Maracanã

Die Stille im Raum war, trotz der Funkmusik, regelrecht fassbar.

„Das ist suizidales Denken“, brach Angela das Schweigen.

„Was haben wir zu verlieren?“ Bruno leerte sein Glas in einem Zug, und da Diogo seines nicht angerührt hatte, trank er noch einen weiteren Schluck aus diesem. „Die Regierung hat unsere Misere nicht verbessern können, aber wir haben es getan, Angela!“

„Hast du schon einmal einen Menschen getötet?“, fragte sie leise.

Bruno sah sie an und zündete sich dabei erneut eine Zigarette an. „Einen?“, fragte er. Sein Gesicht wurde zu einer ausdruckslosen Maske, als er unter sein T-Shirt griff und den Revolver hervorholte und ihn vor sich auf den Tisch legte. Angela wurde blass, was ihm nicht entging, er kannte das Flackern der Angst in den Augen der Menschen. Er kannte die Todesangst, aber sie lieβ ihn völlig kalt. In diesem Augenblick entstand in Brunos Hinterkopf eine vage Idee.
 
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III

„Hast du noch Zeit?“, fragte Claudia nach der Yogastunde. „ Ich möchte einen Fruchtsaft trinken. Oder musst du zurück ins Hotel?“

„Nein, nein. Ich habe Zeit, lass uns gehen.“

Sie nahmen den Lift hinunter und gingen auf die Straβe.

„Die Hitze trifft mich wie der Schlag!“, stöhnte Angela. „Neun Uhr morgens, und schon so heiβ.“

Der Junge hinter der Theke der Saft - Bar blickte beide fragend an und wartete geduldig, bis sie sich entschieden, denn die Auswahl war groβ. Vor einer verspiegelten Wand waren die verschiedenen exotischen Früchte aufgebaut: Papayas und Kakis, mehrere Sorten Bananen, Ananas und die groβen jacás-Früchte, cajú, Erdbeeren, Maracujá und Mangos. Orangen, jabuticabas und grüne Kokosnüsse, Weintrauben und sogar Kirschen.

Nach einigem Überlegen entschied sich Angela für Papaya mit Mangos, Ananas und Orange. Claudia bestellte sich Erdbeermilch.

In Windeseile schälte der Junge das Obst und pürierte es im Mixer.

„Diogo machte mir eine Eifersuchtszene“, sagte Angela leise und beobachtete dabei abwesend den Jungen, wie er den Mixer mit frisch gepresstem Orangensaft auffüllte und dann den Saft in ein groβes Glas einschenkte und mit einem breiten Lächeln vor sie hin stellte.

„Eifersucht? Hm. Ich bin auch eifersüchtig.“

In diesem Augenblick rannten zwei Jugendliche in wilder Hetzjagd drauβen auf der Strasse vorbei. „Haltet die Diebe“, schrieen einige Leute. Polizisten eilten hinterher. Man hörte Schüsse krachen und Schreie, gefolgt von wildem Geschimpfe. Ein schwarzweiβes Polizeiauto der Policia Civil fuhr langsam den Polizisten hinterher.

Angela und Claudia liefen zusammen mit den anderen Gästen hinaus auf die Straβe und konnten gerade noch mitbekommen, wie die beiden Jungen von den Polizisten überwältigt und ins Polizeiauto gesperrt wurden.

„Die Polizei darf sie nicht lange einsperren. Die Jungs sind noch minderjährig, arme Teufel, aber sehr gefährlich.“ Claudia sah auf die Uhr und überlegte. „Wir können uns noch ein wenig ans Meer setzen, wenn du willst.“


Sie tranken aus und bezahlten. Während sie sich durch die mit Autos verstopften Straβen nach vorne zum Strand durchschlängelten, erzählte Angela über Diogos Eifersuchtsausbruch.

„Beim Fuβballspiel hatten wir keine Möglichkeit darüber zu reden.“ Angela versuchte mit Claudia Schritt zu halten.

„Eifersucht ist ein Zeichen, dass Diogo dich sehr liebt“, war Claudias trockener Kommentar. „Solange er nicht zu Besitz ergreifend wird…“

Sie erreichten den Leblon Strand. Angela zog ihre Sandalen aus und begann auf dem Weg nach vorne zum Wasser über ihren Besuch in Vidigal zu erzählen.

„Das ist eine aufregende Geschichte!“ Nachdenklich blickte Claudia auf die Wasseroberfläche. Das Meer war an diesem Morgen spiegelglatt und von dunklem Blau und kontrastierte zum grell beschienen Sand der Morgensonne. Sie setzten sich dicht an das Wasser, denn heute war kaum Brandung.

„Ich kann mir gut vorstellen, wie du dich gefühlt haben musstest, einem Mörder gegenüberzusitzen“, sagte Claudia schlieβlich.

„Ja, seltsam, dieser Bruno scheint ein freundlicher junger Mann zu sein.“ Sie lachte auf. „Ein Mulatte, genau wie Diogo. Diogo erzählte mir später, dass Bruno zweiundzwanzig sei.“ Sie atmete einmal tief die Luft ein.

„Wusstest du, dass diese Banditen meist nicht einmal das dreiβigste Lebensjahr erreichen, Angela?“

Wir leben eine Minute, dachte Angela. Ich wurde geboren und ich starb. Ich lebte eine Minute. Genau das hat Bruno gesagt. Sie fragte sich, was Ewigkeit sei… ob die Ewigkeit vielleicht in dieser einen Minute enthalten war? Solche Gedanken waren erschreckend und hatten mit dem Tod zu tun.

„Du bist auf einmal so schweigsam“, hörte sie Claudia.

„Ich fragte Bruno, ob er schon einmal einen Menschen umgebracht hätte.“

„Und ?“

„Einen?“, war seine Gegenfrage. Aus seiner Stimme klang ein derartiger Zynismus, dass ich plötzlich sah, welcher Abgrund uns wirklich trennte. Bruno sprach völlig emotionslos, und ich fragte mich, ob er überhaupt zu Mitgefühl fähig sei.“ Angela blickte zu Claudia. „Ja, ich empfand diesen Abgrund, obwohl wir uns an einem Tisch gegenüber saβen und zusammen tranken. Wir hatten gegessen und viel gelacht.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Er machte auf mich erst einen völlig normalen Eindruck.“

„Ganz schön krass! Ich kenne diese ganzen Geschichten aus den Medien. Mein Gott, Angela, aber solche Worte direkt aus dem Mund eines Mörders zu hören…“ Sie schien nachzudenken, ihre Stille vermischte sich mit dem Rauschen der Brandung und den Rufen einiger Jungs, die in der Nähe Volleyball spielten.

„Der Schlüssel liegt in der Kindheit.“ Claudia versuchte sich eine Zigarette anzuzünden, aber der Wind blies ihr Feuerzeug immer wieder aus. „Ich habe darüber gerade gelesen, Angela. - Durch den extremen Druck einer Todesgefahr können Gefühle blockiert werden.“ Endlich gelang es Claudia, sich ihre Zigarette anzuzünden.

