Kameltreiber Ali beim Psychiater

42.


„Wir können los!“, flüsterte der Shrenk. „Die Luft ist rein!“

Ali hielt Akhbar an der Leine und machte die Vorhut. Gefolgt von Miriam, Suleika und Omar, zusammen mit dem Shrenk, der die Nachhut bildete. Es war drei Uhr morgens, die Westerdam war auf der Fahrt zwischen New York und Fort Lauderdale. Die Portugiesischen Freunde hatten alles arrangiert: der eine Lift wurde gesperrt. Miguel und Pedro schoben Wache.

„Ihr fahrt mit Suleika und Omar, bis Deck Zehn hinauf und wartet auf mich“, bat Ali den Shrenk. Mit bangem Herzen beobachtete sie, wie der Doktor sich zusammen mit den Kamelen in den Fahrstuhl zwängte. Bald erschien auf der Anzeigetafel, die Zahl Zehn. Nach kurzer Zeit öffnete sich erneut die Fahrstuhltür.

„Akhbar, du hast versprochen, dich anständig zu benehmen. Mach mir bloβ keine Schande. Wir können los!“

Akhbar sog zufrieden die frische Seeluft ein, als er zusammen mit Miriam und Ali das Deck betrat. Das erinnerte ihn an die Ramlah und die Abenteuer, die er dort erlebt hatte. Ja, Akhbar hatte nichts vergessen, ihre Kamelrennen und der Fernet Branca. Vor allem das Peildeck der Ramlah. Das hier schien auch ein Peildeck zu sein, gab es auch hier jede Menge Antennen. Manuel tauchte aus der Dunkelheit auf. Er hatte Ali und den Shrenk bereits erwartet. „Na? Alles in Ordnung?“ Er tätschelte Akhbar und deutete zur Treppe. “Wenn wir da hinaufgehen, kommen wir zum Sportdeck. Dort ist mit Sicherheit kein einziger Passagier, auch keine Nachzügler aus Bars oder Diskos.“

Mit Leichtigkeit nahm Akhbar die Treppen. Ja, nach so langer Zeit unter Deck, schwebte er geradezu hinauf. Miriam dicht hinter ihm, gefolgt von den Anderen. Es erwartete sie eine hundert Meter groβe, völlig freie Fläche bis vorne zum Bug. Die Vorderfront war mit durchsichtigem Plexiglas, als Windschutz abgedeckt.

„Los!“, rief Ali. „Hier dürft ihr euch austoben.“ Die Kamele lieβen sich das nicht zweimal sagen und stürmten los. Miriam wieherte vor Begeisterung, Omar und Suleika drehten freudig ihre Runden. Und Akhbar galoppierte besonders schnell. Akhbar hatte den berühmt- berüchtigten Akhbar Galopp begonnen.

Da erschien plötzlich eine Gestalt vor ihnen. Ein stattlicher Mann in Shorts, Sporthemd und Tennisschuhen. „Träume ich oder sehe ich richtig?“, fragte er amüsiert.

„Oh, welche Überraschung sie hier zu treffen“, entfuhr es Ali.

Manuel dagegen salutierte sofort und machte einen verlegenen Eindruck. „Nein, mein Kapitän, ihr habt schon richtig gesehen. Die Tiere brauchten einfach ein wenig frische Luft, ich übernehme die volle Verantwortung. Ich war es, der den Plan mit den Kamelen unterstütze.“

„Kapitän Van Schloos“, rief Ali dazwischen. „Ich war es die Manuel inständig darum bat, die Kamele an Deck zu bringen, da sie einen kränklichen Eindruck auf mich machten. Ich bin untröstlich, Manuel in Schwierigkeiten gebracht zu haben.“

Der Shrenk seufzte schwer. „Die Sicherheit, Selbstachtung und Respekt“, murmelte er vor sich hin. „Aber auch Wohlbefinden und Verantwortung sind Funktionen, die beachtet werden müssen. Verantwortungsbereitschaft, also auch um verdientes Vertrauen werben“, fuhr der Doktor fort und unterstrich diese bedeutsamen Gedanken mit dem erhoben Zeigefinger, worauf ihn der Kapitän verwundert ansah. „Kapitän Van Schloos, ich bin nun mal Psychiater und richte mich nach den Lehren Doktor Freuds. So versichere ich ihnen, Vertrauen gelingt, umso transparenter und sachbezogener die Zuständigkeiten geregelt sind und je aufmerksamer und sensibler das Team für die Kompetenzen und Persönlichkeit des einzelnen ist, diese würdigt und in den Gesamtprozess einbezieht.“

„Ich will dann mal ein Auge zudrücken. Um diese unchristliche Zeit, schlafen meine Passagiere. Und wenn Freud da genauso mit einverstanden ist, kann dem nichts mehr im Wege stehen.“

„Danke Kapitän Van Schloos“, ergriff Ali sofort die Chance:

„Sie haben doch bestimmt nichts dagegen, wenn wir das ab und zu wiederholen?“

„Solange es mitten in der Nacht geschieht und ruhig zugeht.“ Er zögerte. „Was haltet ihr von der Idee, wenn wir das Morgen Nachmittag um Vier bei einer Tasse Tee in meiner Kabine besprechen?“

Ali bedankte sich, der Shrenk seine Psychoanalyse weiterspann: „Man verssucht gehemmte Expressivität. Ähm ja, gehemmte Initiative und gehemmtes Engagement zu überwinden, sieht sich aber mit der Barriere rationaler und moralischer Bedenken konfrontiert. Da hilft die liebende Verschmelzung mit einem Anführer, dem es gelingt, die Barriere suggestiv in Luft aufzulösen und im erotisch-aggressiv erregten Einzelnen die Phantasie gemeinsamer Gröβe und Grenzenlosigkeit zu mobilisieren.“ Der Doktor seufzte und murmelte irgendetwas über überwundene Hemmungen die den Weg nach vorn frei machen. Dann blickte er triumphierend in die Runde, als sei ihm ein Licht aufgegangen: „ Bei diesem Weg nach vorn werden Hindernisse gnadenlos überrollt!“ Der einzige der dem Shrenk mit einem kräftigen Wiehern antwortete, war Akhbar, der nämlich gerade an ihm vorbei galoppierte.

