Ich sammle Geschichten,wer macht mit ?

Spuren im Sand

Eines Nachts hatte ich einen Traum:
Ich ging am Meer entlang mit meiner Seele, Gott.
Vor dem dunklen Nachthimmel
erstrahlten, Streiflichtern gleich,
Bilder aus meinem Leben.
Und jedes Mal sah ich zwei Fußspuren im Sand,
meine eigene und die meiner Seele, Gott.

Als das letzte Bild an meinen Augen
vorübergezogen war, blickte ich zurück.
Ich erschrak, als ich entdeckte,
daß an vielen Stellen meines Lebensweges
nur eine Spur zu sehen war.
Und das waren gerade die schwersten
Zeiten meines Lebens.

Besorgt fragte ich meine Seele, Gott:
"Gott, als ich anfing, dir nachzufolgen,
da hast du mir versprochen,
auf allen Wegen bei mir zu sein.
Aber jetzt entdecke ich,
daß in den schwersten Zeiten meines Lebens
nur eine Spur im Sand zu sehen ist.
Warum hast du mich allein gelassen,
als ich dich am meisten brauchte?"

Da antwortete er: "Mein liebes Kind,
ich liebe dich und werde dich nie allein lassen,
erst recht nicht in Nöten und Schwierigkeiten. Dort, wo du nur eine Spur gesehen hast,
da habe ich dich stets getragen."

Margaret Fishback Powers
 
Werbung:
Das Glück von Swabedu

In einem fernen Land gab es ein friedliches Dorf, das man Swabedu nannte. Dieses Dorf war nicht nur wunderschön und blitzsauber, seine Bewohner waren meist auch von aussergewöhnlicher Höflichkeit. Wenn sie sich trafen, begrüssten sie einander mit einem Lächeln. Fanden sie Zeit zu einem Schwätzchen, so fragten sie zunächst nach dem Befinden des anderen und überreichten dann ein kleines Stückchen Fell.

Viele Jahre lebten so die Bewohner in Glück und Harmonie. Freude und Leid wurden gemeinsam getragen, keiner verschloss nachts seine Haustür und jeder half dem Nächsten, wenn Krankheit oder Tod eine Familie heimsuchten.
Aber unweit vom Dorf hauste ein furchterregender Kobold, ein böser Geist. Keiner wollte mit diesem schrecklichen Kerl in Verbindung treten; alle hatten Angst. Doch die Einwohner überlegten hin und her, wie man auch mit diesem Kobold Freundschaft schliessen könnte.

Schliesslich fand sich ein kleiner, mutiger Junge, der sich anbot, den bösen Geist in seiner Höhle am Berghang zu besuchen. Viele Freunde gaben dem Jungen das Geleit, aber die letzten tausend Schritte musste er alleine gehen.
Der Junge gelangte an den Eingang der Höhle. Der Kobold fuhr ihn heftig an: "Was willst Du hier?" Der Kleine nahm seinen ganzen Mut zusammen: "Ich heisse Stefan und bin 12 Jahre alt. Ich möchte Dich fragen, wie es Dir geht. Bei uns schenkt man einander, wenn man sich begegnet, ein Stück Fell, um zu zeigen, dass man sich lieb hat! Ich habe Dich gern und hier ist ein Fellchen, dass ich Dir schenken möchte. Bitte nimm es an!"
Der Kobold wusste nicht, was er antworten sollte. Umständlich nahm er das Stück Fell in die Hand, prüfte es und wollte es achtlos in die Höhle werfen, aber es blieb an seiner Hand haften. So überlegte er, wie er den Dorfleuten einen Streich spielen könnte. Er sagte zu dem Jungen: "Das ist doch alles blödes Zeugs mit Eurer unnötigen Schenkerei. Wenn Du immer Deine Fellchen verschenkst, wirst Du nachher selbst keine mehr haben, dummer Junge!"

Mit diesen Worten schob der Kobold den Jungen aus der Höhle. Dieser murmelte erschrocken einen Abschiedsgruss und lief dann, so schnell ihn seine Füsse tragen konnten, zurück zu seinen wartenden Freunden.
Der tapfere Junge wurde von seinen Freunden staunend empfangen; er musste immer wieder von seiner Begegnung mit dem bösen Geist erzählen und von allem, was dieser geantwortet hatte. Schliesslich war das ganze Dorf auf dem Marktplatz versammelt. Doch manche gaben sogar dem Kobold recht, denn einige Dorfbewohner hatten nur noch wenige Fellchen, andere dagegen sehr viele. Es war wie immer im Leben: einige waren recht geizig, andere sehr grosszügig; manche vergassen einfach, die Fellchen von zu Hause mitzunehmen oder waren die gute Gewohnheit leid.

