Kameltreiber Ali beim Psychiater

8.

„So beeilen sie sich doch Doktor!“, rief Ali dem Shrenk zu. Sie hatte beide Hände zu einem Trichter geformt um die Lautstärke zu erhöhen, aber der Wind war bereits zu einem lauten Brausen angeschwollen. Ali winkte dem Doktor mit verzweifelten Gesten, sich zu spurten.

Der Shrenk gab Suleika die Sporen, die sofort schneller ritt. Suleika wusste es längst: hinter ihnen am Himmel hatten sich dunkle Wolken aufgetürmt, Rotbraun und bedrohlich, und das bedeutete, dass ein Sandsturm, der gefürchtete Khamsim, sich näherte.

„Wir müssen unbedingt die Höhlen von Baqr-Salim erreichen, sonst sind wir verloren!“, rief Ali dem Doktor zu.

Sie ritten so schnell die Kamele es vermochten. Heftige Windböen, die ersten Vorboten des Sturmes, rissen an der weiβen Thobe des Shrenk. Sein Rotkariertes Kopftuch hatte er sich ganz vor das Gesicht gezogen und festgebunden. Ali hatte das gleiche getan, zwei abenteuerliche Gestalten, wie aus dem Film Lawrence von Arabien. Aber das hier war nicht Hollywood, das war bitterernste Realität! Es war noch früher Nachmittag, aber bereits dunkel, wie am Abend. Akhbar hatte inzwischen die Führung übernommen und ritt genau gen Osten. Vor ihnen am Horizont zeigte sich ein blasser Mond.

Dem Doktor war das philosophierende Denken vergangen. Ja, es schien ihm abhanden gekommen zu sein. Seine Gedanken kreisten pausenlos nur immer um das Eine: wir müssen die Berge von Baqr-Salim erreichen, dann sind wir in Sicherheit. Auf einmal ertappte er sich dabei, wie er ein Stoβgebet zu Gott sandte.

Ach, soll ich nicht besser zu Allah beten? Schlieβlich sind wir in Saudi Arabien, der Heimat des Propheten, erwog der Shrenk.

Da der Wind von hinten kam, brauchten die Kamele nicht gegen ihn ankämpfen. Der Wind im Rücken half ihnen, sich ihrem Ziel schneller zu nähern. In der Ferne tauchten endlich die lang ersehnten, wild gezackten Bergrücken des Baqr-Salim Massivs auf.

„Schneller Akhbar!“, schrie Ali.

Der Wind begann mit Angst erregenden Orgeltönen zu pfeifen, die sich anhörten, als kämen sie aus der Hölle.

Die Kamele keuchten, auch sie fürchteten sich vor dem Khamsim. Der Boden wurde flacher, vereinzelt wuchs karges, ausgebleichtes Steppengras und groβe Felssteine säumten den Weg. Es zeigten sich die ersten Ausläufer der Berge. Ali machte dem Doktor ein Zeichen, sich mehr rechts zu halten. Sie kannte die Höhlen und hatte hier schon mehrmals Unterschlupf gesucht. In hetzender Geschwindigkeit bogen sie in eine Felsenschlucht hinein.

Der Wind hatte hier teilweise nachgelassen. Das sollte nicht lange so bleiben, denn ein Sandsturm bahnte sich seinen Weg in jeden Winkel und in jede Ritze. Erleichtert lenkte Ali ihren Akhbar zum Höhleneingang. Der Shrenk und Suleika, gefolgt von den beiden Kamelen Miriam und Omar, bildeten die Nachhut. Ali holte eine Taschenlampe aus ihrer Satteltasche, betrat die Höhle und leuchtet in das Innere. Wütend orgelte der Khamsim drauβen weiter. 26

„Die Höhle ist groβ und besitzt mehrere Nebengrotten.“ Ali nahm die Ghutra vom Gesicht. „Wir sind in Sicherheit, lieber Doktor. Bis zu uns in die Höhle schafft es weder der Wind, noch der Sand.“

Der Lärm vom Sturm drang nur hin und wieder bis zu ihnen. Die Kamele hatten sich ängstlich aneinander gedrängt und verhielten sich still. Ali gab jedem eine Hand voll Hirse, die sie als Notration immer bei sich hatte. Dann suchten sie und der Shrenk nach brennbarem Material um Feuer zu machen. Beduinen hatten Kamelmist zurückgelassen und bald brannte das Feuer. Ali holte Wasser aus ihrem Lederbeutel und kochte Tee.

Der Doktor schlüpfte aus seinen Sandalen und nahm dankbar den Becher mit dem dampfenden Minzetee von Ali entgegen. Er bemerkte wie mitgenommen Ali aussah, aber ihrer Schönheit vermochte das nichts auszumachen. Die Augen wirkten durch die Anstrengung der letzten Stunde besonders dunkel und ihre Backenknochen stachen noch stärker hervor, verliehen ihrem Gesicht eine Wildheit, die ihn faszinierte.

„Wir sind grade noch mal mit dem Leben davon gekommen, werte Ali!“

„Ja, ich weiβ.“

„Ich habe zu Allah gebetet.“

„Das ist nicht ungewöhnlich.“

„Heute fühle ich mich glücklich.“

„Ja Doktor, ich auch.“

„Es ist bekannt, dass das Leben sehr schnell zu Ende gehen kann, aber Wissen ist nicht dasselbe wie Fühlen, meine Werteste.“

Ali rührte schweigend den Zucker in ihrem Becher um.

„Das was ich jetzt fühle ist ein wahres Glücksgefühl“, fuhr der Doktor fort. „Aber ich weiβ, dass es nicht von Dauer ist.“ Der Doktor trank einen Schluck Tee. „ Einige Patienten von mir, berichteten, wie sie dem Tod entkamen, aber sie schafften es nicht dieses Glücksgefühl zu halten. Schnell waren diese Patienten in ihre kleinen und groβen Sorgen des Alltags zurückgesunken. Also weiβ ich, dass ich zwar jetzt glücklich bin, aber dieses Glück nicht halten kann.“

Er blickte in das prasselnde Feuer. „Dieses Feuer schenkt uns Leben und Wärme. - Ich lebe, Ali! Wir leben, wir sind am Leben.“

Da erst bemerkte der Shrenk, dass Ali eingeschlafen war. Er nahm eine Decke und legte sie vorsichtig über sie. Akhbar war ganz dicht zu Ali heran gekrochen, und auch Miriam. Was für ein friedliches Bild, fand der Doktor. Dann schloss er die Augen und er dachte daran, dass es die Wüste sei, die ihn seiner selbst entleerte um ihn erneut zu füllen. Mit dem Licht, jenes Licht, dass die Steine Rot erleuchten lässt. Wie mit dem Flügelschlag eines Engels hast du, oh Allah diese roten Sandsteinberge erschaffen, die auf unsere Rettung warteten. Und er dankte Allah dafür, dass er lebte, einfach lebte. Mit einem Lächeln schlief er ein.
 
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9.

Als der Doktor erwachte, war es stockfinster. Langsam begann er sich an den gestrigen Tag zu erinnern, und dass sie in einer Höhle Unterschlupf vor einem herannahenden Khamsim, einem gewaltigen Sandsturm, fanden. Das Feuer war längst erloschen. Er tastete nach seiner Satteltasche und fand die Taschenlampe. Als erstes blickte er auf seine Armbanduhr, es war sieben Uhr morgens. Er lieβ den kleinen Lichtkegel der Lampe in der Höhle hin und her gleiten. Die Kamele und auch Ali schliefen. Warum sollten sie auch aufwachen? So ein Sandsturm kann zwei Tage lang wüten, hatte Ali gesagt. Aber der Shrenk war neugierig, so erhob er sich ein wenig steif und suchte den Weg nach drauβen. Nach einigen Schritten traf er auf hohe Sandberge, die der Wind in den Eingang der Grotte geweht hatte. Drauβen tobte der Sturm, die Böen zerrten wütend und pfiffen schrill in die Gesteinsmulden hinein. So machte er schnell wieder kehrt und legte sich zurück auf sein Lager.

Ihm fielen die Worte von Ali über das Höhlengleichnis von Plato ein: Dass der gewöhnliche Mensch im Alltag wie in einer Höhle lebt. Dann schlief er ein und träumte von der groβen Rub-Al-Khali, wie sie unter der Himmelskuppe seit Jahrtausenden leuchtet und weitere Jahrtausende leuchten wird. Die Sonne ging unter und Millionen Sterne erhellten den Nachthimmel. Die Milchstraβe von leuchtender Helligkeit, wie er sie vorher noch nie sah.

„DoktorShrenk!“ Der Doktor bemerkte, dass jemand an ihm rüttelte. Das kann nur Ali sein. Warum stört sie mich mitten im Schlaf, wunderte er sich.

