Geschichte vom besten Kämpfer der Welt
Die fünfte Botschaft heißt: ich glaube, was ich will.
Bodo, ich möchte dir in Bezug auf die nächste Botschaft die Lebensgeschichte eines deiner Leben erzählen.
Du meinst eines meiner wirklichen früheren Leben?
Ja, es macht noch deutlicher, wie dein Wille deine Realität beeinflusst. Aber ich bitte dich noch zu bedenken, dass dieses Leben parallel zu deinem läuft. Es ist also kein früheres Leben. Du lebst im China des 17. Jahrhunderts. Genauer gesagt, wirst du 1648 geboren und stirbst 1715. Dein Name ist Shai Wong. Du erlebst als Siebenjähriger, wie deine Familie von einer Verbrecherbande überfallen und brutal ermordet wird.
Warum erzählst du mir so eine Geschichte, Ella?
Weil sie sehr deutlich macht, wie dein Wille deine Realität bestimmt, und weil du in deinem jetzigen Leben diesem Shai Wong sehr ähnlich bist.
In welchem Punkt bin ich ihm ähnlich?
Das wirst du selbst herausfinden. Durch jenes Ereignis entsteht bei dem kleinen Shai Wong der Wunsch, ein unbesiegbarer Kämpfer zu werden. Er will nie wieder zulassen müssen, dass Menschen, die er liebt, gewaltsam aus seinem Leben gerissen werden. Er will so stark werden, dass er alle beschützen kann.
Nach dem Überfall nimmt sich sein Onkel seiner an. Dieser Onkel ist zwar sehr wohlhabend, aber er hat von Kindererziehung keine Ahnung. Er lebt allein und arbeitet den ganzen Tag. Nach ein paar Wochen sieht er ein, dass er den kleinen Wong nicht selbst erziehen kann. Er will ihm aber die beste Erziehung zukommen lassen. Das ist er seinem Bruder schuldig. Er beschließt, den Jungen in einem Shaolin-Kloster unterzubringen, wird jedoch erst einmal abgewiesen. Die Kinder, die in dieses Kloster wollen, müssen zuerst eine Reihe von Aufnahmeprüfungen bestehen. Sie werden auf ihre Intelligenz getestet. Shai Wong fällt durch. Bei diesen Aufnahmeprüfungen erlebt der kleine Wong das Kung Fu-Training der Mönche mit. Er ist so begeistert von dieser hohen Kampfkunst, dass er unbedingt in dieses Kloster aufgenommen werden will. Als er dann von seinem Onkel erfährt, dass er abgelehnt wurde, bricht für ihn eine Welt zusammen. Er ist so verzweifelt, dass sein Onkel wieder zu dem Kloster geht und eine große Summe Geld für das Kloster spendet, damit sie seinen Neffen aufnehmen. Da das Kloster arm ist und das Geld dringend benötigt wird, wird Shai Wong doch auf Probe aufgenommen. Der kleine Wong strengt sich unheimlich an, um den Anforderungen des Klosters gerecht zu werden. Er wird ein Muster für Disziplin und Fleiß. Er beginnt, seinen Ausbildern zu gefallen, und wird der Lieblingsschüler seines Kung Fu-Lehrers. So vergehen einige Jahre. Shai Wong hat den Vorfall mit seiner Familie nie vergessen, aber er denkt selten daran. Er konzentriert sich voll auf seine Ausbildung und hat einen brennenden Ehrgeiz. Nichts ist ihm zu viel. Mit siebzehn Jahren beendet er seine Kung Fu-Ausbildung. Er wird der bislang jüngste Kung Fu-Meister, den je ein Shaolin-Kloster gesehen hat. Doch die Priesterweihe wird ihm noch verwehrt. Er soll erst noch in den verschiedensten anderen Disziplinen seiner Ausbildung weiterkommen.
Er bemüht sich sehr, auch diese Ziele zu erreichen, aber ihn verlässt die Motivation. Mit neunzehn sieht er nach einem Gespräch mit seinem Lehrer ein, dass er nicht zum Mönchsein geboren ist. Er verlässt das Kloster. Er ist mittlerweile seinem Lehrer im Kung Fu fast ebenbürtig. Der einzige Ehrgeiz, der ihn treibt, ist, noch besser zu werden. Ihm ist bewusst nicht ganz klar, was er will, aber unbewusst hat er sein Ziel, ein unbesiegbarer Kämpfer zu werden, nie aufgegeben. Genauer gesagt, will er jetzt der beste Kämpfer der Welt werden. Ohne bewusstes Ziel zieht er durch das Land. Immer wieder gerät er in Situationen, in denen er sich selbst oder andere verteidigen muss. Ungewöhnlich oft wird er von anderen Menschen angegriffen. Es hat den Anschein, als ob er die Gefahr förmlich anzöge.
