«Ich weiss selbst, was gut für mich ist»

Achilleus

Sehr aktives Mitglied
Registriert
15. August 2005
Beiträge
1.536
Ort
Beautiful Switzerland
Hi Foris!

Afrodelic schrieb:
Die grundsätzliche Kritik richtet sich jedoch weder gegen Raucher, Nichtraucher, Fleischesser oder Vegetarier, sondern ausschließlich AN diejenigen, die doch tatsächlich meinen, dass man etwas durch Verbote aus der Welt schaffen könnte.


Shanna schrieb:
Nun ja, mit Verboten (und Strafen) kann man dort etwas erreichen, wo keine Vernunft herrscht. Leider.

Afrodelic schrieb:
Mit Verboten kann man leider nur vorübergehend was erreichen. Es kehrt mit Sicherheit wieder und das meistens verstärkt, denn Verbote unterdrücken das Verbotene eigentlich nur. Und alles, was unterdrückt wird, drängt naturgemäß darauf, wieder zum Vorschein zu treten

Inspiriert durch die Raucher-Nichtraucher-Debatte poste ich hier ein sehr interessanter Artikel bzgl. gesetzlichen Verboten

Alter Vogel Tugend
Von Thomas Knellwolf

Wenn sich Geschichte überhaupt wiederholt, dann die der Verbote – und das nicht erst, seit es Raucher gibt, sondern seit der Mensch denken kann: «Ich weiss selbst, was gut ist für mich.» Und die Moral von der Geschicht: Vorschriften machen in der Regel keine besseren Bürger.

Raucherinnen und Raucher aller Klassen und jeden Alters vereinigen sich vor Bürogebäuden, auf Balkonen – und neu vor Bahnhöfen. Zusammen bringt sie der Verlust ihrer einst absoluten Lufthoheit. Die schweizerischen Zugunternehmen von den SBB bis zur Wynental- und Suhrentalbahn verbannen seit dem Fahrplanwechsel vom vergangenen Sonntag endgültig alle Raucherwagen von den Schienen. Auch in «geschlossenen Bahnhöfen» darf nicht mehr gepafft werden. In Bahnhofshallen wie in Bern oder auf Passerellen wie in Basel, befinden die Bundesbahnen, zirkuliere die Luft viel zu schlecht.

Rauchverbote sind modern – wie die SBB beweisen – und zugleich ein Relikt aus vergangenen Zeiten. Im Privaten ist heute so viel erlaubt wie noch nie, seit Moses die Zehn Gebote vom Berg Sinai herunterbrachte. Die individuelle Lebensgestaltung ist in den vergangenen Jahrzehnten, ja Jahrhunderten liberalisiert worden. Wer daran zweifelt, rede einmal mit einer betagten Lesbe, einem angegrauten Kiffer und zum Schluss mit einem Fundi-Prediger – Alter und Religion egal.

Mittlerweile herrscht an den meisten Arbeitsplätzen in der Schweiz ein strenges Rauchverbot. Überhaupt wird der öffentliche Raum im Land des Rössli-Stumpens und der Parisienne mehr und mehr zur Frischluftzone. Zusammen mit dem Verbot des blauen Dunstes in Tessiner Restaurants und Bars bildet der Bann der Bahn den Anfang vom Ende eines langen, aber weitgehend kampflosen Rückzugs der Schweizer Raucher. Als frühes Fanal dafür liesse sich rückblickend jener Abend im Jahr 1965 deuten, als Friedrich Dürrenmatt in einer TV-Diskussionssendung einen Aschenbecher in Brand setzte. Damals pafften Schriftsteller, Politiker, ja gar Spitzensportler vor laufender Kamera. Gäste genehmigten sich eine Gauloise, ohne auf die Idee zu kommen, die Gastgeber zu fragen, ob sie dürfen. Drinnen, versteht sich. Die halbe Schweizer Bevölkerung zog in jenen qualmigen Zeiten an Zigaretten, heute ist es noch rund ein Drittel.

Viele wissen aus eigener Einstiegserfahrung: Gelegenheit macht Raucher. Aber stimmt der Umkehrschluss für den vorzeitigen, oft lebensrettenden Ausstieg: Machen weniger Gelegenheiten Nichtraucher? Weisen Verbote den Weg zum rauchfreien Paradies?