„Aufwachen, es ist zwölf Uhr Mittags und da sollten wir etwas Essbares zu uns nehmen.“

Der Doktor schlug erstaunt die Augen auf und gähnte. Ali hatte bereits ein Feuer gemacht, es duftete nach Kaffee.

Der Shrenk setzte sich auf und rieb sich eingehend die steifen Glieder.

Ali fütterte erneut die Kamele mit ein wenig Hirse. Sie streichelte Akhbar über den Kopf, aber Akhbar brummte sie nur an. Er schien nicht zufrieden mit seiner Lage. So wandte sie sich dem Kessel zu, der auf dem Feuer brodelte.

„Noch eine viertel Stunde und wir können essen.“ Sie reichte dem Doktor einen Becher Kaffe und bot ihm von den Datteln an.

„Wie haben sie das herbeigezaubert? Hm. Es riecht schon wieder köstlich.“

„Ich habe die Linsen gestern Abend eingeweicht, es gibt Linseneintopf.“ Ali rührte mit einem groβen Holzlöffel im Kessel, gab ein wenig Paprika und eine kleinen Pfefferschote dazu, dann kostete sie und schüttelte den Kopf. „Es fehlt noch etwas Kumin und Nelke. Das wird ein Festschmaus nach unserem Fastentag gestern.“

„An Essen dachte ich gestern wirklich nicht mehr. Ich hatte es völlig vergessen. Was ist Kumin?“

„Ein typisches Gewürz des Nahen Ostens. Mann nennt es auch Kreuzkümmel.“

Der Shrenk nahm sich eine von den Datteln, die er mit Ali, im Oman bei einem der Händler im Souk von Salalah erstanden hatte. Er erinnerte sich, wie Ali um den Preis der Datteln gefeilscht hatte. Ausgerüstet mit genügend Proviant, waren sie dann über die Grenze nach Saudi Arabien in die Rub-Al-Khali aufgebrochen.

Der Shrenk, in bester Stimmung, trank gerade einen weiteren Schluck Kaffe. Da geschah etwas völlig unerwartetes:

Akhbar bäte drei Mal laut und eindringlich, und dann stürzte er sich auf Miriam und wollte sie begatten.

„Nein!“, schrie Ali auf. Aber Akhbar knurrte nur und biss Miriam in den Hals. Miriam wiederum war mit solchen Attitüden ihres liebsten Akhbar ganz und gar nicht einverstanden und fauchte ihn an:

„Seit Wochen war ich Luft für dich, und ausgerechnet jetzt in dieser gruseligen Höhle willst du über mich herfallen?“

Miriam wieherte auf. Sie drehte sich geschickt aus ihrer Lage und biss Akhbar in den Hals. Suleika blieb auch nicht untätig und eilte Miriam zu Hilfe. Sie stellte sich hinter Akhbar und schlug ihm mit den Hufen in sein Hinterteil, dann verbiss sie sich fest in Akhbars Schwanz und versuchte ihn von Miriam wegzuzerren. Worauf Akhbar laut auf wieherte und wie wild um sich schlug.

Ali schnappte sich ihren Kessel mit dem Linsen und brachte sich damit in einer Ecke der Höhle in Sicherheit. Dann rief sie zum Shrenk rüber:

„Bei Allah und seinem Propheten! So tun sie um Himmels Willen etwas. Egal was, Gestalt oder Psychoanalyse von Freud, aber ich habe Hunger und den will mir nicht durch Akhbars Lüsternheit verderben lassen. Therapieren sie sofort meine Kamele, Doktor Shrenk!!! Ich muss mich um den Eintopf kümmern.“

Der Shrenk stand ratlos vor dem Kamelaufruhr und kratzte sich am Kopf. „Hm“, murmelte er unentschlossen vor sich hin. „Akhbar scheint sexsüchtig zu sein, gepaart mit einem Machtkomplex, der wohl der Auslöser ist für seine Paarungswünsche und kompulsiven Aggressionsatacken ist.“

Er zwirbelte konzentriert an seinem Bart, und beobachtete Akhbar und Miriam, die sich am Boden wälzten. Die Beiden lieferten sich einen erbitterten Kampf. Wenn Akhbar bäte, so bäte auch Miriam. Die anderen Kamele blieben nicht untätig und stampften in ihren Eifer rücksichtslos über die Habseligkeiten von Ali und dem Shrenk.

Ali wachte mit Argusaugen über den Kessel mit den Linsen.

„So tun sie endlich was, Doktor!“

„Ich. Ähm, ja, plädiere für ein starkes Sedativum!“

„Wo denken sie hin? dann bleiben wir den Rest der Woche in dieser Höhle, weil die Kamele friedlich schlafen. Machen sie besser was mit Freud oder meinetwegen Adler, der hat es doch mit den Machtkomplexen.“

„Das geht aber nicht so schnell, ich müsste da erst einmal über die frühe Kindheit von Akhbar Bescheid wissen.“

„Gibt es da nicht eine schnellere Lösung?“

„Hm.“ Doktor Shrenk stellte sich vor Akhbar und blickte ihm mit groβer Bestimmtheit in die Augen, was nicht ganz einfach war, da Akhbar sich am Boden hin und her wälzte.

„Akhbar! Ich spreche jetzt deinen Zwilling in dir an. Ich beziehe mich nun nicht auf Miriam, auf die du projizierst!“ Akhbar bäte laut und bespuckte den Shrenk.

„Wir machen alle Mist, werter Akhbar. Das ist völlig normal, auch wenn es Kamelmist ist, wie du es nun einmal machst. Wir machen alle Mist, Akhbar.“ Der Doktor wischte sich geduldig die Kamelspucke aus dem Gesicht. Da er Akhbar mit festem Blick fixieren wollte, kam er seinem Kamelkopf sehr nah und so hatte ihn Akhbars Spucke voll ins Gesicht getroffen.

Aha, dachte der Shrenk. Die Übertragung hat schon begonnen, jetzt bin ich zu Akhbars Sündenbock geworden.

„So ist es gut, braver Akhbar. Auch ich mache Mist, und ich gestehe“, seine Stimme wurde nun merklich lauter. „Ich gestehe, dass ich mir selbst ein Paradox bin. Ich bin mir selbst etwas Fremdes und so auch du, Akhbar. Dein Zwilling ist es, er ist der ewige Sündenbock, dein Zwilling ist jener tragische Held von dem du nichts wissen willst und nicht Miriam.“

In diesem Augenblick versetzte Miriam, Akhbar erneut einen Tritt und Akhbar gab gekonnt einen Tritt zurück, der aber dem Shrenk sein linkes Schienbein traf.

„Au, au!“, schrie der Doktor und vollführte schmerzverzerrt eine Art Veitstanz.
 
„Ich wusste es! Ich wusste es!“ Ali fasste sich an den Kopf. „Wenn man noch kein Idiot war, so wird man garantiert beim Psychiater einer!“ Worauf sie den Kessel im Stich lieβ und zu Akhbar eilte und sich vor ihm hin stellte. „Jetzt hörst du mir mal zu“, brüllte sie ihn an. „Ich werde dir nun den 4. Teil des achtfachen Pfades aus dem Buddhismus vorsprechen, hast du das kapiert? Und wehe du befolgst das nicht, dann gibt es Hiebe: Rechtes Handeln heiβt Liebe und Gewaltlosigkeit zu entwickeln und niemandem Schaden zuzufügen. Dies führt zu heilsamem Handeln. Achtsames Handeln ermöglicht rechtes Handeln!“

Akhbar stutzte. Er verstand in etwa was Ali da sagte, aber viel wichtiger, er sah den groβen Kochlöffel, den Ali in ihrem Eifer in der Hand behalten hatte. Womöglich war es von ihr ein unbewusster, bewusster Sicherheitsmechanismus, reiner Selbsterhaltungstrieb? Jedenfalls lieβ der Löffel, mit dem Ali vor seiner Nase herumfuchtelte, das Blut in seinen Adern merklich abkühlen.

„Hast du das verstanden, Akhbar? Es geht um unseren Linseneintopf. Und hier gleich noch der 6. Teil des achtfachen Pfades:

Rechte Achtsamkeit bedeutet in den gegenwärtigen Augenblick zurückzukehren und alles zu akzeptieren ohne zu urteilen oder zu reagieren!“

Akhbar war nicht damit einverstanden, aber es blieb ihm keine andere Wahl, als Alis Rat zu befolgen. So kehrte er ihr ostentativ den Rücken zu und legte sich am Boden. Die Vorderläufe zog er brav ein, dann legte er seinen Kopf darauf und schloss lächelnd die Augen. Warte nur bis wir in der Wüste sind, dachte Akhbar, dort bin ich der Herr!

