Sie schwiegen beide. Von unten drang der Verkehr der Groβstadt herauf, vermischte sich in einer gewaltigen Kakophonie, mit dem Lärm der Favela. „ Manchmal, wenn ich über das Leben nachdenken will, stehe ich hier und blicke hinunter und denke an meine Zukunft, an meine Hoffnungen und Ziele, die ich mir gesteckt habe. Das gibt mir die Kraft!“
Das hier ist viel lebendiger als der Blick aus dem siebzehnten Stock im Apartment vom Hotel, dachte Angela. Zwischen Wäscheleinen auf der Dachterrasse blickt man hinunter auf das Leben. Irgendwo aus der Ferne hörte man Musik eines Funkballes. Ich bin Didis Charme längst erlegen, , der Zug braust in Höchstgeschwindigkeit dahin, ich kann nicht mehr aussteigen dachte Angela.
Er nahm ihre Hand und ging mit ihr zurück in die Küche.
Angela setzte sich auf einen der Grünen Plastiksessel vor den Fernseher und versuchte ein Lächeln aufzusetzen. Der Fernseher mit Breitwandflachbildschirm und DVD Player sah teuer aus. Auch die CD Anlage.
Bruno kam mit Gläsern und Bierflaschen an den Tisch.
Da bemerkte Angela am Fenster einen hohen Ständer mit einem Amazonas-Papagei, der begonnen hatte, immer wieder Loro vor sich hin zu rufen.
„Loro! Fica querto!“, ermahnte Bruno ihn und kraulte ihm am Kopf, aber ohne Erfolg, der Papagei kreischte weiter. Bruno holte eine Banane und fütterte ihn. „Loro macht, was er will!“, meinte Bruno und kraulte ihn erneut am Kopf, was dem Papagei zu gefallen schien, denn er beruhigte sich und saβ dann brav auf seiner Stange.
„Ich habe ihn schon zwei Jahre“, erzählte Bruno und brachte Guaraná. „Loro ist mein Ein und Alles.“ Bruno zwinkerte Angela zu. „Didi? Guaraná?“
Diogo nickte abwesend, er verfolgte im Fernsehen gerade eine Show. Bruno öffnete die Flaschen und schenkte in die Gläser ein. „Der Fernseher war ein Geschenk für meine Mutter zum Geburtstag.“ Er lachte. „Das musste sie ja annehmen.“
Angela schwieg. Sie wusste nicht, was sie darauf antworten sollte und starrte auf die Familienfotos und Plastikblumen auf der Kommode. Darüber prangte ein Bild des Heiligen Georg, hoch zu Ross mit seinem Schwert den Drachen bekämpfend. Auf der anderen Wand ein Druck des Abendmahls von Leonardo.
„Du hast uns ja ein Festessen gekocht!“ Diogo bestaunte die vielen dampfenden Tontöpfe auf dem Esstisch.
„Es gibt moqueca! Ich habe besonders groβe Krabben gekauft und sie langsam in Kokosmilch geschmort! Ein Rezept von meiner Mutter aus Bahia“, sagte Maria Luisa ein wenig stolz.
„Und was ist in den anderen Töpfen, Tante?“
„Pirão, quiabos, maxixe und geschmorter Kürbis.“ Es gab auch gebratenes Hähnchen, Reis und schwarze Bohnen und eine Schüssel mit gemischtem Salat, dazu Weiβbrotscheiben und farófa mit gebratenen Speckwürfeln drin, Zwiebeln und klein gehackte, hart gekochte Eier und Oliven.
„Bravo!“, rief Bruno und setzte sich Angela gegenüber, langte gleich quer über den Tisch, stürzte sich auf die Moqueca, verschlang alles hungrig und erzählte dabei mit vollem Mund irgendwelche witzigen Geschichten, während er dabei glucksend lachte und mehrmals laut rülpste.
„Ich habe auch Erdbananen gebraten.“ Maria Luisa schaute zu Angela. „Gib mir deinen Teller.“ Die groβen Krabben im Tontopf rochen nach Knoblauch und Kokosmilch.
„Das ist wirklich gut, aber es ist sehr scharf…“, sagte Angela vorsichtig.
Diogo schenkte Bier in Angelas Glas. Das Bier ist meine Rettung, dachte Angela und trank, um endlich das scharfe Gefühl im Mund loszuwerden.
Maria Luisa strahlte. „Als Nachtisch gibt es quindim...“
„Quindim?“, fragte Angela.
„Ein Pudding aus Eigelb und frischer geriebener Kokosnuss.“
„Meine Mutter kocht den besten quindim der ganzen Stadt“, lobte Bruno laut schmatzend und rülpste gleich nochmals.