„Wer zu Mitgefühl fähig ist, muss Emotion sozusagen innerlich nachsimulieren“, verstehst du?“ Angela schüttelte den Kopf.

„Was bedeutet das?“

„Dass man vermag, sich in den anderen und seine Situation hineinzufühlen. Und genau dazu, Angela, sind Menschen wie Bruno nicht fähig. Sie haben zu viel mitgemacht.“

„Das leuchtet irgendwie ein. – Trotzdem kann ich dir nicht ganz folgen, was ist mit Didi? Er kommt genauso aus armen Verhältnissen.“

„Didi? Claudia überlegte kurz. „Didi ist woanders aufgewachsen, mit anderen Eltern und in einer ordentlicheren Umgebung. Didi hat keinen Hunger leiden müssen, es gab keinen prügelnden Vater; verstehst du? Didi trägt keine kriminelle Energie in sich.“

„Ja, klar. Aber wer ist an solch einer aggressiven Kriminalität schuld? Wer ist verantwortlich für die Armut von Millionen Menschen? Etwa unsere Gesellschaft?“

„Ja! Unsere Gesellschaft und die Regierung, die seit Jahren nichts getan hat; und jetzt steuern wir auf das Chaos zu und es ist zu spät!“


Angela zeichnete Kreise und Spiralen in den glatten Sand und beobachtete, wie das Wasser kam und ihre Zeichnungen wieder verwischte.

„Bei uns in Rio werden diese Jungs in den Medien momentan geradezu verherrlicht, aber nur, weil es gerade in Mode ist.“ Claudia lachte auf. „Da laufen sie als junge Helden in den Telenovelas herum und die Mädchen sind ganz verrückt nach so einem Revolverhelden. Dabei ist es nicht mehr als oberflächliches Getue.“

Angela zeichnete weitere Spiralen in den Sand und schwieg. „Wir leben in einer fremden Welt“, sagte sie schlieβlich.

„Gerade hier in Rio leben wir in einer solchen fremden Welt. In einer Welt voller Kontraste. Schau dir diese Schönheit an! Die Berge und Strände und dieses Meer - so blau wie sein Himmel darüber.“ Claudias Stimme schwankte. „Rio, die schönste Stadt der Welt! Dass ich nicht lache, das Gewaltpotenzial in Rio ist so hoch, dass es nicht zu dieser Schönheit beiträgt! Wusstest du, dass jede halbe Stunde ein Mensch in dieser Stadt ermordet wird?“ Angela nickte stumm. „In den letzten zwei Jahren hat sich aber diese Zahl nochmals drastisch gesteigert, es kamen insgesamt mehr Menschen ums Leben als beim Krieg in Angola! Diese Jungs sind gefährlich, meine Liebe, sie kennen kein Mitgefühl und sind voll gepumpt mit Drogen. Da soll man sich nichts vormachen. Mit dieser Art von Menschen kann man bei einem Überfall auch nicht mehr reden!“ Claudia sah auf die Uhr. „Ich muss los. Wir können uns heute Nachmittag noch mal treffen, ich komme nach der Stadtrundfahrt bei dir im Hotel vorbei. Tchau, Angela.“
 
IV


Heinz Bachmann saβ vor seinem PC und verfasste einen Bericht an München über das letzte Spiel im Maracanã. Er beschrieb kurz die Spielzüge des neuen Stars vom Flamengo. Diogo ist im Oktober zwanzig geworden und ein torgefährlicher Spieler. Als Kind begann er im Fuβballclub Nilópolis und spielt erst seit zwei Monaten beim Flamengo. Wegen seiner unwiderstehlichen Kombination aus perfekter Technik, überragender Schnelligkeit, Intelligenz und einem sicheren Gespür für jede Chance kam Diogo nach zwei Wochen bereits zu den Profis. Er spielt mit atemberaubendem Geschick, zusammen mit Marcelo, einem langjährigen Spieler des Flamengo, im Mittelfeld.


Obwohl Diogo noch keine fünf Monate dabei ist und somit auch nicht „Fünfmal hintereinander Spieler des Monats“ sein kann, mache ich hier eine Ausnahme und berichte bereits über ihn.

Der Flamengo steckt in einer nicht besonders guten finanziellen Lage. Dadurch wäre im Augenblick ein relativ günstiger Transfer zu erzielen. Ich rate daher dringend, einen Späher nach Rio zu entsenden.

Heinzi las seinen Brief nochmals durch. Ein Mausklick auf Senden, und er konnte sich

zufrieden zurück lehnen. Jetzt sollen die beim FC Bayern entscheiden.



V


Armando kratzte sich nachdenklich am Kopf. Er wollte einen derartigen Vorfall nicht durchgehen lassen. Zumal die Jungs zu Bubus Distrikt gehörten. Er hatte sich die Namen notiert und sah auf.

„Jetzt noch mal der Reihe nach. Was haben Mario und die anderen Jungs dir gestohlen?“, fragte er geduldig. „Und lüge mich nicht an, Manuel. Sonst wird es dir noch schlimmer ergehen als den Dieben.“ Armando hatte es eilig. In zehn Minuten erwartete er den Waffenhändler, aber diese Sache hier hatte auch seine verdammte Wichtigkeit. „Also, was ist?“

Manuel, der Besitzer des kleinen Ladens unten im Vidigal sah ihn an und zitterte dabei vor Wut am ganzen Körper.

„Es waren jene fünf Jungs, die ich dir genannt habe. Sie kamen von allen Seiten und nahmen sich die Lebensmittel einfach aus den Regalen.“ Seine Stimme wurde immer lauter. „ Ich konnte ja nicht gleichzeitig an allen Plätzen auf einmal sein!“

„Beruhige dich, Manuel, und schrei nicht so laut. Geht das? Kannst du mir mit ruhiger Stimme sagen, was sie alles haben mitgehen lassen?“ Manuel nickte.

„Sie haben Zigaretten und Schnaps gestohlen.“

„Wie viel Zigaretten?“

„Alle Zigaretten.“ Er überlegte und fasste sich hinter dem Nacken. „Dreiβig Stangen werden es gewesen sein. - Verdammte Bande, malditos filhos da puta!“, rief er laut und stieβ die Hände zum Himmel. „Wenn ich nur einen von denen erwische, so schlitze ich ihn auf.“

„Wie viel Schnaps?“

„Zwei Flaschen pinga und zwei Flaschen Whisky.“

„Du kannst gehen. Wir erledigen das“, winkte Armando ab.

„Und Kekse“, jammerte Manuel. „Sogar ein Hähnchen haben sie vom Grill runtergeholt!“

„Schon gut, Manuel!“ Dann wandte Armando sich zu Bruno. Er hatte bereits seinen Entschluss gefasst. „Jorge und Serginho können das erledigen. Ich möchte dich bei den Verhandlungen dabei haben.“


VI


Die Hitze lastete schwer über dem Flamengo Club, als Diogo und die anderen Spieler schweiβgebadet wieder und wieder von Carlos über den Rasen gescheucht wurden.