Der Shrenk war erleichtert, aber hatte nicht Ali was von Idioten verlauten lassen? Und das durfte er nicht auf der Gilde seines Berufes sitzen lassen, und sein Schienbein tat ihm weh.

„So! Das hätten wir!“, sagte Ali sichtlich zufrieden, und verteilte die Linsen auf die Teller. „Es geht nichts über den Buddhismus. Haben sie gesehen, was für eine durchdringende Kraft, Buddhas Worte auf Akhbar ausübten? Das war eine friedliche Lösung, ich bin immer wieder fasziniert über die Kraft Buddhas. Nicht einmal Akhbar konnte der Milde eines Buddhas widerstehen. - Hier, nehmen sie, Doktor.“

„Ich habe keinen Hunger, und auβerdem haben sie die Psychiater als Idiotenproduzenten beschimpft!“

„Ach Doktor! Es war ja auch eine höchst dramatische Situation. Das war doch gar nicht ich.“ Ali grinste den Shrenk unschuldig an. „Das war mein Zwilling. Jener tragische Troubadour.“

Der Shrenk rieb sich stöhnend sein rechtes Schienbein und meinte: „Na gut, dann will ich dieser tragischen Figur, die ja für sie unsichtbar ist, in ihnen vergeben.“ Hungrig nahm er seinen Teller entgegen und erfreute sich am Linsengericht.

„Wie war das noch mal mit Plato? - Plato und seine Ideenwelt, darüber können wir uns nach dem Essen unterhalten. Ich werde auch gleich einmal meinen Kopf zur Höhle herausstrecken um zu sehen, was der Sturm noch so alles vor hat und wie es ihm geht.“

Die Kamele waren müde nach dem Kampf und schliefen friedlich. Es war Ruhe eingekehrt. Akhbar träumte von der Wüste und der Freiheit. Miriam träumte von Akhbar, dass sie sich liebten, drauβen in den Weiten der Rub-Al Khali.
 
10.

„So langsam sollten wir uns darüber einigen, worum es überhaupt geht und warum wir ausgerechnet hier in dieser unwirtlichen Wüste gelandet sind“, meinte Ali, während sie sich daran machte, die letzten Sachen in ihre Satteltasche zu packen.

Der Khamsim war vorbeigezogen und die Kamele warteten startbereit. Doktor Shrenk wollte in den Sattel von Suleika steigen. Er bevorzugte inzwischen Suleika, die eine gute Zuhörerin war.

Wie die Geschichte mit Akhbar und Miriam weitergehen würde, war nicht vorauszusehen, denn bei Miriam und Akhbar, half keine Psychoanalyse dieser Welt. Diese seelische Verbindung von Miriam und Akhbar überstieg bei weitem seine Kompetenz. Die Frage, ob der Mensch überhaupt eine unsterbliche Seele habe, war für ihn nicht von Bedeutung, er glaubte nicht daran. Für ihn gab es ein Ich und ein Über-Ich, und ein Es, aber wie das bei Kamelen war?

Plötzlich drangen mehrere Männer in die Höhle. Sie waren in schwarze Thoben gekleidet und trugen darüber gefütterte schwarze Westen. Abgesehen davon, dass alle dichte Vollbärte hatten, waren sie schwer bewaffnet, und sahen aus wie Talibankämpfer aus Afghanistan. Einer von ihnen bedrohte den Doktor mit einem Dolch. „Hände hoch!“, befahl er barsch und funkelte den Doktor mit seinen dunklen Augen an. Vor Ali hatte sich ein anderer aufgepflanzt und bedeutete ihr mit einem Kopfnicken abzusteigen.

„Was wollt ihr von uns?“, fragte Ali.

„Wo kommt ihr her, ihr seid Fremde?“ Der Mann spuckte verächtlich aus.

„Mein Name ist Ali und ich bin es gewohnt, höflich behandelt zu werden. Wir haben nichts, auβer ein paar Datteln und Nahrungsmitteln.“ Ali blickte sich um und zählte fünf Männer. „Ich möchte mit eurem Anführer sprechen.“

„Ihr könnt mich Mohammed nennen. Ich erteile diesen Männern hier keine Befehle, sie sind meine Freunde, aber seht in mir so etwas wie einen Befehlshaber.“, rief einer der Männer Ali zu. „Falls du denkst, wir seien Wüstenräuber, so hast du falsch gedacht.“

Die Männer verzogen keine Miene während sie Ali und dem Doktor Fesseln anlegten und dann auf die Kamele verfrachteten.

„Ihr kommt mit uns!“, rief Mohammed, worauf sich alle in Richtung Höhlenausgang in Bewegung setzten.

Drauβen warteten weitere zehn Männer auf ihren Kamelen und musterten Ali und den Doktor neugierig.

„Wir reiten los!“, rief Mohammed und preschte voran. Die gesamte Karawane setzte sich in Gang. Ali hielt sich neben dem Doktor. „Na, das kam völlig unerwartet!“, machte sich Ali Luft.

„Was sind das für Leute?“

„Das werde ich bald herausfinden.“ Worauf sie Akhbar die Sporen gab und nach vorne zu Mohammed ritt.

„Was fällt dir ein, einfach zum Anführer zu reiten, Fremder?“, klang es wütend von den übrigen Männern. Aber Ali lieβ sich nicht einschüchtern und hielt Akhbar, neben Mohammed.

„Sobald du mir Auskunft darüber gibst, wer ihr seid und was ihr mit uns vorhabt, reite ich zurück zu meinem Freund.“

„Zuerst wirst du mir verraten, was ihr hier auf diesem heiligen Boden verloren habt.“ Mohammed sprach höflich und mit leiser Stimme. Er macht einen gebildeten Eindruck, dachte Ali überrascht.

„Der Doktor und ich kommen aus Europa und wir sind auf der Suche nach uns selbst.“

Mohammed sah Ali scharf an, strich nachdenklich über seinen Bart und begann zu lächeln. „Allahs Wege sind wundersam. Ihr sucht euch selbst? So etwas kann es nur in eurer dekadenten westlichen Welt geben. Aber, die Wege zu Allah sind oft wundersam genug. Dass ihr euer Heil in der Einsamkeit der Wüste sucht und wir auf euch trafen ist Kismet!“

„Allah ist groβ! - Wir sind Hadjis und auf dem Weg nach Makka. Makka die Mutter aller Städte!“

Mohammed hielt abrupt sein Kamel an. „Ihr seid Gläubige?“ Ali nickte. „Ich stamme aus dem Maghreb und habe auf Bitte des Doktors, diese Pilgerfahrt mit ihm unternommen. Der Doktor ist ein berühmter Psychiater und fand durch mich und die Wüste zu Allah.“

Er fand zwar erst vorgestern zu Allah, dachte Ali, aber was ist Zeit im groβen Atem der Ewigkeit?

„Wir haben uns mit unseren Kamelen in Tanger eingeschifft und sind von dort durch den Suez Kanal und das Rote Meer geschippert. Im Süden des Omans, gingen wir an Land, denn unser Wunsch war es, die Rub-Al-Khali zu durchqueren, um unsere Seelen zu läutern, bevor wir den heiligsten aller heiligen Orte aufsuchen. Gereinigt von unseren Sünden, wollen wir die Kaaba in Makka umrunden.“

Mohammed schwieg eine Weile. „Auch wir sind auf dem Weg nach Makka. Bitte seid unsere Gäste.“

„Eure Gäste, oder eure Gefangenen?“

„Heute Abend, nach dem Gebet, wenn wir am Feuer sitzen, sprechen wir über alles. Doch jetzt möchte ich dich bitten, zu deinem Doktor zurück zu kehren.“

Ali gab Akhbar die Sporen und ritt zum Shrenk zurück.

„Und?“ Der Doktor blickte Ali erwartungsvoll an.

„Wir ziehen gen Makka. Makka die Ehrwürdige wird uns empfangen, Doktor, denn wir sind von nun an Gäste dieser Wüstenkrieger.“

„Makka?“

„In Arabisch wird Mekka so genannt.“ Ali blickte sich vorsichtig um, die Männer unterhielten sich untereinander und waren zu weit entfernt, um etwas von ihrer Unterhaltung mit dem Doktor zu hören. „Doktor, wir sind Muslime. Das habe ich dem Anführer eben berichtet, und dass wir Hadjis seien.“

„Hadjis?“

„Hadjis sind Pilger auf dem Weg nach Makka.“

„Um Himmels Willen!“

„So beruhigen sie sich doch, Doktor. Erinnern sie sich, sie haben unlängst zu Allah gebetet.“

„Ja, aber. Hm.“

„Ach, das ist alles ganz einfach. Ihr macht immer genau das, was ich tue. Beim Beten murmelt ihr einfach vor euch hin. Nur mit dem Pinkeln.“ Ali kicherte leise. „Diese Männer denken, ich sei ein Mann, und dabei möchte ich es belassen, ich bin Ali der Kameltreiber.“

„Nun, Ali. Ich bin Dank meiner Religion als Kind beschnitten worden, aber ich bin nicht unbedingt ein Muslim, ganz im Gegenteil.“ Des Doktors Stimme zitterte. „Wenn diese göttlichen Gotteskrieger herausfinden dass ich Jude bin, so…“ Der Shrenk stockte. „Und den Koran kann ich auch nicht auswendig zitieren, eher Ein Abriss der Psychoanalyse von Freud.“ Des Doktors Stimme klang besorgt.

