Häschen;4674142 schrieb:
Anadi, kannst du mal sagen, weshalb eigentlich den Kuhhirten und Kuhmädchen?
Bitte nenn das Wort "Kuh" und was seine anderen Bedeutungen sind...
Die tiefenpsychologische Forschung untersucht das Sinnbild der Kuh vor allem am Beispiel der ägyptischen Religion. C. G. Jung sieht etwa dieses Tier als Muttersymbol in der überarbeiteten Fassung seines ersten großen Hauptwerkes "Symbole der Wandlung " von 1952 bei allen möglichen Formen und Abarten der Hathor Isis und besonders bei dem Nun, dem feuchten Urstoff, der zugleich männlicher und weiblicher Natur ist. Diesem entspricht die Urgöttin Nit oder Neith als "die Kuh, die Alte, welche die Sonne gebar und die Keime der Götter und Menschen legte"."Nun" bezeichnet auch das neu ankommende Wasser der Nilflut, ebenso im übertragenen Sinne das chaotische Ur-Gewässer und die gebärende Ur-Materie, die durch die Göttin Nunet personifiziert ist. Aus ihr entsprang Nut, die Himmelsgöttin, die als Frau oder Kuh mit besterntem Leib dargestellt wird. Wenn sich der Sonnengott auf dem Rücken der Himmelskuh zurückzieht, geht er in die Mutter zurück, um als Horus wieder zu erstehen. Die Göttin ist am Morgen Mutter, am Mittag Schwestergattin und am Abend wieder Mutter, die den Toten in ihren Schoß aufnimmt. Diese Ausführungen bestätigen Jung in seiner Grundauffassung, wonach die ägyptische Kultur gerade auch im Bild der Kuh mythologisch die Vereinigung des Sohnes mit der Mutter und den Geschwisterinzest betont und damit auf Regression, Triebfixierung und Naturkreislauf ausgerichtet ist.
Erich Neumann behandelt in "Ursprungsgeschichte des Bewusstseins" von 1949 das Thema des weiblichen Rindes zunächst auf der Stufe des Uroboros. Hier ist die nährende Große Mutter mit ihren vielen Brüsten, die auch phallisch befruchtend verstanden werden können, mehr Zeugerin als Gebärerin. Die Milchgeberin Mutter vermag sogar deswegen väterlichen, zeugend schöpferischen Charakter anzunehmen und wird am häufigsten durch das Symbol der Kuh ausgedrückt. An anderer Stelle erwähnt Neumann das Tier nochmals, wenn er in Bezug auf die Ambivalenz der Magna Mater den Blick auf Ägypten lenkt, wo die bedeutenden Göttinnen nicht nur nährende, webende, lebenspendende und erhaltende Mächte sind, sondern auch Wildheit, Blutgier und Verderben repräsentieren. Neith ist einerseits Himmelskuh und Ur-Gebärende, andererseits aber Kriegsgöttin und Wegbahnerin in der Schlacht ebenso wie Richterin im Streit. Auch Hathor tritt als Kuh, Milchgeberin und Mutter der Sonne sowie als Liebes- und Schicksalsgottheit auf. Tanz, Gesang, Klappern, Rasseln und Trommeln gehören zu ihrem Fest und verraten ihr erregend orgiastisches Wesen. Aber sie kann auch im Krieg zur blutdürstig rauschhaft wahnsinnigen Zerstörerin der Menschen werden. Auch Isis hat ihren furchtbaren Aspekt. Erst als Horus der Jüngere seine Mutter enthauptet hat, ist ihre schreckliche Seite vernichtet und verwandelt. Jetzt erhält sie vom Weisheitsgott Thot den Kuhkopf, das Symbol der guten Mutter, und wird zur Isis Hathor, dem weiblich mütterlichen Ideal und Vorbild der patriarchalen Zeit. Ihre Macht ist an den Sohn Horus und die Pharaonen abgetreten, ihr destruktiver Aspekt wird ins Unbewusste verdrängt.
