Eine kleine Liebesgeschichte am Rande
Nein, keine solche, wie Sie, liebe Zuhörerinnen, vielleicht vermuten
werden, keine Liebesgeschichte zwischen zwei Menschen.
Eher eine Liebesgeschichte zum Leben. Markus und Lukas erzählen sie
uns.
Es war ein gewöhnlicher Tag, der sich durch nichts von anderen
unterschied.
Jesus saß wie so oft mit seinen Jüngern im Tempel. Er hatte mit den
Schriftgelehrten geredet und gestritten. Nun saß er einfach da und
beobachtete die Leute wie sie kamen und gingen.
Ihm gegenüber stand ein Almosenkasten. Wer wollte konnte eine Gabe
hineinlegen, und damit den Tempel oder auch arme Leute mit seinem
Scherflein unterstützen.
Ganz normale Leute kamen, legten ihre Gabe in den Kasten und gingen
weiter.
Dann kamen einige Reiche, prachtvoll gewandet. Jeder konnte sehen, die
stellen etwas dar, die sind wer, und mit großer Geste für alle sichtbar,
legten sie ihre wahrlich nicht kleinen Gaben dazu.
Hinter ihnen erschien eine kleine gebeugte Gestalt, eine Frau - deren
wirkliches Alter unter ihrer sichtbar harten Lebensgeschichte fast nicht
mehr zu erraten war. Sie trug die üblichen dunklen Witwenkleider,
abgerissen und schon mehrmals gewendet und geflickt.
Verschämt legte sie einige kleine Münze in den Kasten, verschämt, denn
was waren die wenigen Münzen gegen die großartigen Gaben der Reichen.
Wie so sollte man sich nicht schämen, wenn man so wenig hatte.
Aber - wo sollte es auch herkommen in einer Welt, die keine staatlichen
Unterstützungen bei Bedürftigkeit kannte?
7
Wenn eine Frau Witwe geworden war und keine erwachsenen Söhne hatte,
die sie aufnehmen und versorgen konnten, dann war sie aufs Betteln
angewiesen, auf die Freundlichkeit und oft genug auf die Herablassung all
deren, die ihr eine Münze zuwarfen.
Mehr gab's nicht, mehr war nicht drin. Zum Leben zuwenig, zum Sterben
zuviel.
In den Augen der anderen galt sie nichts mehr, war eben nur eine Frau am
unteren Ende der Skala.
So legte sie verschämt ihre wenigen Münzen in den Kasten.
Verschämt - und doch bei allem, was ihr an Beschämung und Verletzung
widerfahren war, hatte sie sich eines bewahrt: das Zutrauen zum Leben
und zu Gott.
Das Zutrauen, was immer mir begegnet, da ist einer der mich nicht im
Stich läßt, da ist einer, der mir hilft und für mich einsteht.
Wenn ich meine letzten Münzen in den Kasten tue und damit anderen
helfe, gebe ich zurück, daß mir selber geholfen wurde.
Gott hilft, darum brauche ich nichts zurückhalten.
Seht, sagte Jesus zu seinen Jüngern:
seht, diese arme Witwe hat alles, was sie zum Leben hatte, weggegeben.
Die anderen haben nur von ihrem Überfluß ein wenig abgegeben.
Eine Liebesgeschichte? Ja - eine Liebesgeschichte, die Gott aus Liebe alles
zutraut. Und die Geschichte einer Frau, die auch ganz unten angekommen
sich diese Liebe zu Gott bewahrt und darin die Not der anderen nicht aus
den Augen verliert. Welch eine Würde und eine Stärke bekommt sie
dadurch.