Unbemerkt war der Kobold dem Jungen ins Dorf gefolgt. Die Swabedudas erschraken zu Tode, als sie den bösen Geist in ihrer Mitte sahen. In die Stille hinein rief der Kobold: "Ihr seid ja strohdumm! Warum wollt Ihr immer die kostbaren Fellchen verschenken? Nehmt doch einfach die kleinen Steine, die hier überall herumliegen. Hiervon gibt es immer genug und keiner hat zuviel davon zu Hause liegen!"
Die meisten Leute fanden diese Idee so grossartig, dass sie sich schnell einigten, in Zukunft so zu verfahren. Nun begannen sie, kleine Steinchen zu sammeln. Bei einer Begrüssung verschenkte man diese dann. Die Fellchen waren bald vergessen.
Aber mit der Zeit nahm die Freundlichkeit immer mehr ab. Man entdeckte, dass man mit den Steinen auch werfen konnte. Man gab sich auch nicht mehr die Mühe, kleine Steinchen zu suchen, sondern griff auch zu grösseren und schwereren Steinen.
Aus der früher so fröhlichen Begrüssung mit den weichen Fellchen wurden jetzt Begegnungen voller Misstrauen, Man fürchtete sich immer mehr voreinander und war nie sicher, ob nicht ein grosser Stein geflogen kam. Das einst so fröhliche Swabedu versank in Angst und Feindschaft.
Eines Tages kam ein weiser Mann auf seiner Pilgerreise zur schönen Barockkirche durch das Dorf. Er klopfe an die erste Haustür und bat um einen Becher Wasser. Es war das Haus einer alten Dame, die aber mutterseelenallein wohnte.

Sie reichte dem frommen Pilger nicht Wasser, sondern Milch, Brot und Schinken. Die Grossmutter war froh, wieder mit jemandem sprechen zu können und so erzählte sie von dem fröhlichen Dorf, das durch den Ratschlag des bösen Geistes in die Irre geleitet wurde.
Der Pilger ging von Haus zu Haus und bat alle Bewohner, auf den Marktplatz zu kommen. "Warum begrüsst Ihr Euch nicht wie früher mit Fröhlichkeit, Anteilnahme und den seidenen Fellstückchen?" Die Swabedudas sagten, dass sie Angst um ihre Fellchen hätten: Einige hatten nur noch wenige Stücke, andere dagegen über hundert. Niemand wollte riskieren, vor lauter Grosszügigkeit alle Fellchen zu verlieren! Da bat der fromme Mann alle, nach Hause zu gehen und ihre Fellchen zu holen. Wer nur drei hatte, holte diese voll glänzender Fellchen.
"Das reicht doch!" sagte der Pilger: "In Zukunft grüsst Ihr Euch wieder in alter Freundschaft. Wer ein Fellchen bekommt, gibt auch eins. Wer seine Fellchen vergisst, läuft nach Hause und holt sie. So hat keiner mehr als die anderen und so werdet Ihr wieder in Frieden miteinander leben können."

Als alle Fellstückchen vor dem Pilger lagen, mussten die Bewohner einen grossen Kreis bilden und sich je ein Fellchen abholen. Als der Kreis sich einmal gedreht hatte, begannen die Swabedudas, sich wieder anzulächeln. Beim dritten Kreis fing jemand an zu singen und bald sang das ganze Dorf zusammen wie in alten Zeiten.
Als die letzten Fellchen verteilt waren, wurde es bereits dunkel. Alle eilten zu den leeren Körben zurück, um dem weisen Mann zu danken und ihm ein Nachtquartier anzubieten.
Aber soviel sie auch suchten, sie fanden den Pilger nicht. Da erkannten sie, dass der Weise von der Liebe geschickt worden war, um den Frieden wieder in ihr Dorf zu bringen. Sie lobten die Liebe und versprachen, sich immer freundlich und hilfsbereit zu begegnen und ein Fellchen zu verschenken!