Diogo versuchte sich zu konzentrieren. Beinharte Körperarbeit kommt heute dran, rief uns Paquetá zu. Paquetá steht wie gewohnt im Schatten in angeregter Unterhaltung mit seinen Freunden. Marcelo verschieβt heute den Ball wieder und wieder! Nach dem Spiel am Sonntag im Maracanã ist Marcelo depressiv, und ich weiβ nicht, wann seine Reise nach unten endet. Er redet kaum mit uns, und ich muss zusehen und kann ihm nicht helfen!


Plötzlich passierte es: bei einem Schussversuch trat Diogo unter den Schuh seines Mitspielers Paulinho. Der Tritt ging voll auf die Stollen. Diogo schrie auf vor Schmerz und krümmte sich am Boden.

Die Sanitäter kamen angerannt. Sein rechter Fuβ wurde untersucht.

„Wo genau hast du Schmerzen?“, erkundigten sie sich.

„Mein Fuβ tut höllisch weh.“ Sie werden mir wahrscheinlich den Fuβ amputieren müssen, es tut weh, war alles, was er denken konnte. Er stöhnte auf.

„Versuch zu gehen!“, forderten die Sanitäter ihn auf.

„Ich schaffe es nicht!“ Diogo krümmte sich vor Schmerz. Die Sanitäter zogen ihm sofort den Schuh aus und sprühten ein Vereisungsmittel, dann hoben sie ihn auf die Bahre.

Während man ihn liegend zur ärztlichen Station brachte, überfielen ihn die Gedanken.


„Xangõ!“, flehte Diogo leise, während die Sanitäter ihn zur ärztlichen Station brachten. Xangô, helfe mir bitte! Ich bin noch nie durch den Club getragen worden! Wie schnell sich alles im Leben ändert, ich habe nichts auf Marcelos Warnungen gegeben, das Spiel im Maracanã und unser Sieg haben mich Paulinho ganz vergessen lassen und jetzt haben die bösen Mächte zugeschlagen! Vielleicht hatte Roselyns Tod auch schon was damit zu tun? Diese Traurigkeit, die ich empfand? Ich muss unbedingt mit meiner mãe de santo telefonieren.

Womöglich werde ich nie mehr spielen können, ging es Diogo durch den Kopf, während er zu den Baumkronen blickte. Die Baumkronen und der Himmel! Ein komplett anderes Bild, wenn man hilflos auf einer Bahre liegt. Wenn ich nicht mehr spielen kann, wird man mich bald vergessen. Wie schnell ein Traum enden kann! Ich bin machtlos, das ist das Ende meiner Karriere… Xangô!“, flüsterte Diogo. „Xangô!“ Welches Opfer soll ich dir bringen? Was soll ich tun?“

Ich muss mich zusammen reiβen, dachte er entschlossen. In Nilólpolis war ich einmal verletzt und man hat mich wieder hinbekommen. Nie war bisher etwas Schlimmes. Xangô! Xangô, bitte, hilf mir. Du wirst mir helfen, so wie du mir immer geholfen hast!“


Die Sanitäter betraten den Untersuchungsraum.

„Ich bin Doktor Fábio Favila“, begrüβte ihn der Arzt und betastete vorsichtig den Fuβ. „Da werden wir erst einmal röntgen müssen!“ Doktor Fábio schüttelte bedächtig seinen Kopf.

„Ist etwas gebrochen, senhor doutor?“

„Bleib ganz ruhig, Diogo. Bleib ruhig. Ich kann jetzt noch nichts sagen. Hm. Stark geschwollener Fuβ. Wir machen gleich Untersuchungen, und dann sage ich konkret, was los ist.“
 
VIII


Heinz Bachman hatte sich in eines der Straβencafés an der Copacabana hingesetzt. Die Hitze heute war nach Sonnenuntergang noch immer unerträglich. Durstig trank er sein Bier aus und bestellte gleich ein zweites.

Endlich! Bayern München ist an dem Spieler interessiert, dachte er zufrieden. Ich soll Kontakt mit Diogo aufnehmen. Als der Kellner sein zweites Bier vor ihn hinstellte, fielen ihm ein paar bettelnde Kinder auf. Er steckte sein Handy sicherheitshalber in die Tasche.

Heinzi wischte sich den Schweiβ von der Stirn und sah auf die Uhr. Schon sieben! Ach, ich gönne mir noch ein paar Minuten, beschloss er. Er blickte auf den brausenden Berufsverkehr der Avenida Atlântica und schielte dabei immer wieder ein paar Tische weiter zu den Bettelkindern, die ihr Sprüchlein vom Hunger aufsagten. Als er sein Bierglas anheben wollte, passierte es: Die Jungen hatten einem Touristenpärchen die Handtasche geklaut und rannten davon. Die Touristen hinterher. Aber die kleinen Taschendiebe waren schneller und verschwanden in Windeseile in der Menschenmenge.


So geht das hier jeden Tag! Wenn die Polizei nicht für mehr Ordnung sorgt, werden keine Touristen mehr kommen. Aber wir haben sowieso fast nur noch Sextouristen, die sich an Kindern vergreifen oder Mulattinnen vernaschen wollen. Manchmal denke ich, dass ich nach Deutschland gehen sollte. Aber meine Verwandten schreiben nur über das schlechte Wetter, die Arbeitslosigkeit und die neue Armut. Da bleibe ich lieber hier und schwitze und habe wenigstens die Illusion von Freiheit!

Heinzi trank sein Bier aus und winkte dem Kellner, um zu bezahlen. Das Touristenpärchen hatte sich wieder an den Tisch gesetzt. Sie reden aufgeregt in irgendeiner seltsamen Sprache. Klingt wie Russisch, überlegte Heinzi und stand auf.



IX


Der Waffenhändler kam eine halbe Stunde verspätet zu dem verabredeten Treffpunkt in die Favela do Vidigal. Ein beigefarbener, unauffälliger Ford Lieferwagen parkte hinter der Bar do Zéquinha. Der Händler war in Begleitung zweier kräftiger Männer, die gelassen aus dem Auto stiegen und sich neben ihn stellten.

Amigos, wir haben keine Krise, ja? Der Verkehr auf der Avenida do Brasil war mal wieder beschissen!“ Armando und Bruno grinsten.

„Kommen wir gleich zur Sache.“ Armando nahm seine Sonnenbrille ab und zündete sich eine Zigarette an. „Erst einmal will ich sehen, was du mir anzubieten hast, ich brauche so einiges.“

„So einiges.“ Der Händler lachte und ging zur hinteren Tür des Lieferwagens. „Du kannst alles haben. Verstehst du? Alles!“ Seine beiden Begleiter wichen nicht von seiner Seite und nahmen ihre Sonnenbrillen nicht ab.

