III
„Hast du noch Zeit?“, fragte Claudia nach der Yogastunde. „ Ich möchte einen Fruchtsaft trinken. Oder musst du zurück ins Hotel?“
„Nein, nein. Ich habe Zeit, lass uns gehen.“
Sie nahmen den Lift hinunter und gingen auf die Straβe.
„Die Hitze trifft mich wie der Schlag!“, stöhnte Angela. „Neun Uhr morgens, und schon so heiβ.“
Der Junge hinter der Theke der Saft - Bar blickte beide fragend an und wartete geduldig, bis sie sich entschieden, denn die Auswahl war groβ. Vor einer verspiegelten Wand waren die verschiedenen exotischen Früchte aufgebaut: Papayas und Kakis, mehrere Sorten Bananen, Ananas und die groβen jacás-Früchte, cajú, Erdbeeren, Maracujá und Mangos. Orangen, jabuticabas und grüne Kokosnüsse, Weintrauben und sogar Kirschen.
Nach einigem Überlegen entschied sich Angela für Papaya mit Mangos, Ananas und Orange. Claudia bestellte sich Erdbeermilch.
In Windeseile schälte der Junge das Obst und pürierte es im Mixer.
„Diogo machte mir eine Eifersuchtszene“, sagte Angela leise und beobachtete dabei abwesend den Jungen, wie er den Mixer mit frisch gepresstem Orangensaft auffüllte und dann den Saft in ein groβes Glas einschenkte und mit einem breiten Lächeln vor sie hin stellte.
„Eifersucht? Hm. Ich bin auch eifersüchtig.“
In diesem Augenblick rannten zwei Jugendliche in wilder Hetzjagd drauβen auf der Strasse vorbei. „Haltet die Diebe“, schrieen einige Leute. Polizisten eilten hinterher. Man hörte Schüsse krachen und Schreie, gefolgt von wildem Geschimpfe. Ein schwarzweiβes Polizeiauto der Policia Civil fuhr langsam den Polizisten hinterher.
Angela und Claudia liefen zusammen mit den anderen Gästen hinaus auf die Straβe und konnten gerade noch mitbekommen, wie die beiden Jungen von den Polizisten überwältigt und ins Polizeiauto gesperrt wurden.
„Die Polizei darf sie nicht lange einsperren. Die Jungs sind noch minderjährig, arme Teufel, aber sehr gefährlich.“ Claudia sah auf die Uhr und überlegte. „Wir können uns noch ein wenig ans Meer setzen, wenn du willst.“
Sie tranken aus und bezahlten. Während sie sich durch die mit Autos verstopften Straβen nach vorne zum Strand durchschlängelten, erzählte Angela über Diogos Eifersuchtsausbruch.
„Beim Fuβballspiel hatten wir keine Möglichkeit darüber zu reden.“ Angela versuchte mit Claudia Schritt zu halten.
„Eifersucht ist ein Zeichen, dass Diogo dich sehr liebt“, war Claudias trockener Kommentar. „Solange er nicht zu Besitz ergreifend wird…“
Sie erreichten den Leblon Strand. Angela zog ihre Sandalen aus und begann auf dem Weg nach vorne zum Wasser über ihren Besuch in Vidigal zu erzählen.
„Das ist eine aufregende Geschichte!“ Nachdenklich blickte Claudia auf die Wasseroberfläche. Das Meer war an diesem Morgen spiegelglatt und von dunklem Blau und kontrastierte zum grell beschienen Sand der Morgensonne. Sie setzten sich dicht an das Wasser, denn heute war kaum Brandung.
„Ich kann mir gut vorstellen, wie du dich gefühlt haben musstest, einem Mörder gegenüberzusitzen“, sagte Claudia schlieβlich.
„Ja, seltsam, dieser Bruno scheint ein freundlicher junger Mann zu sein.“ Sie lachte auf. „Ein Mulatte, genau wie Diogo. Diogo erzählte mir später, dass Bruno zweiundzwanzig sei.“ Sie atmete einmal tief die Luft ein.
„Wusstest du, dass diese Banditen meist nicht einmal das dreiβigste Lebensjahr erreichen, Angela?“
Wir leben eine Minute, dachte Angela. Ich wurde geboren und ich starb. Ich lebte eine Minute. Genau das hat Bruno gesagt. Sie fragte sich, was Ewigkeit sei… ob die Ewigkeit vielleicht in dieser einen Minute enthalten war? Solche Gedanken waren erschreckend und hatten mit dem Tod zu tun.
„Du bist auf einmal so schweigsam“, hörte sie Claudia.