Immer wieder schön.
Keine weiteren Fragen.
 


Ich ging in Liebe durch das Haus.
Da begegnetest Du mir.
Du sagtest ich stinke.
Ich ging in Liebe durch die Straße.
Da begegnetest Du mir.
Du sagtest ich sei zu laut.
Ich ging in Liebe ins Büro.
Da begegnetest Du mir.
Du sagtest ich sei zu spät.
Ich ging in Liebe nach Hause.
Da begegnetest Du mir.
Du sagtest ich hätte nicht aufgeräumt.
Ich ging in Liebe ins Bett.
Da begegnetest Du mir.
Du sagtest ich sei wasdirgeradeeinfiel.
Ich ging in Liebe in die Küche.
Da begegnetest Du mir.
Du sprachst nicht mit mir.
Ich ging in Liebe in den Garten.
Da begegnetest Du mir.
Du sprachst davon, was ich falsch gemacht hatte.
Ich ging in Liebe einkaufen.
Da begegnetest Du mir.
Du wolltest vor mir an die Kasse.
Ich ging in Liebe nach Hause.
Da begegnetest Du mir.
Du sahst mich nicht an.
Ich ging in Liebe durch den Garten.
Niemand war da.
In der Welt kursiert die Nachricht es gäbe keine Liebe.
Was allerdings nicht die Wahrheit ist.
Jedenfalls nicht die Wahrheit der Liebe.



 
Geschichte vom besten Kämpfer der Welt

„Die fünfte Botschaft heißt: ich glaube, was ich will. …“
…
„Bodo, ich möchte dir in Bezug auf die nächste Botschaft die Lebensgeschichte eines deiner Leben erzählen.“

„Du meinst eines meiner wirklichen früheren Leben?“

„Ja, es macht noch deutlicher, wie dein Wille deine Realität beeinflusst. Aber ich bitte dich noch zu bedenken, dass dieses Leben parallel zu deinem läuft. Es ist also kein früheres Leben. Du lebst im China des 17. Jahrhunderts. Genauer gesagt, wirst du 1648 geboren und stirbst 1715. Dein Name ist Shai Wong. Du erlebst als Siebenjähriger, wie deine Familie von einer Verbrecherbande überfallen und brutal ermordet wird.“

„Warum erzählst du mir so eine Geschichte, Ella?“

„Weil sie sehr deutlich macht, wie dein Wille deine Realität bestimmt, und weil du in deinem jetzigen Leben diesem Shai Wong sehr ähnlich bist.“

„In welchem Punkt bin ich ihm ähnlich?“

„Das wirst du selbst herausfinden. Durch jenes Ereignis entsteht bei dem kleinen Shai Wong der Wunsch, ein unbesiegbarer Kämpfer zu werden. Er will nie wieder zulassen müssen, dass Menschen, die er liebt, gewaltsam aus seinem Leben gerissen werden. Er will so stark werden, dass er alle beschützen kann.

Nach dem Überfall nimmt sich sein Onkel seiner an. Dieser Onkel ist zwar sehr wohlhabend, aber er hat von Kindererziehung keine Ahnung. Er lebt allein und arbeitet den ganzen Tag. Nach ein paar Wochen sieht er ein, dass er den kleinen Wong nicht selbst erziehen kann. Er will ihm aber die beste Erziehung zukommen lassen. Das ist er seinem Bruder schuldig. Er beschließt, den Jungen in einem Shaolin-Kloster unterzubringen, wird jedoch erst einmal abgewiesen. Die Kinder, die in dieses Kloster wollen, müssen zuerst eine Reihe von Aufnahmeprüfungen bestehen. Sie werden auf ihre Intelligenz getestet. Shai Wong fällt durch. Bei diesen Aufnahmeprüfungen erlebt der kleine Wong das Kung Fu-Training der Mönche mit. Er ist so begeistert von dieser hohen Kampfkunst, dass er unbedingt in dieses Kloster aufgenommen werden will. Als er dann von seinem Onkel erfährt, dass er abgelehnt wurde, bricht für ihn eine Welt zusammen. Er ist so verzweifelt, dass sein Onkel wieder zu dem Kloster geht und eine große Summe Geld für das Kloster spendet, damit sie seinen Neffen aufnehmen. Da das Kloster arm ist und das Geld dringend benötigt wird, wird Shai Wong doch auf Probe aufgenommen. Der kleine Wong strengt sich unheimlich an, um den Anforderungen des Klosters gerecht zu werden. Er wird ein Muster für Disziplin und Fleiß. Er beginnt, seinen Ausbildern zu gefallen, und wird der Lieblingsschüler seines Kung Fu-Lehrers. So vergehen einige Jahre. Shai Wong hat den Vorfall mit seiner Familie nie vergessen, aber er denkt selten daran. Er konzentriert sich voll auf seine Ausbildung und hat einen brennenden Ehrgeiz. Nichts ist ihm zu viel. Mit siebzehn Jahren beendet er seine Kung Fu-Ausbildung. Er wird der bislang jüngste Kung Fu-Meister, den je ein Shaolin-Kloster gesehen hat. Doch die Priesterweihe wird ihm noch verwehrt. Er soll erst noch in den verschiedensten anderen Disziplinen seiner Ausbildung weiterkommen.