Auf seiner Reise durch das Land hört er immer wieder Gerüchte von großen Kämpfern, die über magische Fähigkeiten verfügen sollen. Diese Geschichten lassen ihm keine Ruhe. Er will herausfinden, ob es wahr ist, dass diese Kämpfer wirklich so unbesiegbar sind. Wenn dies so wäre, dann müsste er herausbekommen, wie sie das machen.
Als er in eine Stadt kommt, in der einer dieser angeblich unbesiegbaren Kämpfer lebt, sucht er ihn auf. Es ist ein großer starker Mann mit sehr gewalttätigem Aussehen. Shai Wong versucht den Kämpfer zu beruhigen, aber vergebens. Er wird gezwungen, sich zu verteidigen. Durch die Gerüchte über die Unbesiegbarkeit dieses Kämpfers und sein brutales Aussehen schlägt Shai Wong stärker zu, als er es eigentlich wollte. Er tötet den Mann, ehe er das richtig begreift.
Shai Wong zieht fluchtartig weiter. Aber sein Kampf bleibt nicht unbemerkt. Es entwickeln sich Gerüchte über seine Unbesiegbarkeit. Von nun an kann er den Mann, den er getötet hat, verstehen. Er versteht jetzt, warum dieser gleich so aggressiv auf ihn reagiert hat. Er wird von vielen jungen Männern verfolgt, die sich nun mit seiner Kampfkunst messen wollen. Er findet keine Ruhe mehr. Egal wo er hingeht, immer ist einer da, der wissen will, wer der Stärkere ist. Sein Leben gleicht nun einer immerwährenden Flucht. Sobald er in eine Stadt kommt, in der einer dieser großen Kämpfer sich aufhält, wird er zu einem Zweikampf gefordert. Je mehr Kämpfer er besiegt, desto mehr wollen sich mit ihm messen. Sein Ruf eilt über das ganze Land. Er gewinnt alle Kämpfe, obwohl er gar nicht kämpfen will. Er hat sein Kung Fu gelernt, um den Schwachen und Kranken zu helfen. Aber jetzt ist er gezwungen, sinnlose Wettkämpfe zu bestreiten, nur um zu wissen, wer der Bessere ist.
Ihm ist klar, dass er, wenn er am Leben bleiben will, seine Kampfkunst immer weiter verbessern muss. Er sucht alle großen Lehrer des Landes auf und lässt sich in deren Kunst unterrichten. Immer wieder wird er zum Kämpfen gezwungen.
Sein ganzes Leben besteht aus Kampf. So reist er rastlos durch das Land und wird immer besser im Kung Fu. Mittlerweile ist er 45 Jahre, das heißt, er hat sich seit 38 Jahren nur aufs Kämpfen konzentriert. Er hat den Ruf, der größte Kämpfer des ganzen Landes zu sein. Man spricht ihm magische Fähigkeiten zu. Er muss ein Halbgott sein, sagen die Menschen. Aufgrund dieses Rufes wird er jetzt immer seltener herausgefordert. Wer will sich schon mit einem Gott anlegen? Es gelingt ihm, sich in einer Stadt niederzulassen. Er lebt von seinem Ruf. Sein Geld erhält er von den Menschen, die er beschützt. Aber dieses Leben macht ihn nicht zufrieden. Er lebt in der ständigen Angst, aus dem Hinterhalt getötet zu werden. Er beschließt, in die Einsamkeit zu gehen und sein Leben dem Geistigen zu widmen. Mit der Zeit würden die Gerüchte um ihn verstummen. Die Leute würden denken, dass er getötet worden sei, und er könnte irgendwann in Ruhe leben.
Er geht in die Berge. Er lässt sich einen Bart wachsen und zieht Bettlerkleidung an. Gelegentlich bekommt er von vorbeiziehenden Pilgern ein Schälchen Reis zu essen. Dieses Leben kann Shai Wong nicht genießen. Aber es ist besser, als in der ständigen Angst zu leben. Von Zeit zu Zeit zieht er aus Sicherheitsgründen weiter.