„Ich fragte Bruno, ob er schon einmal einen Menschen umgebracht hätte.“
„Und ?“
„Einen?“, war seine Gegenfrage. Aus seiner Stimme klang ein derartiger Zynismus, dass ich plötzlich sah, welcher Abgrund uns wirklich trennte. Bruno sprach völlig emotionslos, und ich fragte mich, ob er überhaupt zu Mitgefühl fähig sei.“ Angela blickte zu Claudia. „Ja, ich empfand diesen Abgrund, obwohl wir uns an einem Tisch gegenüber saβen und zusammen tranken. Wir hatten gegessen und viel gelacht.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Er machte auf mich erst einen völlig normalen Eindruck.“
„Ganz schön krass! Ich kenne diese ganzen Geschichten aus den Medien. Mein Gott, Angela, aber solche Worte direkt aus dem Mund eines Mörders zu hören…“ Sie schien nachzudenken, ihre Stille vermischte sich mit dem Rauschen der Brandung und den Rufen einiger Jungs, die in der Nähe Volleyball spielten.
„Der Schlüssel liegt in der Kindheit.“ Claudia versuchte sich eine Zigarette anzuzünden, aber der Wind blies ihr Feuerzeug immer wieder aus. „Ich habe darüber gerade gelesen, Angela. - Durch den extremen Druck einer Todesgefahr können Gefühle blockiert werden.“ Endlich gelang es Claudia, sich ihre Zigarette anzuzünden.
„Wer zu Mitgefühl fähig ist, muss Emotion sozusagen innerlich nachsimulieren“, verstehst du?“ Angela schüttelte den Kopf.
„Was bedeutet das?“
„Dass man vermag, sich in den anderen und seine Situation hineinzufühlen. Und genau dazu, Angela, sind Menschen wie Bruno nicht fähig. Sie haben zu viel mitgemacht.“
„Das leuchtet irgendwie ein. – Trotzdem kann ich dir nicht ganz folgen, was ist mit Didi? Er kommt genauso aus armen Verhältnissen.“
„Didi? Claudia überlegte kurz. „Didi ist woanders aufgewachsen, mit anderen Eltern und in einer ordentlicheren Umgebung. Didi hat keinen Hunger leiden müssen, es gab keinen prügelnden Vater; verstehst du? Didi trägt keine kriminelle Energie in sich.“
„Ja, klar. Aber wer ist an solch einer aggressiven Kriminalität schuld? Wer ist verantwortlich für die Armut von Millionen Menschen? Etwa unsere Gesellschaft?“
„Ja! Unsere Gesellschaft und die Regierung, die seit Jahren nichts getan hat; und jetzt steuern wir auf das Chaos zu und es ist zu spät!“
Angela zeichnete Kreise und Spiralen in den glatten Sand und beobachtete, wie das Wasser kam und ihre Zeichnungen wieder verwischte.
„Bei uns in Rio werden diese Jungs in den Medien momentan geradezu verherrlicht, aber nur, weil es gerade in Mode ist.“ Claudia lachte auf. „Da laufen sie als junge Helden in den Telenovelas herum und die Mädchen sind ganz verrückt nach so einem Revolverhelden. Dabei ist es nicht mehr als oberflächliches Getue.“
Angela zeichnete weitere Spiralen in den Sand und schwieg. „Wir leben in einer fremden Welt“, sagte sie schlieβlich.
„Gerade hier in Rio leben wir in einer solchen fremden Welt. In einer Welt voller Kontraste. Schau dir diese Schönheit an! Die Berge und Strände und dieses Meer - so blau wie sein Himmel darüber.“ Claudias Stimme schwankte. „Rio, die schönste Stadt der Welt! Dass ich nicht lache, das Gewaltpotenzial in Rio ist so hoch, dass es nicht zu dieser Schönheit beiträgt! Wusstest du, dass jede halbe Stunde ein Mensch in dieser Stadt ermordet wird?“ Angela nickte stumm. „In den letzten zwei Jahren hat sich aber diese Zahl nochmals drastisch gesteigert, es kamen insgesamt mehr Menschen ums Leben als beim Krieg in Angola! Diese Jungs sind gefährlich, meine Liebe, sie kennen kein Mitgefühl und sind voll gepumpt mit Drogen. Da soll man sich nichts vormachen. Mit dieser Art von Menschen kann man bei einem Überfall auch nicht mehr reden!“ Claudia sah auf die Uhr. „Ich muss los. Wir können uns heute Nachmittag noch mal treffen, ich komme nach der Stadtrundfahrt bei dir im Hotel vorbei. Tchau, Angela.“