Er bemüht sich sehr, auch diese Ziele zu erreichen, aber ihn verlässt die Motivation. Mit neunzehn sieht er nach einem Gespräch mit seinem Lehrer ein, dass er nicht zum Mönchsein geboren ist. Er verlässt das Kloster. Er ist mittlerweile seinem Lehrer im Kung Fu fast ebenbürtig. Der einzige Ehrgeiz, der ihn treibt, ist, noch besser zu werden. Ihm ist bewusst nicht ganz klar, was er will, aber unbewusst hat er sein Ziel, ein unbesiegbarer Kämpfer zu werden, nie aufgegeben. Genauer gesagt, will er jetzt der beste Kämpfer der Welt werden. Ohne bewusstes Ziel zieht er durch das Land. Immer wieder gerät er in Situationen, in denen er sich selbst oder andere verteidigen muss. Ungewöhnlich oft wird er von anderen Menschen angegriffen. Es hat den Anschein, als ob er die Gefahr förmlich anzöge.

Auf seiner Reise durch das Land hört er immer wieder Gerüchte von großen Kämpfern, die über magische Fähigkeiten verfügen sollen. Diese Geschichten lassen ihm keine Ruhe. Er will herausfinden, ob es wahr ist, dass diese Kämpfer wirklich so unbesiegbar sind. Wenn dies so wäre, dann müsste er herausbekommen, wie sie das machen.

Als er in eine Stadt kommt, in der einer dieser angeblich unbesiegbaren Kämpfer lebt, sucht er ihn auf. Es ist ein großer starker Mann mit sehr gewalttätigem Aussehen. Shai Wong versucht den Kämpfer zu beruhigen, aber vergebens. Er wird gezwungen, sich zu verteidigen. Durch die Gerüchte über die Unbesiegbarkeit dieses Kämpfers und sein brutales Aussehen schlägt Shai Wong stärker zu, als er es eigentlich wollte. Er tötet den Mann, ehe er das richtig begreift.

Shai Wong zieht fluchtartig weiter. Aber sein Kampf bleibt nicht unbemerkt. Es entwickeln sich Gerüchte über seine Unbesiegbarkeit. Von nun an kann er den Mann, den er getötet hat, verstehen. Er versteht jetzt, warum dieser gleich so aggressiv auf ihn reagiert hat. Er wird von vielen jungen Männern verfolgt, die sich nun mit seiner Kampfkunst messen wollen. Er findet keine Ruhe mehr. Egal wo er hingeht, immer ist einer da, der wissen will, wer der Stärkere ist. Sein Leben gleicht nun einer immerwährenden Flucht. Sobald er in eine Stadt kommt, in der einer dieser großen Kämpfer sich aufhält, wird er zu einem Zweikampf gefordert. Je mehr Kämpfer er besiegt, desto mehr wollen sich mit ihm messen. Sein Ruf eilt über das ganze Land. Er gewinnt alle Kämpfe, obwohl er gar nicht kämpfen will. Er hat sein Kung Fu gelernt, um den Schwachen und Kranken zu helfen. Aber jetzt ist er gezwungen, sinnlose Wettkämpfe zu bestreiten, nur um zu wissen, wer der Bessere ist.
Ihm ist klar, dass er, wenn er am Leben bleiben will, seine Kampfkunst immer weiter verbessern muss. Er sucht alle großen Lehrer des Landes auf und lässt sich in deren Kunst unterrichten. Immer wieder wird er zum Kämpfen gezwungen.