„Das was wir hier gerade erleben ist ein richtiges Abenteuer. Wir bekommen die Gelegenheit, die für die Ungläubigen, verbotenen Städte zu besuchen. Niemand wird eure wahre Herkunft erfahren, Doktor. Auβerdem besitzen sie einen englischen Pass, keine Sorge. Vertrauen sie mir einfach.“

Der Doktor blickte Ali mit gequältem Lächeln an. „Womöglich hat bald unser letztes Stündlein geschlagen. Diese finsteren Burschen, Wüstenkrieger, nannten sie diese gerade, ähm, Gotteskrieger, eben Krieger, und wir auf der Pilgerfahrt mit denen gen Makka. Allah sei uns gnädig, ähm, Gnädigste.“

„So schweigen sie!“, fauchte ihn Ali an. „Ich bin ein Mann und keine Gnädigste. Doktor, sie sind ein berühmter Psychiater und zum Islam übergetreten. So habe ich es dem Anführer erzählt.“

„Hm.“

„Ja, so ist es gut. Hm ist schon besser. Wir sind in die Wüste gezogen, um das Denken abzuschalten, und nun auch noch das Reden.“

„Hm.“

„Ich werde das Gefühl nicht los, dass diese finsteren Männer noch viel mehr verbergen als wir vermuten. Ihr Anführer Mohammed, er kommt mir bekannt vor.“

„Das ist doch völlig unmöglich. Wie sollten sie diesen Mann kennen?“

„Die schmale Nase, ja und auch die Augenpartie, seine dunklen Augen und dieser charismatischer Blick. Hm. Sein lang gezogenes Gesicht, er erinnert mich an jemanden, aber ich weiβ nicht an wen…“

„Hm.“ Der Shrenk zwirbelte einmal wieder seinen Bart und überlegte angestrengt.

„Wichtig ist auch, dass Akhbar und Miriam sich ordentlich benehmen“, sprach Ali leise. Akhbar spitzte die Ohren, beschloss aber zu schweigen, Akhbar hatte längst die Situation erkannt, er wusste genau wer jener Mohammed war.
 
11.

Die Nacht hatte sich über die Karawane gesenkt, die ersten Sterne funkelten am Himmel.

Ali und der Doktor saβen neben Mohammed vor dem Feuer und tranken Tee. Man hatte ihnen die Fesseln längst abgenommen. Zusammen hatten sie ihre Gebete verrichtet und wurden von Mohammed als Muslime akzeptiert. Es schien ein friedlicher Abend zu werden. Die Kamele weideten in der Nähe und hatten sich mit den übrigen Kamelen der Karawane bekannt gemacht. Einige der Männer waren damit beschäftigt Lamm auf Spieβen über einer entfernten Feuerstelle zu braten und unterhielten sich. Der Wind brachte immer wieder den verlockenden Geruch von gebratenem Fleisch zu ihnen herüber. 36

„ Ich bin ein Diener von Allah!“, begann Mohamed das Gespräch mit Ali und dem Shrenk. „Darum befolgen meine Männer und ich, die Gesetze des Ramadan. Wer sich im Dschihad befindet braucht nicht zu fasten, wir nehmen trotzdem erst nach Sonnenuntergang unsere erste Speise zu uns. In zwei Tagen erreichen wir Makka und es ist uns eine Ehre, euch wohlbehalten dort hin zu geleiten.“

„Danke für eure Gastfreundschaft“, sagte Ali. „Ich danke Allah. Allah Ar-Rashid ist unser Führer und Herr über unser aller Schicksal!“

Mohammed blickte zu Ali. „Auch ich bin mit meinen Männern in der Wüste, um Kraft zu schöpfen für unsere Mission in dieser Welt.“

Ali schwieg. Sie wusste genau, dass da noch was auf sie zukam und war gewappnet. Ali war der arabischen Sprache mächtig, wegen dem Shrenk, wurde das Gespräch in Englisch geführt.

„Einmal im Jahr, wenn Allahs Wille es zulässt, suchen wir die Rub-Al-Khali auf. Allah sei gepriesen, er hat uns in seiner Glorie mit euch zusammen geführt. Wir sind Gotteskrieger und befinden uns im Krieg. In der Zeit des Ramadan aber suchen wir in der Einsamkeit der Wüste jene Kraft, die wir brauchen und die wir sonst nur im Eintauchen in die Tiefen des Korans erhalten. Unser Koran ist wie ein unendliches Meer, unendlich und unerschöpflich.“

Zwei Männer näherten sich, stellten eine Schüssel mit Wasser hin, und Mohammed vollzog gemeinsam mit Ali und dem Shrenk, den Ritus des Händewaschens.

Darauf brachten die Männer Datteln und Fladenbrot.

“O Allah, um Deinetwillen habe ich gefastet und an Dich geglaubt und mit Deiner Versorgung breche ich das Fasten. Im Namen Allahs, des Allbarmherzigen, des Gnädigen”, betete Mohammed.

„Esst, im Namen Allahs, des Gnädigsten und Barmherzigen!“, forderte er auf. Worauf Mohammed, Ali und dem Shrenk eine Dattel reichte, um so den Fastentag offiziell zu beenden. Und das lieβen sich Ali und der Shrenk nicht zwei Mal sagen. „Nur mit der rechten Hand“, raunte Ali dem Shrenk zu und nahm eine Dattel, der Doktor machte das Gleiche.

Ali blickte sich suchend nach dem Lamm um, aber vergeblich. Mohammed huldigt den Ramadan mit bescheidener Kost, dachte sie und nahm sich noch eine Dattel.

Später tranken sie Kaffee und lehnten sich in ihren Kissen zurück. Der Mond ging gerade über den Dünen auf und verwandelte den Sand in ein silbrig schimmerndes Meer.

Da nahm Ali all ihren Mut zusammen und entschloss Mohammed eine Frage zu stellen, die ihr seit geraumer Zeit im Kopf herumging: „Mohammed, ihr habt uns noch nicht verraten, wer ihr seid. Ihr spracht von Gotteskriegern und Dschihad.“

„Wir sind Gotteskrieger und führen Dschihad gegen die Besatzer unseres reinen Landes der Zwei Heiligen Plätze.“

„Die Besatzer?“

Mohammed nickte. „Wir haben Amerika schon lange den Dschihad erklärt. Und führen ihn gegen dieses Land, solange, bis kein einziger Ungläubiger mehr auf diesem heiligen Boden steht. Es ist unsere Pflicht gegen ein so aggressives Land wie die USA und ihre Verbündeten, zu kämpfen!“

„Bei Allah!“, entfuhr es Ali. „Bist du etwa…?“ Mohammed lächelte nur und antwortet nicht.

Mohammed macht auf mich den Eindruck eines Buddhas, dachte Ali überrascht. Er ist höflich und seine Stimme ist auffallend leise. Aber er ist ein zorniger Buddha, ein gewalttätiger Buddha. Ein gefährlicher Fanatiker, ein Mullah, ein Mudjahed.

„Wenn es nach mir geht und wir eines Tages siegen, und das werden wir, denn wir sind mehr als zwei Milliarden Muslime“, hörte Ali, Mohameds sanfte Stimme fortfahren. „Dann führe ich das Kalifat erneut in Saudi Arabien ein und das Sharia Gesetz wird wieder in Kraft treten, so wie es einmal war. Niemand wird uns stoppen, dafür sind wir viel zu mächtig.“

Der Shrenk war ganz blass geworden, doch er wollte Mohammed eine wichtige Frage stellen, und so räusperte er sich kurz und nahm dann all seinen Mut zusammen:

„Haben sie einen strengen Vater gehabt?“

„Mein Vater starb vor vielen Jahren, er war ein mächtiger Mann, aber ein gütiger Mann. Glauben sie wirklich, Doktor, dass mein Vater damit etwas zu tun haben könnte, dass ich die Mächtigen des Westens wegen ihrer Doppelmoral und ihrer Doppelzüngigkeit hasse? Fakt ist doch, dass es um eine Kolonisierungsmacht geht, die seit fünfhundert Jahren eine kannibalische Weltordnung betreibt. Und sie suchen nach Beweggründen meines Hasses bei meinem Vater? - Allah ist weise und hat mir einen Vater gegeben der zu den reichsten Männern von Saudi Arabien zählte.