Worauf der Kapitän sich lachend verabschiedete und genauso schnell wie er aufgetaucht war, in der Dunkelheit verschwand.
 
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43.

„Auf eine glückliche und friedliche Heimkehr, Ali.“

Der Shrenk sprach feierlich und prostete ihr zu.

Die Westerdam hatte Fort Lauderdale hinter sich gelassen und nahm non- stopp Kurs nach Europa.

„Ich gestehe, Werteste, ihr gefällt mir als Frau immer mehr. In einem Kleid kommt eure Schönheit richtig zur Geltung!“ Und das verwirrt mich ein bisschen, dachte er. So hoffe ich, dass der Whisky mich wieder ins Gleichgewicht bringen wird. „Cheers, Ali.“

„Seht ihr, Shrenk, niemand hat von unserer Verwandlung etwas bemerkt.“

„Hm. Und der Kapitän.“

„Ach egal, in Fort Lauderdale wurde ein Groβteil der Mannschaft ausgetauscht, so dass wir nicht aufgefallen sind.“ Ein zufriedenes Lächeln zeigte sich auf ihrem Gesicht. „Wir sitzen im Crows Nest, aber völlig unerkannt, denn unser Lieblingskellner ging ebenfalls in Fort Lauderdale von Bord.“

Der Shrenk war eindeutig gefangen von Alis neuem Outfit. Oder sagt man besser befangen? Immer wieder ertappte er sich dabei, wie sein Blick auf ihrem Gesicht und ihrem Kleid ruhte. Wie hatte Ali es geschafft, sich so zu verwandeln? Fragte er sich, während ihm abwechselnd heiβe und kalte Schauder über den Rücken liefen. Ihre Augen wurden von leicht getuschten Wimpern und dunkelblauem Lidschatten umrahmt und ihre Lippen leuchteten verführerisch in Kirschrot.

„Seid ihr euch jetzt wirklich sicher, kein Kameltreiber mehr zu sein?“

Der Shrenk konnte es nicht so recht glauben, dass seine Psychoanalyse endlich erfolgreich war. Aber vor ihm saß eine bezaubernde Frau mit kurz geschnittenem blonden Haar, in einem schwarzseidenen Kleid, der Soff so dünn wie ein Hauch und mit tausenden von kleinen Blüten in Rosa und Silbernen Stickereien darauf. Hm. Überlegte der Shrenk, sind es Blüten oder sind es Schmetterlinge? Aber es war vor allem das tiefe Dekolleté ihres Kleides, das machte ihm Schmetterlinge in den Bauch.

„Ja, Doktor. Warum fragt ihr? Ihr habt euch doch auch in einen englischen Gentleman zurückverwandelt und tragt nur noch diesen marineblauen Blazer und blütenweiβe Hemden.“ Ali deutete zu den großen Fenstern und meinte gelassen: „Ihr solltet besser den Sonnenuntergang bewundern statt auf mein Dekolleté zu schielen.“

Der Shrenk räusperte sich verlegen. Beide schwiegen und nippten an ihren Gläsern. Ali trank einen Tequila Sunrise und der Shrenk einen Scotch Whisky, den er sich gerne am späten Nachmittag im Crows Nest zusammen mit Ali genehmigte. Der Whisky entspannte ihn zunehmend. Die Zeit in Saudi Arabien schien in weite Ferne gerückt. In den Träumen ritt der Shrenk oft auf Suleika durch die Rub-Al-Khali. Dann war da noch die besonders aufmerksame Behandlung der Offiziere an Bord, die er genoss. Die Offiziere, die weiterhin darüber rätselten, was er und Ali mit Karim Bin Awad zu tun hatten, dem Milliarden schweren Saudi aus Dschidda. Der Shrenk ließ sich von der Stimme Ella Fitzgeralds hinweg tragen, während die Sonne im Meer unterging.

Vertieft in die Schönheit des Sonnenuntergangs, nahmen der Shrenk und Ali keinerlei Notiz von zwei Männern am Nachbartisch. Erst als diese ein leises Gespräch in Arabisch begannen, wurde Ali aufmerksam. Was sie hörte, war ohne jeden Zweifel beunruhigend. Ali schielte vorsichtig zu den Männern herüber und hörte, wie der Mann in der schwarzen Lederjacke und mit grauem Stoppelbart sagte:

„Der Plan steht. In Vier Tagen auf der Brücke. Hassan hat bereits mit seiner Arbeit begonnen. Wir müssen vorsichtig sein.“

Ali schwenkte ihr Cocktailglas hin und her.

„Wo wollen wir heute speisen, Doktor? Ich könnte ein Steak vertragen.“

„Eine gute Idee. Ich schlage den Pinnacle Grill vor.“,

Ali konzentrierte sich weiterhin auf das Gespräch des Nachbartisches. Als sie Kapitän, …Geiseln… hörte, verdichteten sich ihr Verdacht. Wer käme auch auf die Idee, dass ich arabisch verstehe, dachte sie. Sie wand sich leise zum Shrenk: „Ihr bleibt hier sitzen und blickt nicht zu den zwei Männern am Tisch neben uns. Falls die Beiden aufstehen, so folgt ihr ihnen unauffällig. Ich muss rauskriegen, welche Kabinennummer sie haben. Habt ihr das verstanden, Doktorchen?“

„Nennt mich nicht immer Doktorchen!“

„Darüber reden wir später. Ich ziehe mir etwas anderes an, damit ich eure Sinne nicht so durcheinanderbringe. Sie lächelte kokett. „Hört bitte genau hin, Doktor“, raunte sie ihm zu: „Falls ihr den Beiden nachher folgt und unterwegs mir begegnet, so schaut mich nicht an und tut so, als kennt ihr mich nicht. Verstanden?“ Der Shrenk nickte.

„Ihr überlasst die Verfolgung mir. Habt ihr das auch verstanden?“ Der Shrenk nickte, aber in seinem Gesicht standen hundert Fragen.

„Wir treffen uns später in unserer Kabine. Dort erkläre ich euch alles.“Der Doktor nickte abermals. Ali erhob sich und verlieβ den Salon.