Ein Blick in die Vergangenheit zeigt, dass Verbote nicht die wirksamsten Mittel sind, um das private Leben zu steuern. Die Verbesserung des Menschen durch das Verbot und Gebot: Es ist eine Geschichte des wiederholten Scheiterns. Ein erstes Beispiel aus der langen Geschichte der Verbote in der Schweiz liefert eine aufreizende Modewelle, die Anfang des 16. Jahrhunderts aus Frankreich ostwärts geschwappt ist. Frühneuzeitliche Leggins, die «groben und wüsten Lätz», lassen bald die «Schamkapsel» des St. Gallers mannhaft hervortreten – «umso unverschämter, als es Ehrensache ist, sich durch die Grösse derselben auszuzeichnen», bezeugt eine Quelle. Fehlt die natürliche Grösse, hilft man bald mit Taschentüchern und Geldbeuteln nach. Im Lauf der Jahre wachsen die Ansprüche an das – in den Worten des St. Galler Altstadtarchivars Ernst Ziegler – «wahre Modell eines Gliedes». Bald stopfen sich die eitlen Ostschweizer Orangen in den Hosenlatz, «die sie vor den Augen der Damen herausholen und diesen anbieten».

Den moralisch höherstehenden Kreisen in der Gallusstadt geht dies zu weit. Der Bürgermeister erlässt Anno 1508 ein Gesetz gegen den «schädlichen, unnützen und ärgerlichen Überfluss mit etlichen Kleidungen und Schuhen». Es untersagt den Untertanen nicht nur, Penishügel auszustopfen oder zu verzieren, sondern verbietet auch den letzten Schrei der Haute Couture: «zerhauene» (zerschnittene) Hosen und Jacken sowie Vorläufer von Miniröcken und Tops, die mehr entblössen als verhüllen.

Optimismus lohnt sich nicht

Das Beispiel zeigt drei Konstanten der Verbotspolitik: Erstens spielen Moral und Emotionen oft eine hervorragende Rolle, wenn das Alltagsleben reguliert wird. Zweitens werden Regeln gerne auf weitere mehr oder weniger ähnliche Probleme ausgedehnt – der Tabakbann in Zügen auf ganze Bahnhöfe, das Orangenstopfverbot auf die gesamte anrüchige neue Mode. Und drittens: Gesetzgeber sind Kopierer. An vielen Orten weltweit werden heute unter Anleitung der Weltgesundheitsorganisation ähnliche Rauchverbote eingeführt; an vielen Orten der alten Eidgenossenschaft haben sich die hohen Herren in der Zeit der Reformation genötigt gesehen, die Untertanen zur angeblich gottgewollten keuscheren Kleidung anzuweisen.

Die Sittenmandate der frühen Neuzeit repräsentieren und zementieren eine Ständeordnung, deren Rechtmässigkeit damals niemand grundsätzlich hinterfragte. Eingehalten werden die Bestimmungen dennoch nicht, wie das Scheitern des ersten Tabakverbots der Geschichte zeigt: Seine Majestät König Jakob I. von England höchstpersönlich verfasst im Jahre 1603 «Der Rauchhasser oder ein königliches Scherzstück über den Tabak». Britischen Pfeifenrauchern gibt die frühneuzeitliche PR-Schrift wenig Grund zum Lachen. Grossbritannien nimmt einen bedingungslosen Kampf gegen das neumodische Kraut aus Amerika auf. Das Rauchverbot zielt darauf ab, Importmonopolist und Erzfeind Spanien zu schwächen. Schmuggel sorgt allerdings dafür, dass die britischen Raucher ihrer lieben Gewohnheit nicht ganz entsagen müssen. Jakob I. muss einsehen, dass seine Politik zum Scheitern verurteilt ist. Er hebt das Verbot auf und hält fortan seine königliche Hand schützend über Prinzessin Nikotin. Der Grund: Jakob I. hat in der Tabaksteuer eine sprudelnde Einnahmequelle entdeckt.

Wirtschaftliches Kalkül spielt eine nicht zu unterschätzende Rolle, wenn gesetzliche Regelungen erlassen werden. So schützen die St. Galler Kleidermandate die eigene Leinenindustrie, das «weisse Gold» der Stadt, vor der Konkurrenz durch bessere oder billigere Importe. Wirtschaftliche Überlegungen verbergen sich auch hinter den Rauchverboten der SBB: Man verspricht sich einen tieferen Reinigungsaufwand, «so dass sich die Rauchfreiheit des öffentlichen Verkehrs nach wenigen Jahren auch finanziell rechnet», trotz Mehrkosten von mehreren Millionen Franken, um die Züge umzurüsten und um Verbotsschilder anzubringen.