Mein Vater begann in den fünfziger Jahren in Saudi Arabien mit der ersten Infrastruktur. Er wurde vom König zum Minister berufen und beaufsichtigte die Renovierungsarbeiten der drei heiligen Moscheen: der Al-Haram Moschee in Makka, der Propheten Moschee in Medina und der Al-Aqsa Moschee in Jerusalem. An diesen Bauten verdiente mein Vater kein Geld. Es war meinem Vater eine Ehre, seine Arbeit unentgeltlich für Allah und dem heiligen Propheten zur Verfügung zu stellen.“

Mohammed schenkte nochmals Kaffee in die winzigen Tässchen nach.

Ali beschäftigte die Doppelzüngigkeit, die Mohammed erwähnt hatte. Sie war sich bewusst, dass sie mit ihrem Doktor, hier in gefährlicher Gesellschaft tafelten. Aber was Mohammed damit meinte, wollte Ali unbedingt erfahren.

„Mohammed, euer Vater war ohne Zweifel ein wahrer Muslim und ein Diener Allahs. Ich möchte euch aber wegen der Doppelzüngigkeit fragen, die ihr vorhin erwähnt habt. Was meintet ihr da?“

„Denke einfach an die Massaker in Gaza. Palästina ist das Land, das unser heiliger Prophet, Allah habe ihn selig, in der Nacht durchreiste, es ist heiliger Boden für uns Muslime.“

Mohammed trank einen Schluck Kaffee und fuhr fort. Ein bisschen zu leise für den Doktor, der sich immer wieder vorbeugte, um ihn auch wirklich verstehen zu können:

„Eine dringliche Zusammenkunft des UN-Menschenrechtsrats in Genf fand zwar statt. Die gesamte EU jedoch weigert sich, für eine Resolution zur Verurteilung der Kriegsverbrechen zu stimmen. Und das Ali, ist Doppelzüngigkeit!“

„Ich bin ja nur ein einfacher Kameltreiber“, antwortet ihm Ali. „Aber ich glaube an die Macht Allahs, des Barmherzigen.“

Lautes Klingeln und Summen ertönte. Mohammed holte sein Handy und sprach mit jemandem auf Arabisch. Der Anruf dauerte keine zwanzig Sekunden. Darauf wandte er sich erneut seinen beiden Besuchern zu. „Ich sprach eben mit Afgahnistan. Die Besatztungspolitik wird vom Volk dort abgelehnt und führt unweigerlich zu noch mehr Hass. Nach unserer Pilgerfahrt fliegen wir sofort nach Pakistan zurück.“

„Besteht denn keine Gefahr, durch so ein Telefonat entdeckt zu werden?“, wollte der Shrenk wissen.

„Ich verwende ein Handy meist nur ein einziges mal und telefoniere selten, nur bei besonders dringenden Angelegenheiten. So kann mich kein Satellit ausfindig machen.“ Er lächelte. „Unser Dschihad Apparat läuft über das Internet. Nicht selten verstecken wir ganz unislamisch, unsere Webseiten hinter pornografischen Seiten.“

„Pornografisch?“, fragte der Doktor misstrauisch, aber über Verdrängung und Sublimierung wollte er lieber nicht mit Mohammed reden.

Mohammed nickte. Über sein Gesicht breitete sich ein Grinsen, er wurde dann wieder ernst. „Die Seiten werden nachdem unsere Dschihadhis die Botschaft gelesen haben, sofort zerstört. Ja, unser Glaubenskrieg findet auch auf dem elektronischen Weg statt.“

„Wie kommt ihr unbemerkt nach Afgahnistan?“, erkundigte sich der Shrenk.

„Nicht Afgahnistan“, korrigierte Mohammed. „Pakistan. Wir fliegen mit kleinen Maschinen, von verschiedenen Flughäfen. Von dort ist es ein leichtes die Grenze nach Afgahnistan unbemerkt zu überqueren. Oft starten wir vom Jemen, mein Vater stammte aus dem Jemen und ich besitze dort viele Freunde.“ Mohammed überlegte kurz. „Warum kommt ihr nicht einfach mit uns mit? Ich habe in unseren Trainingscamps immer Platz für Menschen mit einem starken Glauben zu Allah, wie ihr beide ihn habt.“
 
Das Gesicht des Shrenk lief erst rot an und wurde dann leichenblass. Auch Ali wurde es Angst und Bange. Sie nahm sich eine Dattel und zog es vor zu schweigen. Es war der Shrenk, der von einem vollen Terminkalender sprach und von seinen unglücklichen Patienten, die ihn dringend brauchten.

„Ihr seid Gläubige. Allah der groβe und Barmherzige, schenkt euch diese Chance durch mich zum heiligen Krieg gegen die Ungläubigen anzutreten.“

„Ich bin nur ein einfacher Kameltreiber und bete jeden Tag fünf Mal zu Allah, für Gerechtigkeit und Frieden. Wir danken euch für diese hohe Ehre, Mohammed“, sprach Ali feierlich. Schlieβlich würde sich gewiss eine Möglichkeit bieten, in Makka die Flucht zu ergreifen.

„Wie kamt ihr zu eurem so gefestigten ideologischen Weltbild?“, erkundigte sich nun der Shrenk, der Alis Gedanken inzwischen erraten hatte.

„Mein Weltbild?“ Mohammed blickte hinauf zum Nachthimmel. „Ja wo beginne ich am besten?“, fragte er zögernd. „Es war Harun-Al-Rashid, der im achten Jahrhundert die Lehre von Dar-al-Hab und Dar-al-Islam ordnete und Dank Allah dem Allmächtigen, uns Gläubigen zugänglich machte.“

„Dar-al-Harb und Dar-al-Islam? - Verzeiht mir die Frage, ehrenwerter Mohammed, aber ich bin vor nicht all zu langer Zeit zu den Gläubigen übergetreten und kenne noch nicht alle Namen. Könntet ihr mir erläutern was genau Dar-al-Harb und Dar-al-Islam ist?“, fragte der Doktor.

„Dar-al-Islam, ist das Haus des Islam und Dar-al-Harb, das Haus des Krieges, wo wir den Dschihad führen, mit dem groβen Ziel, alle Menschen in das Haus des Islam zu bringen. Und dabei hilft mir Allah, er sei gepriesen in seiner Kraft, die er mir dafür verleiht, ein Gotteskrieger zu sein.“

„Danke, jetzt habe ich euch verstanden. Eigentlich wollen alle Menschen heimkehren.“

Mohammed dachte kurz nach. „Unser Ziel ist ein muslimischer Weltstaat, und zur Erreichung dieses Ziels ist der Dschihad im Kampf gegen die Ungläubigen gerechtfertigt. Es ist ehrenvoll dafür zu sterben und der Platz im Paradies ist jenen, dank Allah, dem Allmächtigen und Barmherzigen, dafür sicher.

Es ist spät geworden, morgen brechen wir in aller Früh auf. So werden wir, wenn Allah der Allmächtige es will, morgen Abend Dschidda erreichen. Ihr seid in Dschidda Gäste bei meiner Familie.“

„Meine Kamele!“, entfuhr es Ali.

„Auch eure Kamele sind in unseren Stallungen zu Gast. Nach Makka und nach Medina werden wir im Auto gebracht. Viel zu viel Gedränge durch die Hadsch. Die vielen Gläubigen richten jedes Jahr ein Groβes Chaos an. Mein Bruder hat mit Allahs Hilfe, eine Zeltstadt für die vielen Pilger errichten lassen und so für mehr Ordnung gesorgt.“

„Noch eine letzte Frage“, wandte Ali sich zu Mohammed, der sich gerade erheben wollte. Er nickte.

„Was haltet ihr von Obama?“

„Obama ist genauso unfrei wie alle seine Vorgänger“, antwortete Mohammed und kniete sich nieder zum Gebet. Er sprach die erste Sure. Ali und der Shrenk taten es ihm nach:

„Im Namen Allahs, des Allerbarmers, des Barmherzigen. Alles Lob gebührt Allah, dem Herrn der Welten, dem Allerbarmer, dem Barmherzigen, dem Herrscher am Tage des Gerichts! Dir dienen wir, und Dich bitten wir um Hilfe. Führe uns den geraden Weg, den Weg derer, denen 41

Du Gnade erwiesen hast, nicht derer, die Deinen Zorn erregt haben, und nicht den Weg der Irregehenden.“

Ali wollte besser jetzt nicht an ihren Fluchtplan denken. Allah ist groβ und barmherzig, er wird wissen, was mit mir und dem Doktor geschieht. Davon war sie überzeugt.
 