Was will Ali nur von diesen Männern? Da fiel ihm auf, dass sie Arabisch sprachen und er bekam ein seltsames Gefühl. Erinnerungen an Saudi Arabien kamen hoch. Ihm schauderte. Ich muss mich zusammennehmen, überlegte er. Die Panik die da in mir hochsteigt, ist völlig irrational und hat nichts zu bedeuten. Er winkte dem Kellner mit seinem leeren Glas und bestellte einen weiteren Whisky. Dann durchdachte er die Situation: Denken in dynamischen Konfigurationen, darum geht es ja immer wieder. Hm. Und um die Orientierung an und in Beziehungen. Er trank einen groβzügigen Schluck Whisky und widmete sich erneut seinem Thema: Das Erschlieβen und Mitgestalten von Inszenierungen ist für die psychoanalytische Praxis wesentlich. Bei unbewussten Konflikten auf hohem Integrationsniveau der Persönlichkeit, ist die Analyse von Wunsch und Abwehr durchaus empfehlenswert.

Ein wenig entspannter lehnte sich der Shrenk zurück und beobachte den Himmel, die Nacht war gekommen. Die Araber am Nebentisch unterhielten sich leise. Das Gefühl im Bauch meldete sich erneut wie eine schrille Alarmglocke. Eben dachte ich noch, Saudi Arabien sei Lichtjahre entfernt, und nun holt es mich wieder ein. Der Doktor sah auf die Uhr, eine halbe Stunde ist vergangen und ich mache mir Sorgen und frage mich, was hat Ali mit den beiden Fremden zu tun?

Die Männer winkten dem Kellner und unterschrieben ihre Rechnung. Der Shrenk beeilte sich, es ihnen gleich zu tun. Als sich die Beiden erhoben, folgte er ihnen. Ali wartete vor den Aufzügen. Sie hatte sich völlig unkenntlich gemacht: weiβe Schirmkappe, Shorts und hellblau-weiβ gestreiftes T-Shirt.

Die Araber nahmen keinerlei Notiz von ihr. Als sich die Fahrstuhltür öffnete, betraten alle gemeinsam den Lift. So wie abgemacht, würdigte der Doktor Ali keines Blickes und verliess den Lift auf Deck acht. Ali fuhr mit den Männern weiter nach unten. Auf Deck sieben kamen noch weitere Fahrgäste dazu. Auf Deck sechs, verlieβen die Männer den Fahrstuhl, gefolgt von Ali. Sie nahmen den Gang nach links. Ali hatte Glück. Gleich am Anfang des Ganges, vor der ersten Kabine blieben sie stehen. Ali wandte sich dem Gang rechts zu und wartete kurz. Sie hörte wie die Beiden redeten und dann, wie die Tür der Kabine zufiel. Sie schlich sich zu der Tür und prägte sich die Kabinennummer ein: Kabine 6052.
 
43.

„Auf eine glückliche und friedliche Heimkehr, Ali.“

Der Shrenk sprach feierlich und prostete ihr zu.

Die Westerdam hatte Fort Lauderdale hinter sich gelassen und nahm non- stopp Kurs nach Europa.

„Ich gestehe, Werteste, ihr gefällt mir als Frau immer mehr. In einem Kleid kommt eure Schönheit richtig zur Geltung!“ Und das verwirrt mich ein bisschen, dachte er. So hoffe ich, dass der Whisky mich wieder ins Gleichgewicht bringen wird. „Cheers, Ali.“

„Seht ihr, Shrenk, niemand hat von unserer Verwandlung etwas bemerkt.“

„Hm. Und der Kapitän.“

„Ach egal, in Fort Lauderdale wurde ein Groβteil der Mannschaft ausgetauscht, so dass wir nicht aufgefallen sind.“ Ein zufriedenes Lächeln zeigte sich auf ihrem Gesicht. „Wir sitzen im Crows Nest, aber völlig unerkannt, denn unser Lieblingskellner ging ebenfalls in Fort Lauderdale von Bord.“

Der Shrenk war eindeutig gefangen von Alis neuem Outfit. Oder sagt man besser befangen? Immer wieder ertappte er sich dabei, wie sein Blick auf ihrem Gesicht und ihrem Kleid ruhte. Wie hatte Ali es geschafft, sich so zu verwandeln? Fragte er sich, während ihm abwechselnd heiβe und kalte Schauder über den Rücken liefen. Ihre Augen wurden von leicht getuschten Wimpern und dunkelblauem Lidschatten umrahmt und ihre Lippen leuchteten verführerisch in Kirschrot.

„Seid ihr euch jetzt wirklich sicher, kein Kameltreiber mehr zu sein?“

Der Shrenk konnte es nicht so recht glauben, dass seine Psychoanalyse endlich erfolgreich war. Aber vor ihm saß eine bezaubernde Frau mit kurz geschnittenem blonden Haar, in einem schwarzseidenen Kleid, der Soff so dünn wie ein Hauch und mit tausenden von kleinen Blüten in Rosa und Silbernen Stickereien darauf. Hm. Überlegte der Shrenk, sind es Blüten oder sind es Schmetterlinge? Aber es war vor allem das tiefe Dekolleté ihres Kleides, das machte ihm Schmetterlinge in den Bauch.

„Ja, Doktor. Warum fragt ihr? Ihr habt euch doch auch in einen englischen Gentleman zurückverwandelt und tragt nur noch diesen marineblauen Blazer und blütenweiβe Hemden.“ Ali deutete zu den großen Fenstern und meinte gelassen: „Ihr solltet besser den Sonnenuntergang bewundern statt auf mein Dekolleté zu schielen.“

Der Shrenk räusperte sich verlegen. Beide schwiegen und nippten an ihren Gläsern. Ali trank einen Tequila Sunrise und der Shrenk einen Scotch Whisky, den er sich gerne am späten Nachmittag im Crows Nest zusammen mit Ali genehmigte. Der Whisky entspannte ihn zunehmend. Die Zeit in Saudi Arabien schien in weite Ferne gerückt. In den Träumen ritt der Shrenk oft auf Suleika durch die Rub-Al-Khali. Dann war da noch die besonders aufmerksame Behandlung der Offiziere an Bord, die er genoss. Die Offiziere, die weiterhin darüber rätselten, was er und Ali mit Karim Bin Awad zu tun hatten, dem Milliarden schweren Saudi aus Dschidda. Der Shrenk ließ sich von der Stimme Ella Fitzgeralds hinweg tragen, während die Sonne im Meer unterging.