„Ihr könnt beruhigt sein, ich kenne Armando schon lange“, meinte der Händler. „Dem kann man vertrauen! - Armando hat bisher immer pünktlich bezahlt.“ Daraufhin öffnete er die Tür und deutete in das Innere des Wagens. „Das Neueste, was derzeit auf dem Markt ist: eine 9mm H&K Maschinenpistole. Die modernste, die du bekommen kannst.

In diesem Augenblick erklangen erst einer und dann mehrere Schüsse hintereinander aus nicht groβer Entfernung.

„Waren das nicht Schüsse?“

Armando nickte. „Keine Sorge, amigo. Da oben wird gerade gearbeitet. Nicht wahr, Bruno?“

Bruno spuckte aus. Serginho und Jorge, dachte Bruno:


Der Schuss krachte aus dem Revolver. Rogerio schrie laut auf und schrie und schrie.

„So, das als Beispiel, ihr Hurensöhne“, sagte Sergio und blickte höhnisch auf die restlichen Kinder. „Jeder von euch streckt mir seine rechte Hand her, ihr dreckiges Pack. Und auch du Francisco. Das ist dafür, dass ihr Fernandinhos Laden überfallen habt!“ Die restlichen vier Schüsse krachten unerbittlich einer nach dem anderen, gefolgt von gellenden Schmerzensschreien…


„Keine Krise, amigo.“ Armando sah auf die Uhr. „Du kannst fortfahren.“

"Hier eine 5.7 mal P-90 Maschinenpistole.“

"Die haben wir genügend.“

„Gut. “Er grinste Bruno an. „Eine 5.56 Kaliber MD-2 ein Militär Riffle, sie hat das gleiche Kaliber wie die Maschinenpistole.“ Der Händler nahm sie und gab sie Armando zum Halten. „Sie wiegt aber fast doppelt so viel.“

Bruno nahm die MD-2 von Armando entgegen. Er lachte und zielte auf eines der nahen Dächer von Vidigal.

„Du wirst von ihrer Schnelligkeit nicht enttäuscht sein. Auβerdem ist sie eine brasilianische Waffe.

„Brasilianisch? Oba! - Was kostet sie?“

„Vierhundertzwanzig Dollar.“

„Bruno. Kannst es kaum erwarten, he?“ Armando nahm ihm das Gewehr aus der Hand und legte es in den Wagen zurück.

Das Handy von Armando läutete. „Alô! – Gut. Die Arbeiten oben sind fertig“, sagte Armando zu Bruno gewandt. „Zurück zum Geschäft!“ Armando kaufte hundert G-39 mm Pistolen mit gutem Rabatt. Der Händler reichte ihm eine weitere Pistole. „Das ist eine hervorragende Waffe aus Israel für dreihundertfünfundsiebzig Dollar, aber es lohnt sich.“

Armando hielt sie prüfend in seiner Hand. Der Lärm eines Hubschraubers schreckte ihn auf.

„Macht die Tür vom Wagen zu!“, rief er dem Händler zu. Der hatte aber längst reagiert.

„Falscher Alarm!“ Bruno deutete nach oben rechts. „Gringos, die Rio mal von oben sehen wollen.“ Alle lachten und der Händler öffnete erneut die Wagentür. Der Hubschrauber machte eine Kurve und wollte zurückkehren.

„Diese Hurensöhne wollen unser Viertel filmen! - Filhos da puta de merda! Wir sind kein zoologischer Garten!“ “ Bruno zog seinen Revolver und feuerte zwei, drei Warnschüsse in Richtung des Hubschraubers ab. „Seus filhos da puta, haut ab!“, schrie er und feuerte nochmals in die Richtung des Hubschraubers. Der Pilot drehte sofort ab und verschwand.
 
X

Diogo war müde von den vielen Untersuchungen und der Ungewissheit, ob er jemals wieder Fuβballspielen könne.

„Wir können nichts finden. Du bist morgen um zehn Uhr wieder da. Behalte die Kältepackungen drauf“, hörte Diogo den Doktor sagen. Ich habe Angst, dachte Diogo, diese Ungewissheit bringt mich noch um…

„Morgen möchte ich den Fuβ ansehen.“ Der Doktor sah ihn an. „Diogo, hast du verstanden?“

Diogo nickte stumm. „Danke.- Wann soll ich morgen kommen, senhor doutor?“

„Morgen ab zehn Uhr kannst du kommen, die Sanitäter werden dich wegbringen und morgen abholen. Ich werde das gleich in die Wege leiten!“



XI


Der Hubschrauber tauchte nicht mehr auf. Armando wickelte seelenruhig seine Geschäfte weiter ab. „ Ich brauche Granatwerfer und Maschinenpistolen.“

„Wir haben den AK-47. Sehr gut und erprobt in Guerillakriegen. Genau das Richtige für euch. Achthundert Meter Reichweite und sechshundert Schuss die Minute.“

„Sag doch gleich Kalashnikov!“ Armando spuckte aus. „Preis?“

„Vierhundert Dollar.“

„Ja, genau.“ Armando kratzte sich nachdenklich am Sack. „Die brauchen wir auch. Hm.“ Er warf seine Zigarettenkippe achtlos weg.


„Was kostet die H&K?“

„Die 9mm?“

Armando nickte. „Kostet?“

„Tausendachthundert Dollar. – Die modernste Waffe, die auf dem Markt ist, amigos.“

„Davon nehme ich zwanzig. - Wann ist Lieferung?“, fragte Armando.

„Dreiβig Tage.“

„Zwanzig Tage!“

Der Händler nickte zustimmend.

„Fünf Uhr morgens?“ Armando sah ihn ausdruckslos an.

Der Händler lachte. “Claro amigos, fünf Uhr morgens. Keine Krise.“ Er zeigte in den Wagen auf einen amerikanischen Granatwerfer. AR-15. Hm, wie ist es damit?“

Armando sah zu Bruno. Der nickte.


Ein Ambulanzwagen hielt am Treppenaufgang von Vidigal, Sanitäter holten jemanden auf einer Bahre heraus. Es war Diogo, er winkte Bruno zu. Bruno kam herbeigeeilt. „Was ist mit dir?“, wollte er wissen.

„Mitten im Training, auf einmal pfffft, ein Unfall.“ Diogo atmete hörbar ein und aus. „Aber

es ist nichts gebrochen.“

„Hier, nimm.“ Bruno gab ihm den Haustürschlüssel. „Ich hab da noch was mit Armando zu besprechen und komme gleich“, sagte Bruno und eilte zu Armando zurück.

Armando sah Bruno fragend an. „Ist nichts Schlimmes, Diogo hat, glaube ich, den Fuβ verstaucht.“

„Gut“, nickte Armando und wandte sich erneut dem Waffenhändler zu. „Von den Maschinenpistolen je hundert. Das reicht vorerst. Ja, und wie ist es mit Nachtsichtgeräten?“

„Haben wir, ganz moderne aus den USA.“

„Kosten?“

„Zweitausendsechshundert Dollar.“

„Hm.“ Armando überlegte. „Ich will hundertzwanzig.“ Er gluckste. „Hat ja nicht mal die Polizei. - Und natürlich brauchen wir jede Menge Munition.“

„Ich verstehe.“ Der Händler notierte und rechnete den Endpreis aus.