12.

„Werte Ali, so tun sie doch etwas! Im Namen Allahs meinetwegen, aber wir müssen hier wieder heil raus!“ Der Doktor saβ mit Ali, auf Kissen im kühlen Abendwind eines Gartens aus einem Märchenpalast, am Rande der Stadt Dschidda und war untröstlich. „Sagen sie mir, werter Ali, dass wir nur einer phantastischen Spinnerei erlegen sind und uns in Wirklichkeit in einem kleinen Fischerdorf am Al-Gharb befinden.“ Er seufzte schwer, trank einen Schluck Sharab Limonade mit zerstoβenen Eiswürfeln und sah Ali erwartungsvoll an. „Es ist gar nicht lange her, da saβen sie auf der Couch in meiner Praxis und Akhbar bäte zum Fenster herunter wegen eines Verkehrsunfalls.“ Ali nickte bedächtig mit ihrem Kopf. „In der Tat, Doktor Shrenk, in der Tat, es ist seither viel passiert. Erst die Wüste voller Lagerfeuerromantik, aber jetzt sind wir hier Gefangene im Palast des geheimen Clans der gefährlichsten Brüder Saudi Arabiens gelandet.“ Ali schnaubte, beschloss dann aber auch einen Schluck von ihrem Sharab zu nehmen und überlegte laut: „Akhbar und die anderen Kamele sind in den Stallungen gut aufgehoben, aber was ist mit uns? Die Gastfreundschaft dieser Araber ist zwar heilig, aber eh wir es uns versehen, sind wir irgendwo in einer dieser schrecklichen Höhlen in Afghanistan und lernen Bomben zu basteln. Hm. Ich bin auch völlig unbegabt mit basteln und von Höhlen habe ich erst mal genug!“

Der Doktor schwieg und blickte abwesend zum Swimmingpool, wo die Kinder der Familie, lustig planschten, so als gäbe es keine Terroristen, Selbstmordattentäter oder Gotteskrieger. Denn hier herrschte eindeutig eine Art von Luxus, wie ihn der Shrenk vorher noch nie zu Gesicht bekam. Einige schwarz vermummte Frauen hockten neben den Kindern und versuchten so gut es ging, die kleinen Paschas zu disziplinieren, was ihnen kaum gelang. Diese Kinder sind jetzt schon gewohnt, Befehle zu erteilen, befand der Doktor leicht irritiert.

„Wir müssen abwarten, lieber Doktor. Vielleicht kommen wir an Mohammeds Bruder heran. Denn ohne unsere Kamele verlasse ich Dschidda auf keinen Fall!“

Ein philippinischer Diener kam, verbeugte sich und fragte ob sie etwas wünschten.

„Danke“, sagte Ali und dachte, dass man sich hier so ziemlich alles wünschen könne, nur nicht die Freiheit.

„Mohammeds Bruder?“ Der Shrenk atmete schwer. „Besagter Bruder leitet ein Imperium mit über zehn Milliarden Umsatz und wird für uns kaum Zeit haben.“

„Er wird uns glaube ich, während der Hadj nach Makka begleiten, das wäre eine Chance.“

„Was ist mit der Botschaft?“

„Vergessen sie es, Doktor. Ich möchte nicht wissen, wer und was hier alles gekauft wurde. Entweder von dem gefährlichen Clan hier, bei dem wir zu Gast sind, oder dem Königshaus Al-Saud selbst. Es gibt in dieser Stadt sogar einen Bürgermeister, aber Mohammeds Bruder ist der wahre Herrscher von Dschidda. Die stecken alle unter einer Decke. Vor hundert Jahren lebten diese Menschen noch in Beduinenzelten und Lehmburgen, und dann zogen sie in ihre Glaspaläste und Wolkenkratzer Imperien um. Ihr schlechtes Gewissen, lieber Doktor, lässt sie Milliarden spenden für den Bau von Moscheen, Religionsschulen und den Glaubenskriegern. So wollen sie sich von den Milliardendeals mit den Ungläubigen, und dem Frevel ihrer Modernisierungsversuche rein waschen!“

„Sprechen sie doch leiser, Ali!“, warnte der Doktor ängstlich.

„Ach was, hier versteht keiner Deutsch.“ Ali schnaubte. Alles was wir hier bisher zu Gesicht bekamen, zeigt mir nur die Zerrissenheit und Widersprüchlichkeit der arabischen Welt. Diese Prinz Mohammed Bin Abduhl Aziz Street mit ihren Wolkenkratzern und vergoldeten Kronleuchtern und vergoldeten Toiletten und Räume so groβ wie Ballsäle!“

„Die neue Universität soll hochmodern sein und wird Wissenschaftler aus der ganzen Welt anlocken“, unterbrach der Doktor Alis ärgerlichen Redeschwall.

„Ach ja?“

„Es soll eine Bildungseinrichtung der Superlative sein: die jüngste Uni der Welt, die neuesten Geräte, einer der schnellsten Computer, und Wissenschaftler, die mit all dem umgehen können.“

„Doktor.“

„Doch, doch, doch, werte Ali. Auf dem Campus dürfen erstmalig die Frauen unverschleiert herumgehen. Sie holen Spezialisten von überall her, von den führenden technischen Universitäten Amerikas, China, Japan und sogar aus Wien.“

„Alles vom Erdöl geschmiert, nicht wahr, Doktor?“

„So sprecht doch leiser, werter Ali!“

Ali pustete demonstrativ die Luft aus und schwieg.

„Es geht gerade auch um die so wichtige Forschung, was nach dem Öl geschieht.“

„Davon werden wir aber nicht frei, lieber Shrenk.“

„Hm. Warum sollen wir bis zur Hadj warten? Heute Abend werden wir im Hotel Intercontinental speisen und so wie ich Mohammed kenne, wird er es vorziehen, daheim zu bleiben und zu beten. Da könnte sich doch eine Gelegenheit bieten, mit Mohammeds Bruder zu sprechen.“
 
13.

Die Medina Road war völlig verstopft. „Bei Allah, dem Barmherzigen und dem Allmächtigen!“, rief Doktor Pasch aus und ließ das Fenster seines kleinen japanischen Mietwagens herunter. „Allah meint es gut mit uns allen, wenn ich das nicht wüsste, würde ich glatt durchdrehen!“

Es war kurz nach acht Uhr morgens in Dschidda, Saudi Arabiens wichtigster Hafenstadt. Ali saβ vorne neben Pasch, der in die Prince-Abduhl-Aziz-Street einbog und nun auch noch telefonierte:

„Sind die Marmorproben aus Indien gekommen? Warum funktioniert das Kühlsystem an der Kaaba nicht? Sind die Wassertanks falsch angebaut? Ich muss nachher meinen Porsche aus der Werkstatt holen. Das hydraulische System für die Großschirme checken. Ja, genau! Ruft doch in Abu Dhabi an. Hm. Und in Kuala Lumpur müsst ihr auch anrufen.“

Ali hörte nur mit halbem Ohr zu und erblickte drauβen auf der Straße rechts und links, die Geländewagen der Superlative, mit Wüstenblechen und Batterien von Scheinwerfern auf dem Dach. Stretchlimousinen und einen Ferrari, aus dem ein Wüstenscheich mit freundlicher Verachtung herüber lächelte. Endlich ging es weiter, vorbei an Kentucky-Fried-Chicken und McDonald''s, und Zara-Boutiquen. Immer wieder protzige Hochhäuser und Villenviertel mit Palästen und Palmengärten hinter hohen Mauern.

„Wir sind gleich da“, sagte Pasch in seinem typisch schwäbischen Dialekt und bog in die Altstadt ein.

„Oh was für schöne alte arabische Kaufmannshäuser!“, staunte der Shrenk sichtlich angetan.

„Hier in der Altstadt habe ich mein Büro.“ Doktor Hans Omar Pasch deutete hinüber zur Schafi Moschee.“ Das ist die älteste Moschee von Dschidda.“

Die Gassen waren menschenleer, die Häuser, aus Lehm, Korallensteinen und Treibholz, schmal und sehr hoch gebaut. Das Holz der Haustüren war verblichen, ein Geruch nach alten Zeiten hing in der Luft.

„Kommen sie, lieber Ali und Doktor Shrenk“, forderte Pasch seine Gäste auf, ihm in sein Bürohaus zu folgen. Er führte sie durch einen schmalen Raum, der voll gestopft war mit Computern. Seine Leute fielen sofort über ihn her und fragen über Zeichnungen, Rechnungen, Baupläne, Marmorproben und die neuesten Skizzen für Abu Dhabi. „Hat Bin Awad angerufen?“ Immer wieder der Name Bin Awad und ein Gewirr aus Arabisch, Englisch und Deutsch. Pasch machte Platz für seine Gäste und bestellte Kaffee.