Vertieft in die Schönheit des Sonnenuntergangs, nahmen der Shrenk und Ali keinerlei Notiz von zwei Männern am Nachbartisch. Erst als diese ein leises Gespräch in Arabisch begannen, wurde Ali aufmerksam. Was sie hörte, war ohne jeden Zweifel beunruhigend. Ali schielte vorsichtig zu den Männern herüber und hörte, wie der Mann in der schwarzen Lederjacke und mit grauem Stoppelbart sagte:

„Der Plan steht. In Vier Tagen auf der Brücke. Hassan hat bereits mit seiner Arbeit begonnen. Wir müssen vorsichtig sein.“

Ali schwenkte ihr Cocktailglas hin und her.

„Wo wollen wir heute speisen, Doktor? Ich könnte ein Steak vertragen.“

„Eine gute Idee. Ich schlage den Pinnacle Grill vor.“,

Ali konzentrierte sich weiterhin auf das Gespräch des Nachbartisches. Als sie Kapitän, …Geiseln… hörte, verdichteten sich ihr Verdacht. Wer käme auch auf die Idee, dass ich arabisch verstehe, dachte sie. Sie wand sich leise zum Shrenk: „Ihr bleibt hier sitzen und blickt nicht zu den zwei Männern am Tisch neben uns. Falls die Beiden aufstehen, so folgt ihr ihnen unauffällig. Ich muss rauskriegen, welche Kabinennummer sie haben. Habt ihr das verstanden, Doktorchen?“

„Nennt mich nicht immer Doktorchen!“

„Darüber reden wir später. Ich ziehe mir etwas anderes an, damit ich eure Sinne nicht so durcheinanderbringe. Sie lächelte kokett. „Hört bitte genau hin, Doktor“, raunte sie ihm zu: „Falls ihr den Beiden nachher folgt und unterwegs mir begegnet, so schaut mich nicht an und tut so, als kennt ihr mich nicht. Verstanden?“ Der Shrenk nickte.

„Ihr überlasst die Verfolgung mir. Habt ihr das auch verstanden?“ Der Shrenk nickte, aber in seinem Gesicht standen hundert Fragen.

„Wir treffen uns später in unserer Kabine. Dort erkläre ich euch alles.“Der Doktor nickte abermals. Ali erhob sich und verlieβ den Salon.

Was will Ali nur von diesen Männern? Da fiel ihm auf, dass sie Arabisch sprachen und er bekam ein seltsames Gefühl. Erinnerungen an Saudi Arabien kamen hoch. Ihm schauderte. Ich muss mich zusammennehmen, überlegte er. Die Panik die da in mir hochsteigt, ist völlig irrational und hat nichts zu bedeuten. Er winkte dem Kellner mit seinem leeren Glas und bestellte einen weiteren Whisky. Dann durchdachte er die Situation: Denken in dynamischen Konfigurationen, darum geht es ja immer wieder. Hm. Und um die Orientierung an und in Beziehungen. Er trank einen groβzügigen Schluck Whisky und widmete sich erneut seinem Thema: Das Erschlieβen und Mitgestalten von Inszenierungen ist für die psychoanalytische Praxis wesentlich. Bei unbewussten Konflikten auf hohem Integrationsniveau der Persönlichkeit, ist die Analyse von Wunsch und Abwehr durchaus empfehlenswert.

Ein wenig entspannter lehnte sich der Shrenk zurück und beobachte den Himmel, die Nacht war gekommen. Die Araber am Nebentisch unterhielten sich leise. Das Gefühl im Bauch meldete sich erneut wie eine schrille Alarmglocke. Eben dachte ich noch, Saudi Arabien sei Lichtjahre entfernt, und nun holt es mich wieder ein. Der Doktor sah auf die Uhr, eine halbe Stunde ist vergangen und ich mache mir Sorgen und frage mich, was hat Ali mit den beiden Fremden zu tun?

Die Männer winkten dem Kellner und unterschrieben ihre Rechnung. Der Shrenk beeilte sich, es ihnen gleich zu tun. Als sich die Beiden erhoben, folgte er ihnen. Ali wartete vor den Aufzügen. Sie hatte sich völlig unkenntlich gemacht: weiβe Schirmkappe, Shorts und hellblau-weiβ gestreiftes T-Shirt.

Die Araber nahmen keinerlei Notiz von ihr. Als sich die Fahrstuhltür öffnete, betraten alle gemeinsam den Lift. So wie abgemacht, würdigte der Doktor Ali keines Blickes und verliess den Lift auf Deck acht. Ali fuhr mit den Männern weiter nach unten. Auf Deck sieben kamen noch weitere Fahrgäste dazu. Auf Deck sechs, verlieβen die Männer den Fahrstuhl, gefolgt von Ali. Sie nahmen den Gang nach links. Ali hatte Glück. Gleich am Anfang des Ganges, vor der ersten Kabine blieben sie stehen. Ali wandte sich dem Gang rechts zu und wartete kurz. Sie hörte wie die Beiden redeten und dann, wie die Tür der Kabine zufiel. Sie schlich sich zu der Tür und prägte sich die Kabinennummer ein: Kabine 6052.

Jetzt wird es noch einmal spannend! :)
 
44.

„Oh Ali, was sollen wir tun?“, fragte der Shrenk und begann sich zu schütteln, so wie damals, als es um die Höhlen von Wasiristan ging. Nur fiel das Wort Wasiristan nicht, und das verwirrte ihn noch mehr. Also beschloss er besser mit der Schüttelei aufzuhören und die Lage einer Analyse zu unterziehen. Ali schritt ganz in ihre Gedanken vertieft die Kabine auf und ab und gab dem Shrenk keine Antwort. Im Gegensatz zu der Gefängniszelle in Al-Madina, war die Kabine äußerst luxuriös und sogar geräumig, aber die Situation in die sie hineingerieten, schien diesmal weitaus gefährlicher.

„Wir tragen eine hohe Verantwortung, Doktor“, rief sie ihm zu, aber keine Reaktion. Als Ali zum Shrenk sah, hatte er gerade seine Brille abgenommen und putzte sie sorgfältig.