„ Anzahlung die Hälfte, sind dreihunderttausend Dollar.“

„Das ist ne Menge Geld. Da will ich noch einen Rabatt für gute Freunde.“

Der Händler lachte. „Du bekommst noch fünf Kalashnikov als Geschenk.“

Armando nickte und winkte Bruno. „Erledige das.“

Bruno ging zu seinem geparkten Toyota, während Armando blitzschnell rechnete. Dreiβig Millionen Reais mache ich im Monat. Er zündete sich eine Zigarette an. Hm. Das sind zehn Millionen Dollar! Für die Waffen zahle ich sechshunderttausend… Bruno kam mit einem alten Pappkarton wieder.

„Hier, sind zweihunderttausend, den Rest bei Lieferung.“ Er spuckte aus. „Alles klar?“

„Alles klar. Keine Krise. Keine Krise, amigos.“ Der Händler machte Notizen in seinem Kalender. “Donnerstag, der 15. Januar um fünf Uhr morgens. Richtig?“

Die beiden Begleiter waren inzwischen mit dem Zählen des Geldes fertig.

„Bring mir das Zeug pünktlich frühmorgens.“

„Verstehe“, murmelte der Händler. „Keine Krise.“


XII



Die Sanitäter begannen mit dem Aufstieg der Treppen. Inzwischen hatten sich schon jede Menge Schaulustige versammelt, sie stellten Fragen und riefen durcheinander. Diogo lächelte tapfer. Es ist peinlich, wie ich hilflos auf der Bahre liege und die Anwohner neugierig zusammenlaufen wie bei einer Prozession! Nur, dass ich bei der Prozession die Heiligenfigur bin! „Es ist nichts gebrochen, wird schon nichts Schlimmes sein!“, rief Diogo ihnen zu und versuchte ein schwaches Lächeln zustande zu bringen. Die meisten der Menge hatten das Lied vom Mengão angestimmt:

Óh meu mengão eu gosto de você
quero cantar ao mundo inteiro
a alegria de ser rubro-negro
Óh meu mengão.
..“


"Oi, Didi!“ Pedrinho und Jorge winkten, sie hatten sich zwei groβe Dosen geschnappt und begannen mit einer batuquada. Angelockt durch die Musik, liefen mehr und mehr Menschen zusammen. Joãozinho kam mit einer Gitarre herbeigeeilt und untermalte das Lied vom Mengão. Kinder tanzten und Frauen wackelten mit den Hüften, sie alle begleiteten Diogo und die beiden Sanitäter, tanzend und singend, auf ihrem Weg die Treppen hinauf, gefolgt von mehreren bellenden Hunde.

Diogo seufzte und ergab sich in sein Schicksal. Sie singen das Lied vom Mengão, und ich weiβ wirklich nicht, ob ich weinen oder lachen soll. Da fiel ihm ein, dass er immer noch sein rotschwarzes Fuβballtrikot anhatte. So hatte ich mir meinen Ruhm nicht gerade ausgemalt, dachte er und musste lächeln. Meine Freunde von Vidigal haben es geschafft, aus meinem traurigen Krankentransport einen Karnevalsumzug zu machen.

„Didi ist unser Held vom rubro-negro!“, schrien die Leute und schwenkten die Fahne vom Flamengo, sie klatschten und pfiffen.


Diogo war erleichtert, als die Sanitäter endlich schnaufend und nass geschwitzt beim Haus seiner Tante anlangten. Er winkte allen nochmals zu und atmete auf, als die Träger im Inneren des Hauses mit ihm verschwanden und die Tür hinter sich schlossen.



„Wir kommen morgen um neun. Aber das ist das letzte Mal, dass wir dich den Berg heraufgebracht haben.“ Die beiden Männer klopften Diogo auf die Schulter und lieβen ihn allein.
 
XXIII


Heinzi starrte auf das rote Licht an der Ampel an der Ecke Avenida Nossa Senhora de Copacabana / Rua Santa Clara und wartete geduldig, während der Verkehr an ihm vorbei rauschte. Es waren vor allem die mit Menschen vollgestopften Busse, die auf dem Weg in die Nordzone die Luft mit schwarzen Auspuffgasen verpesteten. Endlich! Die Ampel wurde grün, und zusammen mit einer Traube von Menschen überquerte er die Straβe.

Die Inflation hat meine Ersparnisse aufgefressen!, dachte er. Ich schaffe es ohne das Geld nicht, mir ein Apartment an der Barra zu kaufen. Die Anzahlung ist zu hoch! Ob der neue Präsident das bessern wird? Er schüttelte den Kopf. Die Politiker machen Versprechungen, und dann gehen die Gelder in deren eigene Tasche, darin sind sie sich alle gleich.


Unser Präsident Lula kommt von der Metallgewerkschaft und hat sogar Ideale, hoffen wir, dass er nicht so korrupt wird wie alle seine Vorgänger, die nach der Militärdiktatur folgten.

Ich bin zufrieden mit meiner Wohnung, die Rua Anita Garibaldi ist noch eine relativ ruhige Straβe im Vergleich zum übrigen Copacabana. Mein Apartment habe ich noch gekauft, als die wirtschaftliche Lage und die Luft besser waren. Während der Militärdiktatur herrschte Ordnung. Inzwischen habe ich mein Apartment abbezahlt, aber verkaufen und raus an die Barra zu ziehen, daran ist einfach nicht zu denken. Er seufzte, die Gegend von Copacabana ist zu sehr heruntergekommen! Ich bekomme nichts mehr für den Verkauf! Mit der Prämie der Transaktion von Diogo kann ich es schaffen! Er winkte dem Hausmeister und ging zum Lift. Ich muss jetzt handeln, bevor es zu spät ist! Morgen und übermorgen schon mal nicht. Er seufzte. Geschäftsleute aus Deutschland. Aber nächste Woche fahre ich in den Flamengo, um mit Diogo zu sprechen.




XXIV



„Bruno, endlich bist du da“, rief Diogo erleichtert aus. „Was habt ihr da für eine Versammlung eben gehabt?“

Bruno lachte auf. „Waffen, Cousin. Aber halt den Mund. - Und? Was glaubst du, was du hast?“ Bruno ging zu seinem Papagei, der ihn kreischend empfing, und fütterte ihn mit einer Banane.
“Jedenfalls ist nichts gebrochen, wird schon nichts Schlimmes sein.“

„Se Deus quiser! - Du musst Geduld haben.“

„Ich weiβ. Nur habe ich für so was keine Zeit. Merda!“

„Bald spielst du wieder.“

„Hoffentlich!“ Diogo stieβ den Atem aus. „ Spätestens bis zur Taça Guanabara, dem Spiel um den Pokal des Staates Guanabara mit der Hauptstadt Rio

im Januar muss ich wieder topfit sein! Die Taça Rio kommt gleich anschlieβend dran, aber Paquetá wird mich da so oft wie möglich schonen, wegen des Südamerikapokals,der Taça dos Libertadores.“

„Didi!“ Bruno stand ein wenig betroffen vor dem Sofa und kratzte sich am Bauch. „Bis dahin bist du längst wieder soweit! Ich sehe dich schon wie du in der Taça Libertadores, zusammen mit dem Mengão gegen ganz Südamerika antrittst. - Du wirst es ihnen allen zeigen, Cousin!“

„Meinst du wirklich?“

„Claro, Cousin!“

„Bruno?“

„Ja?“

„Kannst du mir einen Gefallen tun?“

Bruno setzte sich zu ihm auf die Kante vom Sofa. „Was willst du? Etwa Koks?“, fragte er lachend.