„So, nun mal der Reihe nach. Ihr habt mich gestern Abend im Intercontinental angesprochen, wegen Bin Awad und weil ich Deutscher bin und ihr Hilfe braucht. Ich bin Karim Bin Awads rechte Hand und baue ihm alle seine Schattendächer und Kuppeln für Moscheen, die sich nach dem Sonnenstand drehen und so immer Schatten, den hoch gepriesenen Schatten für die Gläubigen liefern. Und ihr wollt mit Karim reden? Der hat ja nicht mal für mich Zeit.“ Pasch lachte. „Beim vorigen Treffen lies er mich zwei Stunden warten, aber dann besprachen wir alle wichtigen Details für ein neues, noch geheimes Projekt.

Ein junger Pakistani brachte Kaffee. Pasch räumte erst mal Stapel von Papieren beiseite, worauf der Junge den Kaffee auf seinem Schreibtisch abstellte.

„ Wir wollten nur nach Makka pilgern, aber Mohammed möchte uns unbedingt nach Pakistan mitnehmen.“

„Ach, daher weht der Wüstenwind!“ Über Paschs gutmütiges Gesicht breitet sich ein Grinsen aus. „Mohammed ist ja inzwischen zur Heiligenfigur der Familie aufgestiegen. Einer muss es ja tun, und Mohammed hat schon seit seiner Kindheit diesen Part übernommen und betet auch gleich für die anderen des Clans. Ich gebe zu, er ist ein wenig fanatisch aber sehr religiös.“

Ali betrachtete fasziniert diesen Architekten und Baumeister in mittleren Jahren, der in zwei Welten lebte. Ein Grübchen am Kinn, dunkle, sehr kurz geschnittene Haare und hellblaue Augen, die durch die sonnenverbrannte Haut, besonders hervorstachen.

„Die Familie von Mohammed schweigt sich darüber aus. Die Geschäfte gehen weiter, so Allah es will“, hörte sie Pasch munter fort fahren. „Das dritte Jahrtausend wird religiös sein, denn anders ist die Spannung zwischen technischer Kultur und Gefühl nicht auszuhalten.“

„Ja, aber…“, wollte der Doktor einwerfen.

„Keine Bange, ich rede mit Karim höchstpersönlich über euren Fall.“

„Oh, wir sind ihnen sehr verbunden, werter Doktor Pasch. Es geht ja um unsere Kamele, ohne die wir nicht abreisen wollen.“

„Kamele? Hm. Ach nennt mich einfach Hans.“ Er lächelte. „Hier nennen mich alle Omar.“

„Omar?“, fragte Ali erstaunt.

„Ich trat vor einigen Jahren zum Islam über. Ihr solltet ruhig mit Mohammed, die Hadj machen, aber heute noch spreche ich mit Karim. Ihr könnt zu ihm mitkommen, wenn ihr wollt. Versprechen kann ich aber nichts.“

Die Stimme des Muezzins, von der Schafi Moschee erklang. Pasch erhob sich von seinen Papierstapeln. „Kommt ihr mit zum Gebet?“ Ali und der Shrenk nickten. Pasch flitzte mit ihnen zur winzigen Toilette, wo sich alle ihre Hände, Füβe und Gesicht wuschen.

Das Mittagsgebet in der Schafi-Moschee dauerte keine 20 Minuten. Inmitten unter pakistanischen Taxifahrern, Mechanikern aus dem Jemen und Hafenarbeitern aus Damaskus, verrichten Ali, zusammen mit dem Shrenk und Hans Omar Pasch, ihre Gebete.

„Hier in der Altstadt leben vor allem Gastarbeiter“, erläuterte Pasch, als er in seine Sandalen schlüpfte. „Sie sind die besseren Sklaven, die den Saudis ihr Land in Schuss halten.“

Zurück in den Büroräumen, wies Pasch seinen Gästen Sessel an und verschwand hinter seinem Schreibtisch und seiner Arbeit.

„Oh Ali!“ Der Shrenk sah müde aus. „Was wird nur aus uns werden?“

„Nun jammern sie nicht so herum, Doktor. Wir warten alle auf den Anruf von Karim.“

Hans Omar Pascha saβ über seinen Zeichnungen, Telefonaten und Rechnungen.

„Was ist nur aus ihrem Philosophieren geworden? Ist ihnen das vor Schreck abhanden gekommen?“

„Mir fehlt Suleika…“

„Und Akhbar, Miriam, Omar.“

„Ich habe ihre Kamele sehr lieb gewonnen. Lieber als diese Glas und verspiegelten Betonpaläste.“ Der Shrenk seufzte. „Mir fehlt die Weite der Rub-Al-Khali.“

„Bin Awad hat immer noch nicht zurückgerufen.“ Hörten beide Hans Omar, schimpfen.

„Heutzutage ist alles vernetzt, werter Ali.“ Der Shrenk betonte das „r“ hinter dem Wort werter, niemand wusste, dass Ali eine Frau war, das musste unbedingt geheim gehalten werden und durfte man dem Hans Omar Pasch, schon gar nicht verraten.

„Was meint ihr mit vernetzt, Doktor?“

„Wenn sie in die Wüste gehen und die Einsamkeit aufsuchen, so müssen sie auch alles andere in Kauf nehmen: das Land und seine Menschen und die Früchte, die die Menschen gepflanzt haben und ernten.“

„Was sie nicht sagen. Heute kann ich ihnen nicht folgen, Doktor.“

„Ach vergessen sie es, Ali. Es geht um den Kuchen und die Rosinen.“

„Da wäre nur die Frage, was die Rosinen, und was der Kuchen wäre.“

In diesem Moment erklang die freudige Stimme von Pasch: „Mister Karim? Dank Allah, melden sie sich endlich.“

Ali und der Shrenk spitzten die Ohren, fast so ähnlich wie es Akhbar sonst tat.

„Gut, Mister Karim. Ja, ich komme sofort vorbei“, worauf er aufstand.

„Wir können losfahren, Scheich Karim Bin Awad erwartet mich. Kommen sie mit mir.“

„Warum, oh groβer Allah, müssen die anderen schon wieder so langsam fahren?“, beschwerte sich Pasch und lenkte seinen Honda in rasanter Geschwindigkeit die Prince Mohammed Bin- Abdul- Aziz Street hinunter.

Die Konzernzentrale der Saudi Bin Awad Group, nahe der Prince Bin-Abdul-Aziz Street, wirkte wie eine Festung und war hell beleuchtet. Pasch wurde anstandslos durch die Schranke gewunken, und parkte seinen staubigen Honda neben den teuersten Autos der Welt.

Ali und der Shrenk staunten einmal wieder über das Innere der Festung, die sich als ein Palast entpuppte. Über persische Seidenteppiche eilte Pasch ihnen voran. Überall Marmor. Ali setzte ein hämisches Grinsen auf und sah den Shrenk bedeutsam an, deutete mit einem Kopfnicken auf die goldenen Kronleuchter, voller Kristalle, dass es nur so glitzerte.

Diener standen da in rot-goldenen Uniformen. Nirgendwo Frauen, dachte Ali. Ich scheine die einzige hier zu sein. Dafür standen überall Schalen mit duftenden Rosenblättern.

Dies also ist das Milieu, dem Mohammed Bin Awad entkommen wollte, schoss es Ali durch den Kopf. Von hier aus floh er in die Höhlen nach Afgahnistan. Diese Welt verachtet er.

Zusammen mit Pasch warteten sie im Vorzimmer des Allerheiligsten. Die Zeit verging, und sie warten und warten. Kaffee wurde ihnen gebracht, und dann warten sie weiter.

„Mister Hans Omar? Sie sprachen vorhin vom dritten Jahrtausend, und dass es religiös sein wird.“

„Ja, Ali. Kann es überhaupt Schönheit ohne Gott geben?“

„Ich glaube nicht, Mister Hans Omar.“

Der Shrenk nippte an seinem Tässchen und hörte schweigend zu. Gespräche über Gott machten ihm immer ein wenig verlegen.

„So ist es, Ali. Gott ist absolut. Allah ist absolut und alles andere ist zweitrangig.“

Die Tür öffnete sich und Scheich Karim Bin Awad erschien: Ende vierzig, klein, schlank und mit energischen Bewegungen. Er trug ein gepflegtes Bärtchen und wie alle Männer die traditionelle arabische Tracht. Er hat keine Ähnlichkeit mit den Bildern seines Halbbruders, nur die Augen, dachte Ali.