Aha, dachte Ali. Jetzt arbeitet es wieder in ihm. Ohne Bart sieht der Doktor dem Woody Allen täuschend ähnlich. Nicht dass er in Wirklichkeit womöglich…

„Ähm.“, begann der Shrenk mit heiserer Stimme und setzte sich seine Brille erneut auf. „Tarnung, Täuschung, Selbsttäuschung? Die lohnen sich langfristig nicht. Der seelische Haushalt sollte sich verstärkt an das Training derjenigen Kompetenzen, die kognitive, soziale und emotionale Wahrnehmungen verbessern, halten und so unbewusste Vorgänge sensibilisieren.“

„Shrenk, wollt ihr die beiden Unbekannten auch in eure Therapie mit einbeziehen?“

„In der Tat. - Nun Ali, ist es so, dass die Situation des Unbehagens, der Angst und Bedrohung, in die man geraten ist, sich gewöhnlich nicht sofort analysieren lässt und schon gar nicht auf ihre zentralen Problempunkte hin bestimmt werden kann. Es geht also zunächst darum, den Punkt der maximalen Schwierigkeit auszumachen und dort anzusetzen.“

Ein zufriedenes Lächeln breitete sich auf des Doktors Gesicht aus. Es war einmal wieder eine jener Situationen, wo die Gefahr drohend über ihnen schwebte, der Shrenk aber sich glücklich schätzte, weil er gerade den Stein der Weisen gefunden zu haben schien. Und darum musste Ali trotz allem lachen. Sie war gespannt, was der Doktor noch für weise Ratschläge parat haben würde von seinem Sigmund Freud.

„Ihr könnt ruhig lachen, Werteste. So wie ich die Situation an Bord einschätze, geht es darum, die schlimmstmögliche Entwicklung in der Vorstellung zu entwerfen.“

„Das ist nichts Neues, der Gefahr sollten wir ins Auge blicken! Anderseits könnte dies negatives Programmieren sein.“

„Wir sollten auf jeden Fall die Risiken eines derartigen Ausgangs bestimmen und umgekehrt so die Chancen zu günstigen Ausgängen einzuschätzen. Es geht darum, sich die relevanten Informationen zu verschaffen und sich geeignete soziale und psychische Unterstützung zu sichern. Es geht zugleich um die Erarbeitung neuer Sichtweisen der Situation, um nicht in Angst und Enttäuschung zu verharren, und um das Ausloten von alternativen und innovativen Möglichkeiten einer neuen Zukunftsgestaltung.“

„Shrenk, ihr scheint euch einmal wieder zu Höchstleistungen aufzuschwingen.“ Ali hatte sich inzwischen von ihrem Lachanfall beruhigt. „Aber in vier Tagen erfolgt der Zugriff der Terroristen, Doktorchen.“

„Ihr sollt mich nicht Doktorchen nennen. Auch wenn wir schon zusammen um ein Kamelmistfeuer saβen, heiβt das noch lange nicht, daβ ihr meine Autorität untergraben könnt!“

„Das würde ich nicht so sehen, aber das ist jetzt nicht wichtig.“ Ali begann erneut in der Kabine auf und ab zu gehen. „Es muss sich um mehrere Männer handeln, die Beiden sprachen von einem Hassan.“

„Es ist nicht ausgeschlossen, dass weitere Männer mit einem Schnellboot an Bord kommen. Wo sind wir Ali?“

„Östlich von Nordamerika.“

„Es ist jetzt nicht die Zeit für eure rechthaberischen Spielchen.“

„Doktor, ist doch ganz einfach. Wir sind vor drei Tagen in Fort Lauderdale ausgelaufen. Die Atlantiküberfahrt dauert neun Tage, bis Lissabon.“

„In der Tat, Ali. Zwei Tage vor Lissabon!“

Der Shrenk war erregt aufgestanden und begann nun auch, wie Ali die Kabine auf und ab zu schreiten.

„Ich vermute, dass während der Nacht in vier Tagen, ein Schnellboot von der Nordafrikanischen Küste. Hm.“

Der Shrenk war im Eifer des Gefechts mit Ali, genau vor der Sitzecke zusammengestoβen.

„Von Marokko!“, entfuhr es Ali. „Sagt mal Doktor. Könnt ihr nicht aufpassen?“

Statt einer Antwort, lieβ sich der Shrenk seufzend auf das Sofa fallen.

„Shrenk, wie sollen wir vorgehen?“

Der Shrenk dachte angestrengt nach. „Wenn es sich um Störungen mit fragilem Integrationsniveau handelt“, begann er zögernd. „Ein fragiles Integrationsniveau, in deren Zentrum eine aggressive und destruktive Dynamik steht, stehen interaktionelle Techniken zur Verfügung.“

„Doktor, was ihr da gerade von euch gegeben habt gefällt mir ungemein“, entfuhr es Ali. „Ich glaube, wir könnten auch genauso gut unsere Kamele befragen.“ Ali blieb vor dem Barschrank stehen, sie bereitete zwei Gläser mit Scotch und Eiswürfeln und reichte eines dem Shrenk. „Hier, Doktorchen, trinkt erst mal. „Wir haben genau vier Tage.“ Nachdenklich schwenkte sie das Glas. „Somit haben wir zwei Tage Spielraum, die Angelegenheit selbst in die Hand zu nehmen, den Sprengstoff zu finden. Und die gefährliche Situation mit Hilfe unserer Portugiesen zu lösen.“

„Erfahrung mit Terroristen haben wir. - Da kann uns keiner mehr was vormachen. Erst die Sammlung und Bündelung der eigenen Ressourcen, die Überzeugung von etwas, führt zur Sicherheit des vollen Erfolges, und zur Kampfentschlossenheit!“

„Bravo Doktor! Erst dann benachrichtigen wir den Kapitän! – Prost Doktor.“

Endlich einmal waren sich Ali und der Shrenk einig und tranken ihren Whisky in einem Zug aus.
 
45.

„Guten Tag Mister Omar Azzam “, begrüβte Miguel den Passagier von Kabine 6052. „Wir kommen wegen der der Klimaanlage. Sie haben angerufen?“

„Danke, dass sie endlich kommen. Die Luft hier drinnen wird immer stickiger. Ich bin nicht Omar und heiβe Ahmed. Omar ist mein Bruder.“

„Dann wollen wir nachprüfen, was nicht in Ordnung ist“, sagte Miguel und beeilte sich, das Armaturenbrett der Klimaanlage zu öffnen.