In "Die Große Mutter " von 1956 kommt Neumann innerhalb der Thematik des negativen Elementarcharakters noch einmal auf diesen Zusammenhang zurück. Das Bild des Weiblich Mütterlichen verbindet immer mit dem Tod und Untergang auf eine hintergründige Weise auch das Leben und die Geburt. Auf einem ägyptischen Papyrus erscheint Ta Urt, das schwangere Tierungeheuer, das Nilpferd und Krokodil, Löwin und Frau zugleich ist und ebenso tödlich wie schützend wirkt. Hinter ihr streckt grauenhaft-sinnvoll die gute Kuh- und Muttergöttin Hathor, die aber gleichzeitig Krieg, Tod und Verderben bringen kann, ihren Kopf hervor. Beide tragen dieselben Kuhhörner wie Isis, die das Haupt des Horus an sich drückt. Die im Laufe der patriarchalen Entwicklung verdrängte NegativSeite des Großen Weiblichen ist heute nur noch als Inhalt der Vorzeit oder des Unbewussten nachzuweisen. Ein letztes Mal nähert sich Neumann dem KuhSymbol durch die Einführung von Methyer als kosmischer Personifikation der Ur-Gewässer und von Mehurt als Gebärende des Sonnengottes. Beide sind aber nur spezielle Erscheinungsformen von Hathor, Nut oder Isis, deren Einheit in Wirklichkeit alle weiblichen Gottheiten Ägyptens umfasst. Die Kuh als Urflut und Himmelsozean ist das ursprüngliche und primitive Symbol der Vorzeit und ein echtes Sinnbild weltschöpferischer Mütterlichkeit. Als Tier am westlichen Berg umfasst sie auch die Unterwelt und den Wasserabgrund der Tiefe. In der ägyptischen Mythologie erscheint die obere Kuh als Mutter der HorusSonne und die untere als Hathor der Toten.
Hedwig von Beit hat sich in ihrer "Symbolik des Märchens" von 1952 mehrfach zum Thema des weiblichen Rindes geäußert. Die Kuh bedeutet für sie vitale Kraft, das Lebendig - Nährende, einen höchsten Wert für die primitive Kulturstufe, ein Symbol der fruchtbaren, mütterlich spendenden Natur und somit der Erd- und Mutter-Gottheit. In China ist das weiblich - empfangende Yin-Prinzip unter dem Bild dieses Tieres dargestellt als Sinnbild äußerster sanfter Fügsamkeit. Hier ergibt sich eine Parallele zur Baum -Symbolik der Magna Mater. Die Himmelsgöttin und Kuh-Mutter Hathor hieß in Ägypten u. a."Herrin der Sykomore", und im indischen Mythos existierte entsprechend der Wunschkuh etwa des Gottes Indra auch ein Wunschbaum, der alle Fantasien Wirklichkeit werden ließ. Das Symbol des weiblichen Rindes erscheint bei den Märchen in der gleichen Bedeutung wie bei den Sagen und hängt hier wie dort eng mit dem Vorstellungskreis der Großen Mutter zusammen. Die Kuh, die den Helden zur Anima Gestalt führt, ist z. B. ein solches Bild der Magna Mater. Sie tritt besonders dann als Vorstufe der weiblichen Seite des Mannes auf, wenn das Bewusstsein des Menschen wie etwa beim Dümmling noch kindlich unreif ist. Dieses Tier als ein Symbol für das nährende Wesen des Unbewussten kennt die Lebensquellen, das Land jenseits des Wassers, aus welchem der seelische Reichtum des Einzelnen stammt. Der Held kann zu seinem Ur- und Idealbild, das er verwirklichen muss, nur durch Verbindung mit Kühen werden, weil zur eigentlichen Weisheit auch das Prinzip der Erde, des Weiblichen gehört, das dem ruhelos schweifenden Geist des Mannes Nährboden und Wirklichkeit gibt.
Das Hüten der Mutter-Kuh bedeutet für ein Mädchen im Märchen eine sorgfältige Beachtung des eigenen Unbewussten, im besonderen der eigenen Weiblichkeit. Dieses Tier als Sinnbild der Fügsamkeit hilft der Heldin durch Gehorsam und Geduld, zu sich selbst zu kommen. Indem der Mensch dieses Einfügen und Hinhören, diese freiwillige Abhängigkeit in sich pflegt, erlangt er Klarheit ohne Schärfe und findet seinen Platz in der Welt. Beim Umgang mit der Kuh geht es um eine wissendere Einstellung der Heldin zum Unbewussten und um eine angemessene Reaktion auf dessen dämonische Seite. In den Mythen wurde beim Übergang vom Matriarchat zum Patriarchat die Symbolik des weiblichen Rindes parallel zur Macht des Großen Mütterlichen entwertet und seine kosmische Potenz auf die bloß nährende und pflegende Funktion reduziert. Doch in den Märchen gewinnt das Verdrängte wieder seine ursprüngliche, umfassende Bedeutung zurück, indem dort die Kuh zum Sinnbild des kollektiven Unbewussten wird, das in dieser Gestalt hilfreich in das Leben der Menschen eingreift, ihnen seine tiefere Weisheit zukommen lässt und so ihre Entwicklung bis zu ihrem inneren wie äußeren Glück fördert.