„Ich bin untröstlich, dass es so lange gedauert hat. Ich wartete im Königshaus auf eine Audienz, wegen dem Projekt“, begrüβte freundlich Karim Bin Awad, Pasch.

Sie umarmten sich, dann schnappte Pasch sich die Mappe mit seinen Konstruktionsskizzen.

Bin Awad nickte Ali und dem Shrenk kurz zu, und entführte dann Pasch in einen überdimensionalen Besprechungsraum.

„Hinter der schalldichten Tür wird Pasch seine Ideen für das geheime Großprojekt vorstellen“, sagte Ali und atmete die Luft demonstrativ ein und wieder aus. „Mit Sicherheit millionenschwer, wunderschön und wie immer schwierig. Und wenn Allah es will, wird Pasch auch über uns sprechen.“

„Inshallah!“, sagte der Shrenk.

„Und Allah, der Barmherzige, so sagt Pasch, meint es gut mit ihm.“ Ali lächelte. „Und mit uns auch, Doktor Shrenk.“
 
14.

Erneut ging es in halsbrecherischem Tempo die Prince Bin-Abduhl-Aziz Street hinunter, die Ali und der Shrenk inzwischen schon in und auswendig kannten.

„Hm“, sagte Pasch und nickte bedächtig. „Ich hole mal eben meinen Wagen aus der Werkstatt, und dann wollen wir meinen guten Freund Salim-Al-Rashid besuchen, denn so wie eure Sache steht, ist sie ein wenig knifflig.“

„Knifflig, lieber Mister Hans Omar?“, fragte der Shrenk erschrocken.

„Es ist so, dass Mohammed an euch einen Narren gefressen hat.“ Pasch trat brüsk auf die Bremse und hupte. „Bei Allah dem Barmherzigen, warum hat er euch nicht besseres Autofahren beigebracht?“ fragte er kopfschüttelnd und murmelte irgendwas von Kamelen in sich hinein.

Der Verkehr kam vollends zum stoppen. Ali erblickte schon wieder den Kentucky Fried Chicken Laden und bekam Hunger, aber bis Sonnenuntergang mussten sie warten, mit knurrendem Magen.

„Mohammed sieht in euch sehr fromme Gläubige“, klärte sie Pasch auf. „Er sprach von eurer reinen Ausstrahlung und auch dass ihr durch die Rub-Al-Khali gezogen seid. So kommentierte es Karim, dass ihr gern gesehene Gäste und willkommen in seinem Hause seid.“ Pasch startete erneut den Motor, langsam kam Bewegung in die Autoschlange.

„Da tauchte insgeheim in mir die Frage auf, wie ihr überhaupt nach Saudi Arabien eingereist seid?“ 49

„Wir ritten von Salalah mit unseren Kamelen los.“ Dass es die Kamele waren, die ihnen den Weg wiesen, mitten in das Herz der Rub-Al-Khali, das wollte Ali lieber für sich behalten.

„Salalah? Über den Oman?“ Ali nickte.

Ich liebe den Oman, dachte Ali. Auβerdem besuchte ich mit dem Shrenk den Oman wegen dem Sultankomplex, aber das verschweige ich besser dem Pasch.

„Besucher aus dem Westen sind in Saudi-Arabien unerwünscht. Für ein Visum braucht man eine Einladung, Bürgen, es geht durch zig Kontrollen und ihr kommt einfach mit euren Kamelen von Salalah?“ Pasch lachte und fasste sich an den Kopf. „Kein Wunder, dass Mohammed so groβe Stücke von euch hält und als Agenten gute Verwendung hätte. Denn in Wirklichkeit dürftet ihr gar nicht hier sein!“

„Und das ist nun knifflig?“, meldete sich erneut die besorgte Stimme des Shrenk aus dem hinteren Fond. Pasch überholte in einem riskanten Manöver gerade einen schwarzen dicken BMW und winkte dem erbosten Fahrer lässig zu.

„Knifflig ist, dass ihr gar nicht in Saudi Arabien sein dürft. Geschweige denn so einfach wieder aus reisen könnt. Aber mein guter Freund Salim-Al-Rashid hat für solche kniffligen Angelegenheiten immer eine Lösung parat. Karim natürlich auch, aber der hat keine Zeit. Doch Karim hat mir grünes Licht für eure Angelegenheit gegeben.“
 
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„Das Besondere an Salim-Al-Rashid ist für mich nicht, dass er über die Geschichte Makkas schrieb oder ein Aristokrat ist, mit einem Stammbaum, der bis ins neunte Jahrhundert zurück reicht. Oder dass Salim seinen Doktor in Harvard für Arabische Baukunst machte“, erzählte Pasch, und parkte seinen Porsche. „Das Besondere an ihm ist sein Haus.“

Salim erschien höchstpersönlich, um seinen Omar wie einen Bruder zu begrüβen.

„Das sind meine Freunde, Doktor Shrenk und Ali“, stellte Omar vor. „Und das ist mein Freund Salim-Al-Rashid, auch er ist Architekt und Baumeister.“

„Willkommen. Omars Freunde sind auch meine Freunde. Allah der Allmächtige hat euch zu mir gesandt und mit Freude empfange ich euch in meinem bescheidenen Heim.“

Ali blickte in ein Gesicht mit feinen Zügen. Der Kopf war unbedeckt, schwarze glatte Haare, streng nach hinten gebürstet und ein kleines Bärtchen. Er trug eine randlose Brille.

Salim-Al-Rashid führte seine Gäste auf einen groβräumigen Innenhof, der kunstvoll gestaltet war und nahm mit ihnen auf weichen Seidenkissen Platz.

„Welche Ehre, werter Doktor Salim, euer Haus sehen zu dürfen“, sagte der Shrenk.

„Ich danke euch Doktor Shrenk. Ich habe zwölf Jahre gebraucht, ein altes halb verfallenes Kaufmannshaus nach meinem Geschmack zu gestalten und dies hier hervorzubringen.“

„Eine in der Tat groβartige Leistung der Baukunst!“

Ali blickte neugierig um sich. Vom Innenhof führten sechs Stockwerke hinauf. Die Wände und Galerien mit kostbaren Mosaiken ausgelegt. Von den kunstvoll geschnitzten Holzbalustraden wuchsen Pflanzen herunter bis zum Boden. Ein paar Stufen führten vom Hof nochmal hinunter zu einem Swimmingpool. Der Boden des Pools war mit Mosaiksteinen ausgelegt, die ein Muster formten, als schwebe über dem Grund des Beckens ein persischer Teppich. Das Dach des Hauses bestand aus farbigen Glasfenstern.

Diener brachten Datteln, Feigen, süβes Naschwerk und Tee, während Pasch in kurzen Zügen seinem Freund Salim, die Lage erläuterte:

„Stell dir vor, Salim! Sie kamen unbemerkt in dieses heilige Land und dürften offiziell nicht hier sein.“

„Wir wollten genauso, wie wir kamen, auch wieder verschwinden!“, warf Ali ein. „Aber dann kamen die Gotteskrieger und nahmen uns nach Dschidda mit.“

„Wir waren damit beschäftigt, intensiv zu philosophieren“, mischte sich nun auch der Shrenk ein. „Dadurch haben wir nicht auf Staatsgrenzen geachtet. Es ging um Immanuel Kant und seine verbotene Tür, und wie Ali meinte, dass diese Tür unbedingt durchschritten werden sollte!“

Salim-Al-Rashid war sprachlos. Schlieβlich war er lange Jahre Direktor des Hadsch-Forschungszentrums, wo ihm alles oblag, was mit den Pilgerfahrten zu tun hatte, aber so etwas war ihm in all den Jahren noch nicht unter die Augen gekommen.

„Nun.“ Salim räusperte sich. „Die einfachen Gläubigen, kommen zu Allah. Sie legen ein weißes Gewand an, rasieren sich den Schädel und marschieren mit Eseln, oder fahren mit Bussen oder Limousinen nach Makka und Al- Madina, aber so weit es mir bisher zu Ohren kam, philosophieren sie nicht über Immanuel Kant.“

„Dass sie uns nicht missverstehen, edler Doktor Salim“, versuchte Ali den Shrenk zu korrigieren:

„Es ging vorrangig um Platons Ideenlehre und nicht so sehr um Immanuel Kant. Platons Ideen haben genauso auch etwas von Begriffen und von Naturkräften. Verstehen sie, edler Salim?“ Da Salim höflich nickte, fuhr Ali fort:

„Darüber waren wir am debattieren, es ging um die Urbilder Platons, dieser unmittelbaren Anschauung, zu der wir Menschen uns erheben sollten und da müssen wir durch Kants verbotene Tür, und manchmal auch Grenzen überqueren.“
 
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