Diogo schüttelte ungeduldig den Kopf. „Ich will Angela anrufen.“

„Aber klar doch, amigo. Obwohl… - ein bisschen Koksen würde dir bestimmt gut tun.“ Er schlug sich lachend auf die Oberschenkel. „Keine Krise, Cousin meines Herzens. Hast du ihre Nummer?“ Diogo nannte sie. Bruno wählte und reichte ihm sein Handy. Es läutete eine

Weile. Er wartete und wartete. Enttäuscht wollte er gerade auflegen. Da endlich meldete sie sich.

„Alô, hier ist Didi.“

„Didi? – Du rufst von einem anderen Telefon an. - Was ist los?“

„Ich bin verletzt und rufe von Brunos celular an.“

„Mein Gott! Didi, sag doch endlich was los ist.“

„Ich habe meinen rechten Fuβ beim Training heute Morgen verletzt. Er ist aber nicht gebrochen.“

„Soll ich kommen?“

„Moment, ich frage mal Bruno.“ Diogo sah ihn fragend an. „Kannst du Angela abholen?“

Bruno nickte und nahm seine Autoschlüssel. „Ich gehe runter.“

„Angela?“

„Ja?“

„Bruno ist unterwegs. Er fährt einen dunkelroten Toyota.“ Diogo blickte zu Bruno. Der nickte.

„Alles klar, Angela.“




„Didi!“ Angela kam aufgeregt zur Tür herein. „Was ist passiert?“

Es war ein ungewohnter Anblick für sie. Diogo lag auf dem Plastiksofa und grinste verlegen.

Noch immer auβer Atem von den vielen Treppen, setzte sich Angela vorsichtig zu Didi, und wischte sich mit einem Taschentuch den Schweiβ von der Stirn. Die Haustür war zwar geöffnet, aber es strömte kaum ein Luftzug durch den Raum.

„Ist nichts Gefährliches. Glaube mir. Der Fuβ ist Gott sei Dank nicht gebrochen.“

„Alles wird gut“, versuchte sie Diogo zu beruhigen. Sie starrte auf den Verband am rechten Fuβ und den Eisbeutel.

Bruno winkte von der Tür. „Ich komme in einer Stunde wieder“, meinte er und verschwand.

„Hat man feststellen können, was du hast?“ Angela hielt seine Hand.

„Eben nicht.“ Diogo schüttelte den Kopf. „Die Ungewissheit ist das Schlimmste. Ich muss bis morgen warten, und die Behandlungen beginnen erst nach zwei Tagen.“ Er blickte finster drein.

„Was bedrückt dich? Bitte sage es mir, Didi.“

„Die Sanitäter wollen mich morgen den Berg nicht hinauf tragen und nach Nilópolis ist es zu

weit…“

„Du bleibst im Apartment von Claudias Schwester.“ Sie überlegte. „Ich habe nur vormittags Arbeit im Hotel, die übrige Zeit habe ich frei.“

Sein Gesicht erhellte sich merklich „Würdest du das wirklich für mich tun?“

„Aber sicher, Didi.“ Sie nahm ihr Telefon und fragte Claudia. „Du kannst jederzeit dort bleiben, lässt Claudia ausrichten.“ Diogo nickte dankbar.

„Morgen nach der Untersuchung beim Arzt.“

„Morgen?“

„Groβartig. Ich danke dir.“ Nach einer Pause. „Angela?“

„Ja?“

„Da ist noch etwas“, begann er zögernd. „Ich muss zu meiner mãe de santo fahren.“

Angela lachte. „Warum guckst du so ernst? Ich dachte schon, jetzt kommt irgendeine schlechte Nachricht.“

„Das ist ernst.“

„Sehr ernst. Warum?“

„Weil ich ein Opfer darbringen werde. Verstehst du? Es kann sein, dass jemand einen bösen Zauber gegen mich hat machen lassen.“ Er stieβ hörbar die Luft aus und starrte ins Leere.

„Einen Zauber? Glaubst du das wirklich? Wer sollte so etwas tun?“

„Angela. Da gibt es genügend Menschen, die einen Zauber gegen mich machen lassen. Von einem gegnerischen Verein. Ja, von Botafogo oder Fluminense.“ Diogo schüttelte den Kopf. Oder sogar einer meiner Spielkameraden, der neidisch wäre! - Im Januar beginnt das Campeonato Carioca.“

„Und?“

„Da will man mich vorher schon eliminieren.“ Er lachte bitter auf. „Aber nicht mit mir! Ich stehe unter Schutz!“ Er drückte Angelas Hand. „Würdest du mich nach Jacarepaguá begleiten? Es ist dringend.“

Angela sah ihn nachdenklich an. Da sitzt er, ein Mensch dessen Ahnen einmal von Nigeria nach Brasilien als Sklaven hergebracht wurden. Das Blut seiner Ahnen wallt in ihm. Sein afrikanisches Erbe… und er ist stolz darauf. Sie musste lächeln, wie wichtig er das mit seiner mãe de santo nahm. Und Didi ist mit solchen Gedanken nicht allein. Bei uns würde man ihn gleich zum Psychiater schicken, mit dringendem Verdacht auf Verfolgungswahn. Aber nicht hier! Nicht in Brasilien. Hier denken die meisten so, denn Afrika ist nicht durch ein paar Generationen auszulöschen. Afrika ist stark und animalisch. Ich muss das ernst nehmen, ich muss ihn ernst nehmen. Ja, das ist wichtig, sehr wichtig für ihn! Ich sehe es ihm an. Da ist sie, die Kluft zwischen uns. Und sie ist viel tiefer, als ich es ahnte. Seine afrikanischen Geister sind für ihn die wahren Götter.

„Natürlich begleite ich dich, Didi!“

Er atmete erleichtert auf. „Ich muss beim Campeonato Carioca dabei sein, es geht um den Pokal.“

„Du wirst dabei sein.“

„Das Campeonato beginnt am 10. Januar.“ Er versuchte seine Position zu verändern und stöhnte vor Schmerz auf. „Eigentlich ist es Glück im Unglück, denn jetzt haben wir erst mal drei Wochen Weihnachtspause.“

„Claudia kann uns mit ihrem Wagen nach Jacarepaguá fahren.“

„Wann?“

„Ich werde sie morgen fragen.“
 
XXV



Paradiesische Stille lag über dem Häuschen mit dem Palmenstrohdach. Man hörte nur das Rauschen der hohen Palmen, die auf dem groβen Platz vor dem terreiro standen.