Nicht allzu optimistisch sollte die Bahnen allerdings die Tatsache stimmen, dass die 400-jährige Geschichte der Rauchverbote auch eine Geschichte der permanenten Missachtung der Vorschrift ist. Alle Bahnkunden, die zu später Stunde in einem der Nichtraucherzüge voller Tabak- und Cannabis-Wolken sitzen, kann das nicht überraschen. Bei allen Zuwiderhandlungen sind die Verbote dennoch nicht ganz wirkungslos. Unzählige Züge auf dem Schweizer Schienennetz werden ohne Qualm verkehren, weil man nicht rauchen darf. Unzählige Brände sind in den vergangenen Jahrhunderten verhindert worden, weil man in den Städten nicht rauchen durfte.

Die ersten Verbote der «Sauferei des Nebels» in unseren Gefilden sind auf die Häuser Gottes beschränkt, in denen zuvor selbst Pfarrherren gepafft haben. Rasch werden sie ausgedehnt. Mitte des 17. Jahrhunderts untersagen die hohen Herren von St. Gallen den Tabak als «eingebildete, geringe Ergötzung». Der Stand Bern erklärt den Konsum 1660 zu einem schweren Verbrechen. Noch bis 1849 verbietet ein Walliser Gesetz das Rauchen allen unter Zwanzigjährigen bei Geld- oder Freiheitsstrafe.

«Die immer gleichen Klagen und Erlasse zeugen davon, dass die Bestimmungen nicht durchgesetzt werden konnten», sagt Rechtshistoriker Lukas Gschwend, Professor an den Universitäten St. Gallen und Zürich. In der «Blütezeit der Verbote» fehlt den Herrschern der Polizeiapparat dazu. Vielerorts feiert die harte Tour Urständ: In Lüneburg, Russland und der Türkei steht auf Rauchen die Todesstrafe. Sultan Murad IV. ging der Legende nach sogar verkleidet einkaufen. Erhielt er Tabak, «zueckte er Augenblicks seinen Sebel und schlug dem Verkauffer gleich den Kopff hinweg».

Es dauert lange, bis es die Regierungen in ganz Europa dem englischen König gleichtun und mit Steuern und Monopolen den Rauchern das Leben vergällen. Das plumpe Verbot hat sich zu oft als unwirksam herausgestellt. Regelmässige Preissteigerungen dagegen erweisen sich als effizientere Methode, um die Zahl der Raucher zu verringern.

Trotzdem: Weder mit Steuern noch mit Bussen, weder mit Kerkerstrafen noch mit Enthauptungen lassen sich die Verbote erfolgreich durchsetzen – umso weniger, als sich jene, die gegen Normen verstossen, nicht im Unrecht fühlen. «Verbote müssen auf Akzeptanz stossen, damit sie eingehalten werden», erklärt Gschwend. «Das war im Absolutismus der frühen Neuzeit nicht anders als heute.»

Allerdings sind Rauchverbote heute weit akzeptierter als noch vor kurzem. Gemäss einer unlängst von der Krebsliga veröffentlichten Umfrage befürworten 71 Prozent der Nichtraucher und immerhin 34 Prozent der Raucher Tabakverbote in Cafés und Restaurants.

Cocktail der Entwöhnung

Solch breite Zustimmung macht die heutige Prohibitionspolitik vermutlich wirksamer als viele der vorhergehenden Versuche. Irlands Erfahrungen als Europas postmoderner Prohibitionspionier jedenfalls sind überaus gut. Tatsächlich haben mehr Raucher ihre Sucht aufgegeben, seit sie weniger Gelegenheiten haben, Tabak zu konsumieren. In Real Irish Pubs und an Arbeitsplätzen ist Rauchen seit März 2004 untersagt. Neue irische Ex-Raucher schwören auf den Erfolg der Verbote. In Umfragen sprühen viele Noch-Raucher vor Zuversicht, den Ausstieg dank der staatlichen Hilfestellung bald zu schaffen. In Italien ist das Rauchen seit vergangenem Januar in Gaststätten, an Arbeitsplätzen, in öffentlichen Gebäuden und Verkehrsmitteln untersagt. Innert zehn Monaten ist die Zahl der Raucher um acht Prozent gesunken. Allerdings ist damit noch nicht erwiesen, dass viele dieser Leute ihre vielleicht letzte Zigarette ausdrückten, weil sie in der Osteria oder bei den Ferrovie dello Stato nicht mehr rauchen dürfen.