„Wir sollten auch im Bad nachsehen“, schlug Pedro vor. „Darf ich?“, fragte er höflichkeitshalber.

Ahmed nickte kurz und setzte sich zu Omar. Pedro machte sich im Bad am Lüftungsschacht zu schaffen. „Hier scheint alles in Ordnung zu sein!“, rief er Miguel zu.

„Hier kann ich auch nichts finden“, murmelte Miguel ratlos.

„Aha, der Lüftungsschacht ist stark verschmutzt!“ Pedro kam aus dem Bad zurück „Ich muss erst die Sauganlage holen. Das wird ein wenig Schmutz machen, so dass ich eine Reinigungskraft mitbringen werde.“ Pedro blickte auf die Uhr. „Was meinst du Miguel, es ist gleich Fünf Uhr. Unsere Reparatur dauert insgesamt eine knappe Stunde.“ Miguel nickte. „Mister Azzam, wir kommen in zehn Minuten wieder. Ich rate ihnen, dann die Kabine zu verlassen, die Absauganlage macht Lärm, den wir leider nicht vermeiden können.“

„Gut, einverstanden. Wir werden solange einen Kaffe trinken.“

„Danke für Ihr Verständnis, Mister Azzam. Wir hoffen, das Problem so schnell wie möglich zu beheben.“
 
46.

In der Kabine 372 auf Deck E, war die Stimmung angespannt. Der Shrenk aber lieβ es sich nicht nehmen, von dem köstlichen Portwein zu trinken, er war der Einzige, der ruhig der Dinge harrte, die da kommen sollten.

Anders der Rest der Gruppe, die sich bei jedem Besuch von Ali und dem Shrenk, erweitert hatte. Diesmal war Massoud der Mittelpunkt. Massoud war ein Freund von Manuel aus dem Maschinenraum und stammte aus Indonesien. Als Muslim verbrachte er ein Jahr in einer Koranschule in Kairo, und sprach perfekt Arabisch. Massoud hämmerte abwechselnd auf die Tasten seines Laptops, stoppte, und zwirbelte seinen kleinen Spitzbart. Kein Laut war in der Kabine zu hören, auβer der Tastatur des Laptops. Alle blickten gespannt auf Massoud. Massoud war, wie Manuel es vorsichtig bezeichnet hatte, mit auβergewöhnlichen Begabungen für Computer und Internet ausgestattet. Endlich brach Massoud die Stille und sagte leise:

„Wir haben jetzt eine Menge Informationen. Ich habe es geschafft, das Passwort von Omar Azzam zu knacken.“ Worauf der Shrenk sich einmischte: „Sagt man nicht hacken?“ Alle Köpfe wandten sich zum Shrenk.

„Geknackt oder gehackt, das ist das Selbe, Doktor“, antwortete Massoud. „Die Lage ist gefährlich. Ich habe jetzt freien Zugang zu Omar Azzams PC und kann seine emails lesen. - Omar Azzam und sein Bruder gehören einem Netzwerk der Al-Quaeda an, das sich Revolution des heiligen Dschihad nennt.“

„Revolution symbolisiert unkontrollierte, aggressive Abreaktion seelischer und körperlicher Spannungen!“, unterbrach ihn der Shrenk krächzend. „Es liegt auf der Hand, dass bei diesen Dschihadhis wichtige Bedürfnisse durch Hemmungen, Minderwertigkeitsgefühle und Verdrängungen unbefriedigt geblieben sind, so müssen dann gefährliche Mangelerscheinungen auftreten!“

Niemand sagte etwas, was den Shrenk ermutigte seine Rede fortzuführen:

„Und schlieβlich lösen sich die teils bewussten und teils unbewussten Triebstauungen in Gewalt und selbstzerstörenden Entladungen gestauter Energie aus!“

„Was hast du noch herausgefunden, Massoud?“, fragte Ali. Sie blickte missbilligend zum Shrenk und rutschte auf ihrem Hocker unruhig hin und her.

„Die gute Nachricht ist, dass von ihrer Terrorzelle nur drei Männer an Bord sind: Omar, Ahmed und Hassan. Der Kontakt läuft über Internet. Ein Teil der Gruppe hält sich in Algerien versteckt und hat vor, unser Schiff in genau zwei Tagen mit einem Schnellboot zu stürmen. So wie ich es verstanden habe, sind es insgesamt Dreiβig Mann.“

„Nachdem wir die Azoren passiert haben.“, überlegte Ali laut. Sie hatte es nicht mehr auf ihrem Hocker ausgehalten und schritt nun die Kabine auf und ab. „Wir haben den dritten Mann, diesen Hassan, immer noch nicht ausfindig gemacht. Wo hat er sich versteckt?“

„Die Brüder werden von uns rund um die Uhr beobachtet, aber anscheinend treffen sie sich nicht, um kein Aufsehen zu erregen“, sagte Pedro.

„Die Kommunikation mit Hassan wird auch über Internet geführt“, fuhr Massoud fort. „Wir müssen diesen Hassan ausfindig machen.“

„Wie sollen wir eine einzelne Person unter 1800 Passagieren finden?“ Ali sah Massoud und Manuel, fragend an. „Habt ihr irgendetwas Auffälliges im Maschinenraum bemerkt?“

„Auffälliges, was meint ihr?“

„Jemand der dort nichts zu suchen hat, beispielsweise.“

„Nichts!“

„Hm.“

„Ich bin noch nicht fertig!“, verkündete Massoud und zwirbelte an seinem Spitzbart.

Ali folgerte daraus, dass sein Bart den Herausforderungen mit heiligen Dschihadhis nicht gewachsen sein dürfte. Bis zum Zugriff der Terroristen, wird Massoud ihm sämtliche Haare rausgerissen haben!

„Der andere Teil der Gruppe hält sich auf den Azoren auf. Von dort ist geplant, mit dem Helikopter an Bord zu fliegen.“

„Bei Allah, dem Allmächtigen!“, entfuhr es Ali.

„Und beim heiligen Propheten Mohammed!“, murmelte der Shrenk.