Zum Schluss brachte Dona Maria Luisa Kaffee und einen Kuchen. Bruno stand auf , holte eine Flasche pinga Marke Pitú und stellte sie auf den Tisch.
„Du sollst nicht so viel trinken“, ermahnte ihn seine Mutter. Bruno ging zu seiner Mutter und umarmte sie. „Mãe, heute ist ein Grund zum Feiern. Flamengo hat gewonnen, mãe.“ Er gab ihr noch einen dicken Kuss auf die Wange. Dann brachte er dicke Wassergläser herbei; war doch Brunos Lebensphilosophie in seiner freien Zeit zu koksen, oder pinga bis zum Umfallen zu trinken und Funk dabei zu hören.
„Ich werde mich zum Fernseher setzen, damit ich meine novela nicht verpasse“, sagte Maria Luisa.
„Ja, ja, Mutter. Geh ruhig.“ Bruno lachte. „Sie sieht sich die Telenovela jeden Sonntagabend an.“ Er goss pinga ein und schob Diogo und Angela grinsend die Gläser hinüber.
„Bruno, das ist mir zu stark“, sagte Angela, worauf Diogo aufstand und sich mit Angelas Glas am Eisschrank zu schaffen machte. Angela hatte Bruno die ganze Zeit nicht aus den Augen gelassen. Er wirkt eigentlich harmlos, aber er hat einen unruhigen Blick. Er sieht einen an, aber eben nicht richtig an.
Ein lautes Krachen schreckte sie auf Es war Diogo, der mit einem Holzbrett auf Eiswürfel einschlug.
„Oba, Cousin! Du bist ja gewalttätiger als ich!“, prustete Bruno los.
Diogo drehte sich zu ihm um, sagte aber nichts darauf, dann gab er das Eis in Angelas Glas, füllte es mit Zuckerrohrschnaps und brachte es ihr. Sie prosteten sich zu. Diogo rührte sein Glas nicht an und trank weiterhin Guaraná.
„Komm, Cousin! Sei nicht so langweilig“, hänselte ihn Bruno. „Einmal ist keinmal. Du hast doch allen Grund heute zu feiern.“
„Na gut, Bruno.“ Sie stieβen an.
„Auf den Fuβball und deinen Erfolg!“ Bruno lachte in sich hinein. Mein Erfolg kommt dann, wenn ihr es am wenigsten erwartet. „Erzähl vom Fuβballspiel, Cousin“, bat Bruno.
Diogo beschrieb die wichtigsten Passagen des Spiels. Sie hatten ihre Gläser ausgetrunken und Bruno spielte eine CD mit brasilianischem Funk und füllte erneut pinga in die Gläser. Maria Luisa hatte sich längst verabschiedet, sie war müde und ging zu Bett.
Angela fasste sich endlich ein Herz und fragte Bruno, ob es wahr sei, dass er im Drogengeschäft arbeite.
„Und wenn es so wäre?“ Bruno zwinkerte ihr zu und zündete sich eine Zigarette an.
„Didi sagte, du seiest die rechte Hand von deinem Drogenboss.“
„Ja genau. Ich bin gerente.“
„Gerente?“
„Ja.“
„Was ist das?“ Sie sah ihn verständnislos an.
„Bei uns herrscht eine genaue Ordnung, ich bin der Geschäftsführer in unserer Firma und trage eine Menge Verantwortung“, beantwortete er ihre Frage. Er hatte sich lässig nach hinten gelehnt und blies den Rauch seiner Zigarette nach. Jetzt fixierte er ihre Augen. Angela hielt seinem Blick stand. „Firma?“, fragte sie.
„So nennen wir unser Geschäft. Bei uns ist alles genau organisiert.“
„Aha.“ Angela verstand gar nichts. „Und was ist bei euch organisiert? Ich möchte mehr darüber erfahren.“
Bruno kratzte sich am Kopf. „Was willst du wissen?“
„Wie kamst du dazu?“
„Ich begann als Siebenjähriger mit Kurierdiensten.“ Bruno drückte seine Zigarette aus und verschränkte die Arme vor der Brust. „Danach habe ich Drachen steigen lassen, um vor der Polizei zu warnen. Wenn die Banditen kamen, holte ich den Drachen schnell herunter. Da wusste unsere Firma, dass die Polizei anrückte.“ Er grinste. „Manchmal wird auch einfach der mato, der Urwald oder Busch, angezündet, um zu warnen, oder nachts wird eine Leuchtrakete hoch geschickt. - Mit neun Jahren haben sie mich zum Verkäufer befördert, da ich einer der begabten war wurde ich mit zehn Jahren Soldat.“
„Was macht ein Soldat bei euch?“ Angela trank von ihrer Caipirinha. Es war eine ungewöhnliche Situation. Sie saβ inmitten der Favela, hatte einen Drogenhändler vor sich sitzen und hatte keine Angst, denn Diogo war bei ihr, und das war sehr beruhigend.