Sein ganzes Leben besteht aus Kampf. So reist er rastlos durch das Land und wird immer besser im Kung Fu. Mittlerweile ist er 45 Jahre, das heißt, er hat sich seit 38 Jahren nur aufs Kämpfen konzentriert. Er hat den Ruf, der größte Kämpfer des ganzen Landes zu sein. Man spricht ihm magische Fähigkeiten zu. Er muss ein Halbgott sein, sagen die Menschen. Aufgrund dieses Rufes wird er jetzt immer seltener herausgefordert. Wer will sich schon mit einem Gott anlegen? Es gelingt ihm, sich in einer Stadt niederzulassen. Er lebt von seinem Ruf. Sein Geld erhält er von den Menschen, die er beschützt. Aber dieses Leben macht ihn nicht zufrieden. Er lebt in der ständigen Angst, aus dem Hinterhalt getötet zu werden. Er beschließt, in die Einsamkeit zu gehen und sein Leben dem Geistigen zu widmen. Mit der Zeit würden die Gerüchte um ihn verstummen. Die Leute würden denken, dass er getötet worden sei, und er könnte irgendwann in Ruhe leben.
Er geht in die Berge. Er lässt sich einen Bart wachsen und zieht Bettlerkleidung an. Gelegentlich bekommt er von vorbeiziehenden Pilgern ein Schälchen Reis zu essen. Dieses Leben kann Shai Wong nicht genießen. Aber es ist besser, als in der ständigen Angst zu leben. Von Zeit zu Zeit zieht er aus Sicherheitsgründen weiter.

Eines Tages begegnet er einem alten Mann, der sein Interesse weckt. Er kann sich das zunächst gar nicht erklären. Dieser Mann lebt, genau wie er, von den Almosen der Menschen. Er freundet sich mit seinem Leidensgenossen an. Nach vielen Monaten, in denen er seinen Freund kennengelernt hatte, vertraut er sich ihm an. Er erzählt ihm die ganze Geschichte von den vielen Kämpfen. Er glaubt, seinen Ohren nicht zu trauen, als er erfährt, dass sein Weggefährte aus dem gleichen Grund wie er in die Einsamkeit gegangen war. Die beiden Männer hatten bisher fast nichts miteinander geredet. Sie blieben einfach nur zusammen. Doch jetzt wurde alles anders. Durch die gegenseitigen Erzählungen merkt Shai Wong, dass in ihm die Neugier immer größer wird, wer von den beiden jetzt besser sei. Aber der alte Mann war sicher zwanzig Jahre älter als er. Insofern hat sich diese Überlegung erledigt, denkt er.

Sein Weggefährte erkennt, dass Shai Wong so denkt und bietet ihm plötzlich an, ihm seine Kampfkunst zu zeigen. Shai Wong lehnt zuerst ab, denn er will den alten Mann nicht verletzen. Aber dieser bleibt hartnäckig. Sie machen sich beide bereit für ein gemeinsames Training. Shai Wong will vorsichtig sein, damit er seinen Freund nicht verletzt. Als sich die beiden Kämpfer gegenüberstehen, wagt scheinbar keiner von beiden, den ersten Schritt zu machen. Der alte Mann fordert Shai Wong nach einer Viertelstunde, in der sich die beiden fast bewegungslos gegenüberstehen, auf, ihn anzugreifen. Shai Wong tut, was ihm aufgetragen wird. Natürlich greift er nur vorsichtig an, doch ehe er sich versieht, liegt er plötzlich auf dem Boden. Der alte Mann macht ihm klar, dass er richtig angreifen soll, was Shai Wong auch tut. Aber so sehr er sich bemüht, er landet keinen einzigen Treffer. Immer findet er sich auf dem Boden wieder. Nach zehn Minuten gibt er völlig verwirrt auf. Wie kann das sein, fragt er sich. So gut kann doch ein Mensch gar nicht sein. Er muss tatsächlich ein Gott sein, denkt Shai Wong.“

Ich hatte den Erzählungen von Ella so gespannt zugehört, dass ich alles um mich herum vergaß. Ich erlebte die Geschichte plötzlich, als ob ich selbst dieser Shai Wong wäre. Ich fühlte seine Gefühle und sah auch die Umgebung der Berge ganz deutlich vor mit. Plötzlich hörte ich Ella mich rufen.