Diogo bewegte sich mühsam mit Krücken zum Eingang.

Zwei dunkle Frauen mittleren Alters in weiβen, bodenlangen Kleidern empfingen ihn schweigend und schlossen hinter ihm die Tür.

Claudia hatte es sich inzwischen in einiger Entfernung unter einer der nahen Palmen bequem gemacht.

„Komm her“, rief sie Angela leise zu.

„Mein Gott, was für eine schöne Nacht.“ Angela setzte sich zu ihr und blickte hinauf zum Mond, der unruhig zwischen Wolkenfetzen wanderte. Ein paar Sterne blitzten hie und da auf.


Es begannen die atabaques, die Trommler, begleitet von den Gesängen der Priesterinnen und dem Murmeln von Gebeten.

„Was machen die wohl da drinnen mit ihm?“, wollte Angela wissen.

Fechar o corpo. Das bedeutet so viel wie: Den Körper verschlieβen, gegen alles Böse, was von feindlicher Seite gegen Diogo gezaubert wurde.“

„Und du glaubst an diesen Aberglauben?“ Aus Angelas Stimme klang unverhohlener Skeptizismus.

„Ja, ich glaube daran.“ Claudia lächelte. „Ich glaube daran, erstens, weil ich in Brasilien geboren wurde. Zweitens, weil ich mich ein wenig mit candomblé befasst habe.“ Sie gähnte. „Durch mein Touristikstudium an der Riotur, habe ich viel über die Rituale lernen müssen.“

„Ich verstehe. Und was kannst du mir darüber erzählen?“

„Als erstes einmal, candomblé ist eine Religion, so wie unsere anderen Weltreligionen auch.“

„Wirklich?“

„Und vielleicht die älteste Naturreligion auf Erden. Ich habe eine groβe Ehrfurcht davor, Angela.“ Sie schwieg. Die Gesänge der Frauen aus dem terreiro klangen durch die Nacht, und man nahm einen scharfen Tabakgeruch wahr, den der Wind herüberbrachte.


„Die weiβe Rasse - und besonders die Portugiesen - ist in Afrika eingefallen und hat die afrikanische Kultur fast vernichtet“, fuhr sie leise fort. „Die Afrikaner haben eine lange Geschichte,und sie haben ein Recht darauf, die alten Überlieferungen ihrer Götter zu bewahren.“ Sie lachte auf. „Vielleicht gefällt mir ihre Religion ja sogar besser als unser christlicher Glaube mit seiner ewigen Sünde und der Bestrafung durch die Hölle? Candomblé steckt mit einem Fuβ noch im Paradies.“

„Claudia, bitte. Als aufgeklärte moderne Menschen sollten wir das, was dort drinnen gerade geschieht, belächeln.“

„Das ist ja der Hochmut des weiβen Mannes, und das wird sich bitter rächen“, rief sie aus. „Siehst du denn nicht, wo es hinführt? In die Zerstörung unserer letzten Ressourcen. Die Religion des candomlé ist ein Kultus der Natur und eine Zelebrierung des Gleichgewichts in ihr. Unsere Natur ist göttlich, die Orixás sind auch nicht Heilige in unerreichbarer Ferne wie beim Katholizismus. Die Orixás sind bei den Ritualen anwesend, sie steigen vom Himmel herab und tanzen mit den Menschen.“

Beide schwiegen und lauschten dem Gesang. Angela überlegte und dachte an jenen ersten Abend, an dem sie mit Diogo hier war. Ja, die Buzios-Muscheln. Das hatte sie doch nicht kalt gelassen. Die Heilige Mutter mit ihren Augen, die mehr zu sehen schienen als andere Menschen. Augen, aus denen Weisheit sprach. Sie seufzte.

„Vielleicht hast du ja sogar Recht, Claudia.“ Pause. „Und was machen die Priesterinnen mit Diogo jetzt?“

„Da werden ebós und pembas gemacht, so nennt man diese Reinigungszeremonien. Dann werden die Energiezentren des Körpers mit Rauch verschlossen.“

„Mit Rauch?“

„Ja. Die ialorixá raucht eine dicke Zigarre und verschlieβt mit dem Rauch seinen Körper.“

„Hm.“ Angela kicherte leise.

„Du glaubst das nicht, stimmt es?“

„Das klingt alles so unwahrscheinlich.“ Angela blickte skeptisch drein. „Ich kann doch nicht so einfach mal fünf Jahrtausende zurückschrauben und so tun, als lebten wir in der Steinzeit.“

„Und ich glaube nicht an Marias unbefleckte Empfängnis. Aber ich muss glauben, sonst komme ich in die Hölle“, antwortete Claudia voller Hohn. „Beim candomblé gibt es wenigstens keine Hölle. Da gibt es keine Ambivalenz, und Sex ist keine Sünde.“

„Eigentlich glaube ich nur das, was man berechnen und sehen kann, wenn du es genau wissen willst. Wir werden durch Hormone gesteuert, und die Gene sind es, die ausmachen, was für eine Gesundheit wir haben. Keine Hexerei und kein Zauber.“ Angela schnaubte verächtlich. „Und Gott wohnt auch nicht im Blitz und Donner.“ In diesem Augenblick kam Wind auf und man vernahm in der Ferne ein leises Grollen.

„Ein Gewitter nähert sich.“ Claudia lachte. „Xangô ist der Geist des Blitzes und des Donners, und du hast ihn beleidigt.“ Das Donnern wurde stärker und die ersten schweren Regentropfen fielen. Der Mond war hinter dichten Wolken verschwunden.

„Das ist ja unglaublich.“ Angela sah Claudia entgeistert an. „Wir müssen ins Auto, sonst werden wir nass“ Beide sprangen auf und rannten lachend zum Wagen.

„Puh, das wäre geschafft!“

„Wer hätte jetzt mit Regen gerechnet! Seltsam ist es schon, aber es kann auch Zufall sein.“ Ein greller Blitz zuckte genau vor ihnen am Himmel, gefolgt von ohrenbetäubenden Donnerkrachen.

Claudia lachte. „Xangô ist anwesend im terreiro! Das ist bedeutsam. Du, ich habe da so ein Gefühl, dass Diogo es noch sehr weit bringen wird!“
 
Drittes Buch

Bahia

I



Es war am späten Nachmittag, als der Bus in Canavieras hielt. Angela kletterte steif von der langen Fahrt, aus dem Bus und sah sich neugierig um. „Didi, schau mal!“ Sie deutete auf eine Kneipe, wo ein paar Männer laut diskutierten. „Ich sterbe vor Durst!“ Diogo nahm seinen Rucksack. „Gute Idee, dort werde ich auch nachfragen, wo meine Groβmutter wohnt.“

Neugierig schauten die Männer zu ihnen herüber.