Im Westen beschränkt sich der staatliche Versuch einer Kollektiventwöhnung nämlich nicht auf Verbote. Überall wenden Regierungen eine ähnliche Mischung von Massnahmen an, wie sie die Schweiz im Jahr 2001 beschloss: Preis der Zigarettenpäckchen hochschrauben, Werbung und Konsum teilweise verbieten, Aufklärungskampagnen und Rauchentwöhnung fördern. Der helvetische Tabakverbrauch ging indes bereits zwischen 1994 und 2002 um satte neun Prozent zurück. Weshalb braucht es Verbote, wenn auch ohne viele Raucher aus dem oft tödlichen Geschäft aussteigen? Zwar bewirkt der Erlass von Raucheinschränkungen einen Aussteigerschub. Niemand weiss allerdings, ob dieser Schub nachhaltig ist. Darf ein liberaler Staat die Freiheit der Raucher beschneiden, überall dem nikotinhaltigen Vergnügen – oder: der krankhaften Sucht – nachzugehen?

Zweifellos sprechen medizinische und volkswirtschaftliche Gründe gegen den Tabak. Präventivmediziner und Gesundheitsökonomen zeigen dies gut und gerne auf. In der Schweiz sterben Tag für Tag über zwanzig Frauen, Männer und Kinder an Tabakkrankheiten. Auf bis zu zehn Milliarden Franken werden die jährlichen Kosten des Rauchens geschätzt. Angesichts solcher Zahlen muss selbst ein Mensch, der viel Nikotin in sich hineinzieht, eingestehen: Freiheit ist auch die Freiheit der anderen, dem giftigen Rauch auszuweichen. Weshalb aber werden Raucherzonen da abgeschafft, wo niemand freiwillig sitzen muss? Weshalb stehen Rauchverbotsschilder in Sportstadien, in denen sich der Rauch schnell verflüchtigt? Gehen diese Massnahmen nicht zu weit in einer freiheitlichen Demokratie? Grundsätzlich bleibt es in einem liberalen Staat jedem Individuum überlassen, sich selbst (aber niemand anderen) durch Zigarettenkonsum der Todesgefahr auszusetzen.

«Die Diskussion um Tabakverbote hat einen hysterischen Overdrive», stellt der Zürcher Historiker Philipp Sarasin fest. Ein Rückfall in sittenstrengere Jahrhunderte drohe allerdings nicht, sagt der Universitätsprofessor für Geschichte der Neuzeit: «Bereits bei der Einführung der Gurten- oder der Helmtragpflicht im Strassenverkehr oder beim Impfzwang für Kinder ist gewarnt worden, die Schweiz verkomme zu einem Polizeistaat.» Die Schweiz sei auch durch noch so strenge Tabakverbote nicht auf dem Weg in die Diktatur.

http://www.weltwoche.ch/artikel/?AssetID=12797&CategoryID=73
 
Werbung:
Zocken, tanzen, rauchen, heilen

Was ist gut, was schlecht für die Menschen? Das ist relativ. Jede Zeit definiert ihre Drogen neu. Die Schweiz der 1990er Jahre beschäftigt sich mit Heroin und Ecstasy, ab der Jahrtausendwende rücken eher Kokain, Alkohol und Tabak ins Zentrum der öffentlichen Diskussion. Als der Tabak in Europa eingeführt wurde, galt er zunächst als ein exotisches Allheilmittel. Die europäische Medizin der frühen Neuzeit hat den getrockneten Blättern aus der Neuen Welt fast übersinnliche Kräfte zugeschrieben: «Toback mit Pfeiffen getruncken, heilet die Geschwüre der Lunge und stillet den alten Husten.» Ärzte und Quacksalber verschreiben Tabak zur Entschleimung von Organen und auch gegen Krätze, Kopfschmerzen und Asthma.