„Soldaten sind bewaffnet und schützen das Viertel. Bei uns in der Favela müssen drei Regeln eingehalten werden: Es ist verboten, zu vergewaltigen, zu stehlen und zu verpfeifen“, sagte er und schwieg. Schlieβlich meinte er:
„Die Polizei hat jetzt mehr Respekt vor uns, seitdem wir bewaffnet sind. Die können nicht mehr einfach mal zu uns herein kommen und wie wild um sich schieβen, wir haben hundert
bewaffnete Soldaten bei uns im Vidigal.“
„Ja, aber ihr tötet auch die Menschen, die ihre Schulden nicht bezahlen“, warf Diogo ein.
„Strafe muss sein, Cousin.“
„Muss man den anderen gleich in Stücke schneiden, wie ihr es vorigen Monat gemacht habt?“ Diogo schüttelte unwillig den Kopf.
„Er war Informant. Ein Verräter muss sterben, und wir töten als Exempel.“
„Exempel nennt ihr das, wenn ihr Menschen grausam zurichtet? Und der Journalist? Der hat euch doch gar nichts getan!“
„Nichts getan?“, höhnte Bruno. "Er war ein verdammter Spion, der in der Presse über uns schreiben wollte. Dieses Schwein! Maldito filho da puta!“
„Er starb völlig unschuldig.“ Diogo sah Bruno vorwurfsvoll an.
„Der Journalist starb nicht in Vidigal. Das war in der Favela Costa-Mar. Serginhos Gerente höchstpersönlich nahm sich seiner an“, meinte Bruno lachend. "Das war ein Journalist von der TV Globo.“ Bruno sah Angela wie entschuldigend an. „Er hatte eine Mikrokamera dabei und wollte spionieren.“
„Spionieren?“, fragte Angela.
„Ja, genau. Der Typ kam zu einem Funk-Ball und wollte sich in unsere Angelegenheiten einmischen. Von wegen gratis Drogen und Prostitution bei unseren jungen Leuten…“ Bruno seufzte. „Bei uns ist es wie beim Militär, ein Spion ist nicht unschuldig!“ Bruno trank sein
Glas aus und schenkte nach. „Wir sind das Comando Vermelho, das Rote Kommando. Ausgebildet wurden die ersten Mitglieder des Roten Kommando, von politischen Gefangenen im Gefängnis der Ilha Grande, ihr wisst ja: diese Insel in der Guanabara Bucht. Das war in den siebziger Jahren, zur Zeit der Militärdiktatur.“ Brunos Stimme war voller Hohn: „Man dachte damals, wenn man ein paar politische Gefangene zusammen mit sechzig normalen Verbrechern einsperrt, würden diese die Politischen bald fertig machen. Es war genau umgekehrt. Die Politischen gewannen die Kontrolle über die normalen Verbrecher und lehrten sie, sich zu organisieren. So entstand einmal unser Comando Vermelho. Ja, wir haben alles bei denen gelernt und tun auch was für unsere Gemeinde, wir sind es, die unseren Leuten helfen.“
„Stell dich jetzt bloβ nicht noch als Samariter hin!“, sagte Diogo aufgebracht.
Oh mein Gott!“, entfuhr es Angela.
„Was glaubst du denn, was die Menschen für Chancen haben?“ Bruno sah Diogo an. „Unser Volk wird ausgebeutet und verachtet.“
„Deine Mutter geht trotzdem kochen und arbeitet jeden Tag“, rief Diogo ungerührt Bruno zu.
„Und deine auch, Didi.“ Er verzog spöttisch den Mund. „Das sind noch die Alten, die an ihrem alten Trott festhalten. Die Jungen bewerben sich bei der Firma. Sie sind stolz, dort
arbeiten zu dürfen und das weiβt du ganz genau. Es sind weit mehr, die sich bewerben, als dass wir denen Arbeit geben können. Du bist eine Ausnahme. In der Zona Sul ist es verlockend, im Drogengeschäft zu arbeiten. Hier, vor unserer Haustür sind die noblen Viertel und da wohnt das ganze reiche Dreckspack, welches uns ausbeutet. Und wir verdienen an ihrem Drogenkonsum. “ Bruno sah seinen Cousin triumphierend an. „Ein Drogendealer verdient das Vierfache als ein braver Arbeiter. Dass ich nicht lache. Wer ist denn so dumm und lässt sich da weiter ausbeuten? He?“
Diogo schwieg, was sollte er dem auch entgegensetzen. Es herrschte minutenlanges Schweigen.
„Wir leben eine Minute“, sagte Bruno tonlos. „Ich wurde geboren und ich starb. Ich lebte eine Minute…“