Eines Tages begegnet er einem alten Mann, der sein Interesse weckt. Er kann sich das zunächst gar nicht erklären. Dieser Mann lebt, genau wie er, von den Almosen der Menschen. Er freundet sich mit seinem Leidensgenossen an. Nach vielen Monaten, in denen er seinen Freund kennengelernt hatte, vertraut er sich ihm an. Er erzählt ihm die ganze Geschichte von den vielen Kämpfen. Er glaubt, seinen Ohren nicht zu trauen, als er erfährt, dass sein Weggefährte aus dem gleichen Grund wie er in die Einsamkeit gegangen war. Die beiden Männer hatten bisher fast nichts miteinander geredet. Sie blieben einfach nur zusammen. Doch jetzt wurde alles anders. Durch die gegenseitigen Erzählungen merkt Shai Wong, dass in ihm die Neugier immer größer wird, wer von den beiden jetzt besser sei. Aber der alte Mann war sicher zwanzig Jahre älter als er. Insofern hat sich diese Überlegung erledigt, denkt er.
Sein Weggefährte erkennt, dass Shai Wong so denkt und bietet ihm plötzlich an, ihm seine Kampfkunst zu zeigen. Shai Wong lehnt zuerst ab, denn er will den alten Mann nicht verletzen. Aber dieser bleibt hartnäckig. Sie machen sich beide bereit für ein gemeinsames Training. Shai Wong will vorsichtig sein, damit er seinen Freund nicht verletzt. Als sich die beiden Kämpfer gegenüberstehen, wagt scheinbar keiner von beiden, den ersten Schritt zu machen. Der alte Mann fordert Shai Wong nach einer Viertelstunde, in der sich die beiden fast bewegungslos gegenüberstehen, auf, ihn anzugreifen. Shai Wong tut, was ihm aufgetragen wird. Natürlich greift er nur vorsichtig an, doch ehe er sich versieht, liegt er plötzlich auf dem Boden. Der alte Mann macht ihm klar, dass er richtig angreifen soll, was Shai Wong auch tut. Aber so sehr er sich bemüht, er landet keinen einzigen Treffer. Immer findet er sich auf dem Boden wieder. Nach zehn Minuten gibt er völlig verwirrt auf. Wie kann das sein, fragt er sich. So gut kann doch ein Mensch gar nicht sein. Er muss tatsächlich ein Gott sein, denkt Shai Wong.
Ich hatte den Erzählungen von Ella so gespannt zugehört, dass ich alles um mich herum vergaß. Ich erlebte die Geschichte plötzlich, als ob ich selbst dieser Shai Wong wäre. Ich fühlte seine Gefühle und sah auch die Umgebung der Berge ganz deutlich vor mit. Plötzlich hörte ich Ella mich rufen.
Bodo, bleib hier. Verlier dich nicht in Shai Wong. Bleib du selbst, Bodo. Es ist wichtig, dass du dich weiterhin als Bodo wahrnimmst. Du könntest sonst Identitätskonflikte bekommen.
Alles klar, Ella. Ich bin voll da. Erzähl bitte weiter.
Shai Wong ist also völlig durcheinander, gleichzeitig aber total beeindruckt. Er bittet seinen weisen alten Freund, sein Lehrer zu werden. Dieser meint, er habe schon lange keinen Schüler mehr gehabt, und er würde sich sehr darüber freuen, ihn unterrichten zu können. Das Training sehe jedoch ganz anders aus als alles, was Wong bisher gemacht habe. Shai Wong ist bereit, alles zu tun, um so gut zu werden wie sein Lehrer. Ihm ist klar, dass er dadurch der beste Kämpfer der Welt werden könnte.
Die Lektionen, die sein Lehrer ihm erteilt, sind fürwahr seltsam. Als erstes bittet er Wong, eine Spinne zu beobachten, die in ihrem Netz sitzt und auf Beute wartet. Ohne zu wissen warum, schaut sich Wong die Spinne viele Wochen unentwegt an. Plötzlich hat er den Eindruck, diese Spinne selbst zu sein. Er kann sich total in sie hineinfühlen. Dieses Erlebnis dauert nicht sehr lange, aber danach sieht er die Spinne mit anderen Augen. Er hat seine Wahrnehmung verändert. Die Spinne, die mindestens vier Meter von ihm entfernt ist, sieht er, als ob es nur vierzig Zentimeter wären. Er geht zu seinem Lehrer und sagt ihm, er habe gelernt, was zu lernen war.