Bald machte sich aber Skepsis breit – Tabak, Kaffee und Tee geraten auf die watch list: Von den neuartigen Stoffen aus fernen Ländern irritiert die «trockene Trunkenheit» die Menschen am meisten. Und Irritation bildet einen guten Nährboden für Verbote, wie auch die Geschichte des Kaffees in der Schweiz lehrt. Über die braune Bohne wurden ähnliche gesellschaftliche Konflikte ausgetragen wie über den blauen Dunst. Kaffeehäuser gelten als Orte der Aufklärung und des Aufruhrs, Zigaretten als Symbole des Kampfs der Klassen und der Geschlechter.

Die Eidgenossen beginnen Ende des 17. Jahrhunderts, Kaffee zu konsumieren. In unheiliger Allianz mit Bierbrauern und Weinhändlern lehnt der Klerus das neue «türquische Getränck heidnischer Herkunft» am energischsten ab. Die «Kaffeeschenken», wettert er, hielten die Menschen vom Gottesdienst ab, zerstörten den altgewohnten Tagesrhythmus und die gottgewollte Ständeordnung. In den Kaffeehäusern sitzen die Menschen bis spätnachts ohne Rangordnung beieinander. Bildungs- und Besitzbürger, Aufgeklärte und Neureiche besprechen politische und wirtschaftliche Angelegenheiten, träumen von der Revolution, zocken und tanzen.

Den Obrigkeiten passt das ganz und gar nicht. Der Basler Rat verbietet 1769 «zum Besten und Nutzen Unserer Landleute (ausser denen Wirthen für die Reisenden) den Gebrauch und das Trinken des Kaffee, es sey mit Milch oder pur». In Bern schliessen die Herrscher 1699 die Kaffeehäuser, weil Gäste «Tagesneuigkeiten» diskutieren. Die besseren Berner befürchten, die Stadtjugend gerate unter schlechten Einfluss. Auch die hohen Herren von Zürich erlassen über das ganze 18. Jahrhundert verteilt Sittenmandate, die «das Trinken des Café, Thé und Choccolate» unter Busse stellen – erfolglos: Mehr noch als der Tabak entspricht der Kaffee dem aufklärerischen Zeitgeist der Nüchternheit. Und die Arbeiter in den frühen Schweizer Fabriken schätzen die stimulierende Wirkung ihres kaffeeartigen Aufgusses. Bereits 1791 hält der Göttinger Historiker Christoph Meiners in seinen «Briefen über die Schweiz» fest: «Dies Caffeetrinken [...] hat sich aus den Wohnungen und Werkstätten der Fabrikarbeiter in die Sennhütten auf den höchsten Alpen verbreitet.» Die Zeilen dokumentieren auch, dass die Bestrebungen nach einer koffeinfreien Schweiz wenig mehr brachten als enttäuschte Hoffnungen der Gesetzgeber.

Gesundheitsargumente spielen bei den frühneuzeitlichen Konsumverboten eine untergeordnete Rolle. Noch bis weit ins 20. Jahrhundert geht es bei den Versuchen, den blauen Dunst einzudämmen, nicht ums körperliche Wohlergehen der Aktiv- und schon gar nicht der Passivraucher. In der Alkoholfrage werden moralisch-sittliche Argumente vergleichsweise früh mit medizinisch-wissenschaftlichen verknüpft – mit fatalen Folgen.

Amerikas Way of Lie

In der Schweiz des 19. Jahrhunderts saufen Arbeiter, Taglöhner, Spinner, Weber vor allem den «Härdöpfeler» in rauen Mengen. Verbesserte Destilliermethoden machen den Kartoffelschnaps hochprozentiger und die sozialen Folgen gravierender. Parallel zum Volumenprozent in den Flaschen und zum Trinkerelend in den unteren Schichten steigt der Einfluss der Alkoholgegner in Europa und in den USA. Von 1919 bis 1933 wollen die amerikanischen Gesetzgeber die Nation durch ein Verkaufsverbot von der Angebotsseite her trockenlegen. Eine Mär ist die verbreitete Vorstellung, dass in den Jahren der bekanntesten Prohibition der Weltgeschichte so viel getrunken wird wie nie zuvor. Der Alkoholkonsum sinkt vielmehr um die Hälfte – doch die Nebenwirkungen des Verbots sind dramatisch: Der alkoholische No-Way-of-Life macht die halbe Bevölkerung der USA zu Komplizen des organisierten Verbrechens. In den 1920er Jahren sterben in Amerika 35000 Menschen an Alkoholvergiftungen, der Schnapskrieg der Mafia fordert weitere 2000 Tote. Gepanschter Schnaps führt zu Erblindungen und Lähmungen.