„Und weiter?“ Ali blieb vor Massoud stehen. Massoud hämmerte erneut auf die Tastatur. „Genau! Hier ist es. Die Terrorgruppe Revolution des Heiligen Dschihad, hat eine Liste von Fünfundzwanzig Insassen des Guantanamo Gefängnisses aufgestellt. Ihre Bedingung an die Regierung von U.S.A. ist, diese freizulassen. Sonst würde die Westerdam mit allen Passagieren in die Luft gesprengt.“

„Das ist nicht möglich“, warf der Shrenk triumphierend ein. „Nicht einmal der gefährlichste aller Dschihadhis Mohammed, schafft das. Ein 82.000 Tonnen Schiff kann man sehr wohl versenken, aber niemals in die Luft sprengen!“

„Shrenk, genau das ist doch damit gemeint und wir müssen irgendetwas tun, aber was?“ Ali blickte auf ihre Uhr. Es war zwei Uhr morgens. Knapp zehn Stunden waren nach dem Mithören des Gesprächs von Omar und Ahmad, im Crows Nest verstrichen. Es blieben ihnen nur noch achtunddreiβig Stunden.

„In achtunddreiβig Stunden müssen wir den Kapitän unterrichten.“ Ali atmete einmal tief ein und aus. „Wir sollten schlafen gehen, das ist genauso wichtig wie alles Andere.- Wann treffen wir uns?“

„Morgen nach dem Mittagessen“, schlug Miguel vor. „Pedro überwacht derweil Omar und Ahmed.“

„Abgemacht. Vielleicht hat Massoud bis dahin weitere emails lesen können. Massoud, ich danke dir für deine Hilfe. Einen Hacker findet man nicht alle Tage.“ Massoud errötete leicht und lächelte.

„Darum meinte ich ja, gehackt“, warf der Shrenk ein. „Das Passwort von Omars PC wurde gehackt. Sonst wäre Massoud nicht ein Hacker, sondern ein Knacker.“

Ali sagte nichts darauf. Sie hatte inzwischen ganz andere Pläne…
 
47.

„Akhbar“, sprach Ali und streichelte ihn liebevoll. „Wo könnte dieser Hassan unbemerkt Sprengstoff deponiert haben? Denn darum wird es sich handeln, um Sprengstoff! Und vor allem, wie viel hat er an Bord schmuggeln können?“ Akhbar spitzte die Ohren und schien nachzudenken. Ali nahm eine Decke und kuschelte sich bei Akhbar ein. „Heute schlafe ich bei euch im Stall“, murmelte sie gähnend. „Vielleicht kommt mir ja durch euch eine Eingebung.“ Es war Viertel nach Vier, als sie endlich die Augen schloss und augenblicklich einschlief.

Akhbar hörte Ali tief und ruhig atmen und wusste nun was er zu tun hatte.

„Ali!“, hörte sie des Doktors Stimme. „So wacht doch endlich auf. Bei Allah dem Erbarmungsvollen. Unsere Kamele sind weg!“

„Was sagt ihr?“ Ali schoss hoch und rieb sich verschlafen die Augen. Ja, der Shrenk hatte Recht, die Kamele waren nicht im Stall. Aber das hatte sie insgeheim gehofft, dass Akhbar die Sache endlich mit in die Hand nehmen würde - oder sagt man in die Hufe?

Ali erhob sich leicht schwindlig.

„Wie spät ist es, Shrenk?“

„Fünf Uhr.“

„Los kommt, Doktor, wir müssen sie suchen.“

Worauf Ali zur Tür ging und sich eiligst zum Fahrstuhl aufmachte.

„Welches Deck, sollen wir zuerst absuchen, Ali?“

„Deck Zehn ist unseren Kamelen bekannt, da sie dort mehrmals hingebracht wurden.“

Ali drückte im Lift entschlossen auf den Knopf der Zehn. Oben angekommen, rannten beide zur Treppe die nach Deck Elf, zum Basketball Deck führte.

Plötzlich blieben Beide wie angewurzelt stehen. Vom unteren Deck drangen typische Kamelschreie. Ali zögerte keine Sekunde mehr und eilte die Treppe nach Deck Neun hinunter. Und was sich hier bot, das übertraf alles, was Ali und der Shrenk jemals auf ihrer Reise mit den Kamelen erlebt hatten!

Deck Neun, auch das Lido Deck genannt, war für das Fitness Center, die Thermalbecken, diverse Schönheitssalons und die Swimming Pools vorgesehen. Mittschiffs befand sich der groβe Lido Pool mit Restaurant, den Snack Bars und dem Büffet. Aber die Kamelschreie kamen von Achterbord, wohin Ali und der Shrenk hineilten.

„Wir hätten die Kamele baden sollen“, japste der Shrenk auβer Atem. „Dann wäre so etwas nicht passiert. Akhbar hatte einfach das Bedürfnis nach Wasser.“

Endlich erreichten sie den Ort des Geschehens:

Der Sea View Pool, umgeben von leeren Liegestühlen. Denn wer sollte um fünf Uhr morgens freiwillig ein Bad nehmen oder im Liegestuhl liegen?

Der Sea View Pool war aber auch von vier wild galoppierenden Kamelen umgeben. Ali kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Nicht die Kamele badeten, sondern ein einzelner Mann. In der Mitte des Pools schwamm er. Immer wenn er versuchte, aus dem Pool zusteigen, waren die Kamele zur Stelle und bissen ihn in die Hände oder schnappten nach seinem Arm. Der Mann war angekleidet und das war befremdlich genug.

„Akhbar!“, schrie Ali. Aber die Kamele waren zu sehr mit der Jagt auf den unfreiwilligen Schwimmer beschäftigt und reagierten nicht. Ali rannte zum Pool und gebot Akhbar Einhalt.

„Ihr könnt herauskommen“, forderte sie den Fremden auf. Argwöhnisch blickte er zu den Kamelen. Akhbar hatte inzwischen Halt vor der Leiter des Pools gemacht und wartete.

„Holt die Kamele weg!“, rief der der Mann verzweifelt. „Diese Viecher sind ja gemeingefährlich.“ Ali schüttelte den Kopf. „Keine Bange, sie werden euch nichts tun.“ Worauf der Mann leise „Allahu Akhbar“, vor sich hinmurmelte und zögernd aus dem Pool stieg. Akhbar wieherte, regte sich aber nicht. Ali wusste jetzt um wen es sich hier handelte: Hassan. Der Mann war erschöpft vor ihnen zusammen gebrochen.

„Gebt mir euren Gürtel. Schnell!“, bat Ali den Shrenk.