Alô“, grüβte Diogo.

Boa tarde“, kam es brummend zurück. Es waren alte Männer mit dunkler Haut. Einer von ihnen stand auf und kam leicht wankend auf sie zu.

„Zwei Flaschen kaltes Wasser“, bestellte Diogo. „Weiβt du, wo das Haus von Mariazinha Santos ist?“

Die abseits stehenden Männer verfolgten währenddessen neugierig das Gespräch Ein Farbiger mit aufgedunsenem Gesicht und glasigen Augen stierte zu Angela und auf ihr knappes

T-Shirt. Nachdem er sich an den Andeutungen ihres Busens genügend aufgegeilt hatte, wanderten seine Augen hinab zu ihren kurzen Shorts, die ihre Beine ganz frei gaben.

Der Kellner stellte die Wasserflaschen auf die Theke und hob fragend den Kopf.

„Ich suche das Haus von Mariazinha Santos!“ Diogos Stimme klang ungeduldig und lieβ den Gaffer zusammenzucken.

„Hm.“ Ein alter Mann stand auf, sah Diogo neugierig an. „Mariazinha Santos?“ Er kratzte sich am Kopf. “Kennst du sie?”

Diogo wich einen kleinen Schritt vor seiner Alkoholfahne zurück und nickte. „Sie ist meine Groβmutter.“

Allgemeines Beifallgemurmel. „Ah, deine Groβmutter“, wiederholte der alte Mann grinsend und zeigte dabei seinen fast zahnlosen Mund. „Mariazinha wohnt dort hinüber, am Rande des Ortes.“ Er zeigte nach links. „Du musst einfach diese Straβe weitergehen und dann, am Ende der Straβe, nimmst du den Erdweg nach links. Ihre Hütte ist die hinterste. Dort, wo die vielen Palmen stehen.“

„Danke, compadre. Das war sehr freundlich.“

„Du bist also der Enkel.“ Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. „Ja, es ist zwanzig Jahre her, als dein Vater von hier fortreiste. Er war ein guter Mann, ich kannte Francisco gut.“ Dann deutete er auf Angela. „Und wer ist die estrangeira?“

„Oh, sie ist meine Freundin, und ich will sie meiner Groβmutter vorstellen.“

Die übrigen Männer nickten wohlwollend zu Diogo.

„Dann habt noch einen schönen Tag und danke erst einmal“, rief Diogo ihnen zu und machte sich mit Angela auf den Weg.

Die Hauptsraβe bestand aus bunten, mit Stuck verzierten Häuschen im Kolonialstil.

„Das waren einmal die Paläste der Coronels.“ Aus Diogos Stimme klang Verachtung.

Coronels?“ fragte Angela. „Was sind coronels?“

Das war am Anfang des vorigen Jahrhunderts, zur Zeit des Kakaos. – Mein Vater sprach oft von diesen miesen Schweinen, den Kakaobaronen. Canavieras war damals der wichtigste Kakaohafen der Welt, und die verdammten coronels schwammen im Geld, tranken Champagner und lieβen Tänzerinnen aus Paris kommen.“ Diogo schnaubte verächtlich. „Meine Urgrosseltern mussten für die coronels noch wie die Sklaven arbeiten. Mein Vater erzählte mir diese Geschichten.“ Er seufzte. „Mein Groβvater fuhr lieber mit den Fischern hinaus, als sich auf den Plantagen tot zu schuften.“

Sie waren bereits ein gutes Stück Weg gegangen, hatten die alten, halb zerfallenen Paläste der Kakaobarone hinter sich gelassen und kamen an einem Lebensmittelgeschäft und dann an der Schule vorbei.

„Die Groβgrundbesitzer behandeln heute noch ihre Arbeiter wie Vieh!“ Diogo zeigte hinüber zur Bucht, wo die bunten Fischerboote in der Nachmittagsbrise schaukelten. „Mehr Arbeit gibt es hier nicht. Der Grund, warum jeden Tag Tausende aus Bahia und dem Nordosten nach São Paulo oder Rio flüchten. Diese Menschen sind auf der Suche nach einem besseren Leben, verstehst du, Angela?“


Die Gegend wurde immer einsamer, nur noch vereinzelt das eine oder andere Haus, bis bald die Häuser und dann die asphaltierte Strasse aufhörten. Der Weg führte an einem groβen Palmenhain entlang. Die Luft roch salzig und nach mato.


„Angela, wo bleibst du?“, rief Diogo. Er war bestimmt zwanzig Meter vor ihr und wartete.

„Wir sind hier zwar im Nirgendwo, aber es ist paradiesisch, Diogo.“

„Paradiesisch nennst du das?“

„Die rote Erde finde ich unglaublich schön!“

„Das ist fruchtbare Erde, aber man nannte sie einmal blutdurchtränkte Erde, Angela. Hier wird immer noch Kakao angebaut. Vor hundert Jahren gab es nur dichten Urwald. – Mein Vater erzählte mir, dass nicht weit von hier der Urwald beginnt. Mann nennt dieses Land hier Terra sem fim, Land ohne Ende“, so erzählten meine Eltern.“

„Land ohne Ende?“

„Ja, genau! - Land ohne Ende. Zahllose Menschen mussten ihr Leben hier lassen, wegen habgierigen, skrupellosen Groβgrundbesitzern“, fuhr er in seiner Erzählung fort. Sie marschierten inzwischen auf einem ausgetrockneten Lehmweg, der Abendwind blies hinein und wirbelte rote Staubwolken auf.

„Vor hundert Jahren war eine Zeit voller erbitterter Kriege um dieses Land. Die coronels brachten sich mit Hilfe bezahlter Pistolenhelden auch noch gegenseitig um.“


Dann endlich sahen sie die Hütte. Sie stand ein wenig abseits, am Rande vom Palmenhain, genau wie der Fischer es beschrieben hatte, und vor der Tür saβ eine alte Mulattin und winkte. „Das ist sie“, murmelte Diogo. „Das ist meine Groβmutter.“

Angela nickte.

Avó! Avó!“ rief er, rannte humpelnd zu ihr und fiel ihr in die Arme.
 
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Die dreieinhalb Jahre, die ich in Rio lebte
war gewiss der Höhepunkt in meinem Leben
Rio ist eine unvorstellbar schöne Stadt
und ich arbeitete dort als Reiseleiterin



ich bin das ganz rechts...:clown:


brachte Touristen auf den Zuckerhut, den Corcovado
war sozusagen Tag und Nacht in dieser pulsierenden Stadt unterwegs
machte Transfers vom Flughafen zu den Hotels und vice versa

oft mit 2000 Dollar cash unterwegs um am exchange zu verdienen
ich wurde nie überfallen:angel2: und Rio zählte damals schon zu den gefährlichsten Städten der Welt...
es war eine sehr aufregende Zeit und ich habe sie in einem Buch verarbeitet.
 
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