Die Schweizer Alkoholpolitik torkelt derweil auf anderen Abwegen. Seit 1885 gilt das bis heute existierende eidgenössische Alkoholmonopol. Bereits 1912 fliesst nur noch halb so viel gebranntes Wasser die eidgenössischen Kehlen hinunter wie vor der Einführung der Schnapssteuer. «Schnapsdörfer» seien zu «blühenden Dörfern» geworden, schreibt ein Bewunderer der Bundeshoheit über das Hochprozentige. Ein Pionier der Suchtforschung widerspricht: «Die Schweiz hat die höchsten Berge, sie hat aber noch immer die grössten Schnapsflaschen.»

Einig ist man sich, dass der fiskalische Zugriff Nebenwirkungen hat: Die Konsumenten greifen vermehrt zu den billigeren gegorenen Getränken. In den zwanzig Jahren nach Einführung der Schnapssteuer steigt der Verbrauch von Wein und Bier um fast die Hälfte auf sagenhafte 273 Liter pro erwachsene Person und Jahr (2004 sind es 40 Liter Wein und 57 Liter Bier). Solche Ausweicheffekte lassen sich auch heute nicht durch eine noch so fein abgestimmte Suchtpolitik verhindern: Raucher umgehen Steuern auf Fertigzigaretten, indem sie vermehrt selber drehen. Und Jugendliche mixen sich ihre Drinks selber, seit Alcopops happig besteuert werden.

Helvetische Trinkgegner möchten am Anfang des 20. Jahrhunderts am liebsten die gesamte alkoholische Achse des Bösen ausmerzen, die in ihren Augen Bier mit Wein und Schnaps verbindet. Mit Radikalität propagieren sie die Utopie einer drogenfreien Gesellschaft. Der verbissene Kampf der Antialkoholiker führt jedoch zu massiven Kollateralschäden. Die Abstinenzler sind beseelt von der Idee, soziale Probleme wie Alkoholismus, Kriminalität und Prostitution durch Eheverbote und medizinische Eingriffe auszurotten. Konsequenz aus ihrem Glauben ist eine Psychiatrie, die bisweilen näher bei der Tierzucht als der Fürsorge liegt.

Den Abstinenzideen haftet heute – nicht nur aufgrund der real erfolgten Menschenzucht – das Stigma des Rückwärtsgewandten an, damals aber sah sich etwa der Sozialistische Abstinentenbund dem Fortschritt zugewandt. Den Kapitalismus möchten die Null-Promille-Sozialisten beispielsweise über den Umweg eines Alkoholverbots beim Zürcher Generalstreik 1912 überwinden. Es gelingt ihnen aber nicht einmal für die kurze Dauer des Protests, die «Sümpfe der Trinkerei» trockenzulegen, in denen die Arbeiterklasse ihrer Ansicht nach versinkt.

Auch Abstinenzler von der entgegengesetzten Seite des politischen Spektrums schreiben sich den alkoholfreien Fortschritt auf die Fahnen. «Überall nur Wein-, Bier- und Schnapswirtschaften mit ihrem unsäglichen Qualm und der durch Menschengift und Alkoholduft durchgeschwängerten Luft», riecht der Antialkoholiker Ernst Rüdin Anno 1907. Die Zeilen des angehenden Arztes und späteren Nationalsozialisten über die üblen Zustände in seiner Heimatstadt St. Gallen richten sich an seinen wissenschaftlichen Mentor Auguste Forel. Der renommierte Ameisenforscher, Psychiater, Hirnanatom und Sozialist Forel hat schon 1892 in Zürich die erste Schweizer Loge des Guttemplerordens gegründet zum «Kampf gegen die Trunksucht». Die Trinkerei gilt dem «eugenischen Jüngerkreis» um Forel als vorrangige Ursache von Krankheit und Tod, Verbrechen, Sittenverfall, ökonomischen Schäden und «Rassenverderbnis».

