Dr. Engel
Vierzehn Jahre war er nun schon hier an dieser Klinik. Er hatte viel erlebt und hatte viel gesehen. Hatte sich zum Oberarzt hochgearbeitet im Laufe der Zeit. Doch seit ihm die Leitung der Kinderstation übertragen worden war, hatte er das Gefühl, immer mehr ausgezehrt zu werden.
Er merkte, wie er langsam aber sicher an seine persönlichen Grenzen kam. Verdrängte es immer wieder, aber es kam immer neu in ihm hoch. Er hatte schon daran gedacht, sich anderswo neu zu bewerben, weil er befürchtete dass er es bald nicht mehr aushalten würde. Die vielen Kranken und dann auch noch Kinder. Er glaubte, dass er den falschen Weg eingeschlagen hatte.
Ihm fielen die Worte seiner lieben Frau ein, die ihn immer wieder in seinem Engagement unterstützte, welches sich auch noch außerhalb des Krankenhauses fortsetzte. Wie aus heiterem Himmel hatte sie heute morgen beim gemeinsamen Frühstück gesagt: Heute ist ein besonderer Tag!
Sie konnte es nicht begründen, aber sie hatte das ganz sichere Gefühl, dass es so wäre, sagte sie. Was anderes machen - woanders neu anfangen? Er wusste nicht, ob er ihr das jetzt zumuten konnte. Gerade hatte sie hier richtig Fuß gefasst. Sich alles neu aufgebaut. Nein, der Zeitpunkt ist falsch, dachte er.
Sein neuester Patient, ein achtjähriger Junge, kam ihm auf dem Flur entgegen. "Guten Morgen Dr. Engel", strahlte er ihn an. "Guten Morgen mein kleiner neuer Freund", gab er zurück. "Du siehst mir heute besonders glücklich aus". Er streichelte ihm über seinen kahlgeschorenen Kopf. "Ja, heute ist ein besonderer Tag - ich habe Geburtstag!" "Oh, da gratuliere ich Dir ganz herzlich, mein lieber Jojo!" "Neun Jahre", strahlte er und die zehn schaffe ich auch noch" Dr. Engel musste lachen. Er war ein so tapferes Kerlchen.
Kurz nach der Visite passierte es dann. Ein Notfall. Verkehrsunfall. Ein zehnjähriges Mädchen war auf dem Rückweg von der Schule von einem Auto erfasst worden. Komplizierte Brüche. Er wusste, dass es heute länger werden würde und ließ seiner Frau Bescheid geben. Kurz darauf war das Kind im OP.
Hoch konzentriert ging er an seine Arbeit. Nach 5 Stunden war es geschafft - die Kleine war gerettet. Am Ende seiner Kräfte verließ er den OP und wollte sich kurz hinlegen.
Doch er kam eher von den Beinen, als ihm lieb war. Ein heftiger Stich in seiner Brust nahm ihm den Stand und knipste das Licht aus. Mehr bekam er von seinem Infarkt nicht mehr mit.....
Kurze Dunkelheit. Er war verwirrt. Er war noch da, aber irgendwie... nicht mehr hier.... Dann wurde es heller. Wie ein Tunnel. Dort hinten war Licht! Er bewegte sich darauf zu. Vertraut war es ihm und er schien schon einmal hier gewesen zu sein. Es zog ihn förmlich an, wie ein Sog. Und plötzlich merkte er...... er war nicht allein! Zu seiner Rechten war jemand, den er gut kannte. Der kleine Jojo! "Was machst Du denn hier?", fragte er ohne den Mund dabei zu öffnen.
"Erinnerst Du Dich an heute morgen?", fragte der kleine Jojo. "An den besonderen Tag?" Ja er erinnerte sich daran. "Du fragst, was ich hier mache?" "Ich begleite Dich hinüber - oder ich bringe Dich zurück - ganz wie Du willst." Schlagartig wurde ihm bewusst, in welcher Situation er sich befand......
Jojo veranlasste ihn zum Stehenbleiben. "Verweile hier einen Moment mit mir und setzte Dich", sagte er und legte ihm seine kleinen Hände auf die Schultern. Bilder erschienen in seinem Kopf. Bilder von dort, wo er sich nun hinbegeben könnte, wenn er wollte. Es war einfach wunderschön und ergreifend. Dieses warme Licht, dieses Gefühl von Liebe, Fülle und Angenommen sein. Sein Entschluss schien festzustehen. Doch dann kamen andere Bilder....
Das was er verlassen würde... Seine Frau, seine Kinder, das Krankenhaus mit all den Patienten, seine Kollegen und seine Aufgabe, die er eigentlich noch hatte. Trauer und Schmerz machten sich in seiner Brust breit. Das erste Gefühl hatte ihm auf Anhieb besser gefallen, aber er wusste, dass er noch nicht gehen konnte. Seine Aufgabe war noch nicht ganz erfüllt.....
Hand in Hand gingen sie beide den Weg zurück. "Eine gute Entscheidung", sagte der kleine Jojo. "Denn der Weg in die andere Richtung ist Dir gewiss."
Einige Zeit später schlug er die Augen auf. Intensivstation! Besorgte Gesichter seiner Frau und der Kollegen. Nur einer lächelte.... Es war der kleine Jojo. "Er hat die ganze Zeit Ihre Hand gehalten und ist nicht von Ihrer Seite gewichen", sagte die OP-Schwester. "Ich weiß", sagte Dr. Engel, "heut' ist halt ein besonderer Tag.....
Einige Tage später war Jojo einfach spurlos verschwunden.....
H.A. - hier genannt Tolkien