„Wollt ihr ihn durchpeitschen?“, fragte der Doktor besorgt und schnallte sich den Gürtel ab.

„Nein, Shrenk.“

Ali hatte dem Fremden blitzschnell die Arme auf dem Rücken gefesselt und ihm dann ihren Schal in den Mund als Knebel geschoben. „So, und jetzt kommt ihr mit uns. Los!“, forderte sie den Mann auf. Worauf sich die Kamelkarawane auf dem Weg zu den Fahrstühlen machte. „Ich fahre mit Suleika und Omar“, schlug der Shrenk vor. „Und ihr nehmt Akhbar, Miriam und den nassen Mann mit euch!“ Was Ali auch genau so befolgte. Schlieβlich war es inzwischen halb Sechs und die ersten sporthungrigen Passagiere konnten zum Jogging erscheinen. Das gäbe kein gutes Bild, ein tropfnasser Mann in unserer Gefangenschaft und dann noch Kamele, überlegte Ali, während der Fahrstuhl seinen Weg nach unten nahm. „Bei Allah dem Allwissenden! Allahu Akhbar.“ Endlich hielt der Lift. Zusammen mit Akhbar und Miriam, machte Ali sich so schnell wie möglich auf den Weg in Richtung des Kamelstalles. Akhbar schubste den Mann immer wieder an und biss ihn. Der Doktor erwartete sie vor der Tür. „Und was machen wir nun, Ali?“
 
„Was machen wir nun? Hm. Das ist eine gute Frage“, überlegte Ali laut. „Eines ist klar: Zum Schlafen ist jetzt keine Zeit. Was nicht klar ist, und das müssen wir herausfinden: Wo ist der Sprengsoff. Und die zweite Frage wäre: Wie nur, hat Akhbar diesen Hassan gefunden?“ Diesmal war es Ali, die sich am Hinterkopf kratzte, während sie den nassen Terrorverdächtigen in den Kamelstall bugsierte.

„In der Tat, Ali. Akhbar zu fragen, dürfte wenig Sinn haben.“

„Shrenk! Bei Allah dem Allmächtigen, es bleibt uns nichts anderes übrig, als Hassan auszupeitschen! Wir haben immerhin Erfahrung aus dem Gefängnis von Al-Madina, wie es gemacht wird.“ Ali stockte. „Ich meine, in welchem Takt und auch wie viel Hiebe!“ Hassan riss die Augen auf und starrte Ali hasserfüllt an.

„Mich persönlich interessiert besonders bei Hassan, ob es um die Umwandlung von verbotenen Triebwünschen in antisozial, beziehungsweise soziale Leistungen geht“, erwog der Shrenk. „Und! Es liegt auf der Hand, dass jede Neurose bekanntlich eine Form von Entfremdung ist. Sie ist immer der Vorstoβ auszubrechen aus der Faktizität einer realen Welt in eine fiktive Welt.“

„Shrenk, mit wie viel Peitschenhieben sollen wir starten?“, fragte Ali ungerührt. Sie fuchtelte mit der Kamelpeitsche ungeduldig herum. Worauf Hassan unverständliche Grunzlaute von sich gab. Was den Doktor zu weiteren Gedanken über die Psychoanalyse ermunterte, die er, gestört durch Hassans Grunzlaute, ein wenig lauter zum Besten gab:

„Ein Grund des Irrtums kann selbstverständlich auch darin liegen, dass die Wahrnehmungsobjekte der Realität nicht voll und ganz erkannt wurden, weil sie sich nicht im Sinnesbereich befanden!“
 
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Ali lieβ den ersten Peitschenhieb auf Hassan nieder sausen. „Eins!“ rief sie laut, um des Shrenks Redeschwall zu übertönen. Hassan war inzwischen still geworden. „Bei allen Dschinns der Hölle, ihr sagt uns sofort, wo ihr den Sprengstoff versteckt habt!“

„Es kann sich auch um schwerwiegende Irrtümer der Ignoranz handeln“, rief der Shrenk nun noch lauter Ali zu. „Das ist bei allen Menschen so gut wie unvermeidlich. Es geht da um die Ablenkung des Ich von der Wahrnehmung.“

„Zwei!“, rief Ali und versuchte dabei des Doktors Stimme zu übertönen. „Ich verstehe sowieso nichts von euren Gedanken und hier geht es darum, Hassan weichzuklopfen und sonst gar nichts!“

Die Kamele beobachteten Ali, den Shrenk und Hassan und dachten sich ihren Teil. Da fiel Ali ein, dass sie Hassan besser den Knebel aus dem Mund nehmen sollte. Wie sollte er sonst reden?

„Was bekanntlich zu ungenauen Wahrnehmungen und obendrein völlig unvollständige Denkabläufe ergeben kann. Das sind die typischen Irrtümer durch mangelnde Aufmerksamkeit“, rief der Shrenk, seine Stimme durch so viel Aufregung einmal wieder leicht krächzend.

„Shrenk! Es geht hier um Leben und Tod und ihr sprecht von falschen Denkabläufen!“, rief Ali erbost, während sie Hassan den Knebel aus dem Mund nahm.

„ Begreift ihr denn nicht?“ Der Doktor war nun auch aufgebracht und wurde Rot im Gesicht. „Ein wichtiger Punkt ist die Verdrängung – der endgültige Verlust eines seelischen Sachverhaltes aus dem Bewusstsein, in das eine Wiederkehr nicht möglich ist.“

„Drei!“ rief Ali ungehalten und schlug besonders kräftig zu. „Du bist ein Terrorist wirst mir endlich verraten, wo du den Sprengstoff versteckt hast!“

„An der Grenze vom Unbewussten ins Bewusstsein steht eine Zensur, die definitiv das Verdrängte passieren kann. Darum schweigt Hassan!“

„Vier!“, rief Ali. „Nach zwanzig Peitschenhieben, wird Hassan diese Grenze zum Unbewussten überschritten haben und uns erzählen, wo er den Sprengstoff versteckt hat!“, konterte Ali mit grimmiger Miene und fuhr fort auf Hassan einzudreschen.

Der Shrenk referierte weiter über die Tragik des Traumas und das Phänomen, dass sich der Patient nicht an den Ursprung erinnern will und Widerstand leistet. Hassan hingegen biss die Zähne zusammen und schwieg.
 
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