlichen Gewalt haben eine große Vielfalt angenommen; sie reichen von einfacheren Raufereien bis zur bewussten Schädigung bzw. Verletzung des Opfers.
3 Hintergründe der gewachsenen Gewaltbereitschaft
Die Hintergründe, Ursachen und "Nährböden" der Gewaltbereitschaft Heranwachsender sind äußerst vielschichtig. Die Pädagogik und die veröffentliche Meinung nehmen von dieser Komplexität zumeist keine Notiz. Vielmehr neigen Politik und Öffentlichkeit dazu, Gewalt als monokausal erklärbares Phänomen zu betrachten. Das birgt die Gefahr, die tatsächlichen Gewalthintergründe zu übersehen, man kommt dadurch hinsichtlich Gewalttherapie und Gewaltprophylaxe aber zu ungeeigneten "Patentrezepten".
Analysiert man die Persönlichkeit und die Biographie einzelner heranwachsender Gewalttäter, so stellt sich heraus, dass es sehr verschiedene Gewalt fördernde Momente gibt, die erst in ihrer je eigenen Verknüpfung als ursächlich für Gewalttätigkeit und Gewaltbereitschaft gelten können. Der typisierte jugendliche Gewalttäter zeichnet sich durch folgende Merkmale aus:
-Mangel an Empathie,
-Sprachlosigkeit und Mangel an argumentativen Fertigkeiten,
-Angst wegen sozialer oder erlebter Minderwertigkeit,
-Langeweile, in der Folge ggf. Suche nach dem medialen Nervenkitzel,
-eigene Vergangenheit als Opfer von Gewalt, z.B. frühkindlicher Misshandlung,
-familiäre Entwurzelung,
-"drop-out"-Erfahrungen im Schul- und Ausbildungssystem,
-exzessiver Konsum von medialer Gewalt.
Aus der Kombination aus mehreren dieser Faktoren entsteht reale Gewalttätigkeit. Vor allem ein Mangel an Empathie (Einfühlungsvermögen, Mit-Leiden) ist bezeichnend für die meisten Gewalttäter. Positiv ausgedrückt: Empathie ist die Wurzel ethischen Empfindens und Handelns; sie entsteht üblicherweise in einer positiven Beziehung Eltern Kind. Empathie ist auch die entscheidende Hemmschwelle gegen Gewalt. Das heißt unter anderem: Medienprodukte, die die Opferperspektive zeigen und reflektieren, sind weniger gewaltfördernd.