So radikal wie Kollege Rüdin gibt sich kein anderer aus dem Wissenschaftler- und Politikernetz. Auf einem internationalen Antialkoholkongress in Bremen fordert der St. Galler, Alkoholiker seien zu sterilisieren. Unter Hitler wird sein Wunsch Befehl: Rüdin, inzwischen in München sesshaft, gestaltet 1933 das «Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses» mit. Die Paragrafen ermöglichen es den Nazis, 30000 Menschen wegen «schweren Alkoholismus» gesetzeskonform zu sterilisieren und zu kastrieren. Ohne Gesetzesgrundlage wird Gleiches in der Schweiz in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mehreren Dutzend Alkoholikern angetan.

Darauf einen Absinth

Vergleichsweise harmlos sind die Auswirkungen der eidgenössischen Miniprohibition. Schweizer Männer erklären 1908 den Wermutschnaps Absinth gegen den Willen des Bundesrats für illegal. Im erbitterten Abstimmungskampf haben die Verbotsbefürworter immer wieder die Geschichte eines Landarbeiters ins Feld geführt, der im Vollrausch seine schwangere Frau und seine beiden Kinder erschoss. Der Konsum der fée verte, der grünen Fee, mit dem toxischen Inhaltsstoff Thujon fördere Wahnsinn, Lähmungen, Prostitution und Kindsmissbrauch, behaupten die Antiabsinthisten.

Das Absinthverbot in der Bundesverfassung überlebt die Prohibition in den USA um sieben Jahrzehnte. Die illegale Absinthproduktion ebenso: Nach der verlorenen Abstimmung von 1908 werden die jurassischen Hersteller 1909 entschädigt. Dankbar für den Zuschuss aus der Bundeskasse, produzieren die meisten kleinen Brennereien im Val-de-Travers schwarz weiter.

Zuletzt führt das Verbötchen des hochprozentigen Wermutstropfens zu absurdem Aktionismus: Polizisten durchsuchen 1983 nach einem Besuch François Mitterrands in Neuenburg den Weinkeller eines noblen Restaurants. Der französische Staatspräsident und der Bundespräsident Pierre Aubert als Gastgeber haben sich dort ein «Soufflé glacé à l’absinthe» gegönnt. Der Neuenburger Staatsanwaltschaft stösst es sauer auf. Als die gewissenhaften Beamten bei der Hausdurchsuchung in der Gaststätte keinen verbotenen Alkohol finden, wird der Wirt kurzerhand wegen Fälschung der Speisekarte angeklagt. Obwohl der Gastronom gesteht, für die Nachspeise Pastis statt Absinth zu verwenden, wird er in zweiter Instanz freigesprochen.

Das Absinthverbot verschwindet Anfang 2005. Der Geist der Verbotspolitik vergangener Zeit geht weiter um, wenn es ums Verbot von Sonntagsverkäufen geht, um Wegweisungsartikel oder eben ums Rauchen.


Thomas Knellwolf ist Historiker und arbeitet als freier Journalist.

http://www.weltwoche.ch/artikel/?AssetID=12797&CategoryID=73

Achilleus
 
Huhu,

danke für den Text! :)

Ja, da steht einiges an Argumenten drinnen, was ich als stichhaltig empfinde.
Kleiner Nachtrag: Absinth gibt es wieder legal, allerdings darf der Thujongehalt eine gewisse Höhe nicht überschreiten...

Wie ich schon sagte: meinetwegen kann jeder tun und lassen, was er will so lange er damit niemand anderem schadet.
Also kann meinetwegen jeder rauchen, der es möchte - nur nicht immer und nicht überall. Meine Grenze ist so, daß bei mir zu Hause niemand rauchen DARF (und das wird auch sehr freundlich akzeptiert) und ich beim Essen nicht von Rauchschwaden beeinträchtigt werden möchte - was auch von Rauchern akzeptiert werden kann. (=> damit meine ich diejenigen am selben Tisch, die mit MIR in einem Gasthaus sitzen, nicht "die anderen rundherum").
Das selbe denke ich zu Alkoholkonsum: wer trinken will, der soll das tun und wer *überspitz* sich totsaufen will, der trägt selbst die Verantwortung dafür. Aber es hört auch hier auf, wenn jemand anders Schaden nehmen kann - wenn etwa ein Besoffener noch toll mit dem Auto nach Hause fährt und damit das Leben und die Gesundheit anderer riskiert.

LG Shanna
 
Es ist erstaunlich, wie vorurteilsfrei wir zu denken vermögen, wenn es gilt, eine Dummheit vor uns selbst zu rechtfertigen


El-Hombre
 
Werbung:
Zurück
Oben