Ohne danach zu fragen, was er gelernt hatte, gibt dieser Wong die nächste Aufgabe. In der Nähe des Unterschlupfes, in dem die beiden leben, fällt ein kleiner Sturzbach den Berg hinunter. Wong soll nun diesen Bach beobachten, und zwar an einer Stelle, wo der Bach einen kleinen Wasserfall bildet. Wong tut, was ihm aufgetragen wird, und beobachtet viele Wochen diesen Bach. Plötzlich hat er den Eindruck, dass das Wasser viel langsamer fließt. Er kann sogar erkennen, dass der Bach in vielen einzelnen Tröpfchen den Berg hinunterfällt. Normalerweise kann man das nicht erkennen, wie du weißt.
Ich weiß, das menschliche Auge ist dafür zu träge.
Genauso ist es, aber diese Wahrnehmung hat sich bei Wong verändert. Prinzipiell ist das menschliche Auge in der Lage, sehr viel mehr wahrzunehmen, als ihr denkt. Doch dazu werden wir noch kommen. Wong geht jetzt zu seinem Lehrer und sagt ihm, er habe wieder gelernt, was zu lernen war. Ihm war klar, dass dieser die Fähigkeit bei ihrem Zweikampf gegen ihn eingesetzt haben musste, um schnell genug reagieren zu können. Wong dachte, er sei jetzt in der Lage, sein Kung Fu so zu verbessern, dass er es seinem Lehrer gleichtung könne.
Dieser aber sagt ihm, dass er noch sehr viel zu lernen habe. Er schickt ihn in die Stadt. Er solle sich als Bettler in die Straßen setzen und seine Augen den ganzen Tag geschlossen halten. Wong tut, was ihm aufgetragen wird. Er versteht nicht, wozu es gut sein soll, aber er ist überzeugt, dass es seinen Sinn hat. Viele Monate vergehen, und Wong hält den ganzen Tag seine Augen geschlossen. Mittlerweile weiß er genau, wenn jemand zu ihm kommt und ihm Geld hinwirft. Er hört am Klang der Münze, welche es ist, und weiß auch am Abend, wie viel er zusammen hat. Er ist nicht sicher, aber er denkt, dass er die Lektion gelernt habe, und kehrt zurück zu seinem Lehrer. Dieser empfängt ihn sehr herzlich, sagt ihm aber, dass er seine Lektion noch nicht richtig verstanden hat. Er schickt ihn wieder zurück, aber diesmal nicht auf die Straße, sondern zu einem befreundeten Heiler. Er lässt diesem Heiler von Shai Wong ausrichten, ihm einen Gefallen zu tun und Wong zu unterrichten. Wong versteht zwar nicht, warum er die Heilkunst lernen soll, tut aber, was ihm aufgetragen wird.
Dieser Heiler arbeitet mit der Energie seiner Hände. In deiner heutigen Zeit würde er als Geistheiler bezeichnet. Wong sieht diesem Heiler viele Monate zu. An einem sehr warmen und trüben Abend passiert dann plötzlich etwas Seltsames. Wong ist schon sehr müde, aber er sieht seinem Meister weiterhin zu. Er kann seinen Blick kaum noch scharf halten. Die Bilder verschwimmen vor seinen Augen. Auf einmal hat er den Eindruck, dass aus den Händen seines Meisters bunte Farben leuchten. So etwas hat er noch nie gesehen. Es muss die Energie sein, mit der er heilt. Als er jedoch genau hinschaut, verschwinden diese Farben. Wong meint schon, es sei eine Halluzination gewesen, aber plötzlich tauchen die Farben wieder auf. Nur jetzt sieht er sie nicht allein aus den Händen kommen. Der ganze Körper strahlt dieses seltsame Licht aus. Und auch der Körper des Patienten. Wong schaut sich seine Hand an. Auch er selbst leuchtet in diesen bunten Farben. Er sieht genau, wie sein Meister seinen Patienten behandelt. Überall dort, wo die Farben hässlich und schmutzig aussehen, bringt er durch seine Hände wieder schöne Farben hinein. Überzeugt, diese Lektion jetzt endlich gelernt zu haben, kehrt er wieder zurück zu seinem Meister. Er versteht zwar noch nicht, was er mit dieser Fähigkeit anfangen soll, aber er spürt ganz deutlich, dass seine Zeit bei dem Heiler zu Ende ist. Zu Hause angekommen, bittet er seinen Lehrer um Aufklärung.
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