„Bodo, bleib hier. Verlier dich nicht in Shai Wong. Bleib du selbst, Bodo. Es ist wichtig, dass du dich weiterhin als Bodo wahrnimmst. Du könntest sonst Identitätskonflikte bekommen.“

„Alles klar, Ella. Ich bin voll da. Erzähl bitte weiter.“

„Shai Wong ist also völlig durcheinander, gleichzeitig aber total beeindruckt. Er bittet seinen weisen alten Freund, sein Lehrer zu werden. Dieser meint, er habe schon lange keinen Schüler mehr gehabt, und er würde sich sehr darüber freuen, ihn unterrichten zu können. Das Training sehe jedoch ganz anders aus als alles, was Wong bisher gemacht habe. Shai Wong ist bereit, alles zu tun, um so gut zu werden wie sein Lehrer. Ihm ist klar, dass er dadurch der beste Kämpfer der Welt werden könnte.

Die Lektionen, die sein Lehrer ihm erteilt, sind fürwahr seltsam. Als erstes bittet er Wong, eine Spinne zu beobachten, die in ihrem Netz sitzt und auf Beute wartet. Ohne zu wissen warum, schaut sich Wong die Spinne viele Wochen unentwegt an. Plötzlich hat er den Eindruck, diese Spinne selbst zu sein. Er kann sich total in sie hineinfühlen. Dieses Erlebnis dauert nicht sehr lange, aber danach sieht er die Spinne mit anderen Augen. Er hat seine Wahrnehmung verändert. Die Spinne, die mindestens vier Meter von ihm entfernt ist, sieht er, als ob es nur vierzig Zentimeter wären. Er geht zu seinem Lehrer und sagt ihm, er habe gelernt, was zu lernen war.

Ohne danach zu fragen, was er gelernt hatte, gibt dieser Wong die nächste Aufgabe. In der Nähe des Unterschlupfes, in dem die beiden leben, fällt ein kleiner Sturzbach den Berg hinunter. Wong soll nun diesen Bach beobachten, und zwar an einer Stelle, wo der Bach einen kleinen Wasserfall bildet. Wong tut, was ihm aufgetragen wird, und beobachtet viele Wochen diesen Bach. Plötzlich hat er den Eindruck, dass das Wasser viel langsamer fließt. Er kann sogar erkennen, dass der Bach in vielen einzelnen Tröpfchen den Berg hinunterfällt. Normalerweise kann man das nicht erkennen, wie du weißt.“

„Ich weiß, das menschliche Auge ist dafür zu träge.“

„Genauso ist es, aber diese Wahrnehmung hat sich bei Wong verändert. Prinzipiell ist das menschliche Auge in der Lage, sehr viel mehr wahrzunehmen, als ihr denkt. Doch dazu werden wir noch kommen. Wong geht jetzt zu seinem Lehrer und sagt ihm, er habe wieder gelernt, was zu lernen war. Ihm war klar, dass dieser die Fähigkeit bei ihrem Zweikampf gegen ihn eingesetzt haben musste, um schnell genug reagieren zu können. Wong dachte, er sei jetzt in der Lage, sein Kung Fu so zu verbessern, dass er es seinem Lehrer gleichtung könne.

Dieser aber sagt ihm, dass er noch sehr viel zu lernen habe. Er schickt ihn in die Stadt. Er solle sich als Bettler in die Straßen setzen und seine Augen den ganzen Tag geschlossen halten. Wong tut, was ihm aufgetragen wird. Er versteht nicht, wozu es gut sein soll, aber er ist überzeugt, dass es seinen Sinn hat. Viele Monate vergehen, und Wong hält den ganzen Tag seine Augen geschlossen. Mittlerweile weiß er genau, wenn jemand zu ihm kommt und ihm Geld hinwirft. Er hört am Klang der Münze, welche es ist, und weiß auch am Abend, wie viel er zusammen hat. Er ist nicht sicher, aber er denkt, dass er die Lektion gelernt habe, und kehrt zurück zu seinem Lehrer. Dieser empfängt ihn sehr herzlich, sagt ihm aber, dass er seine Lektion noch nicht richtig verstanden hat. Er schickt ihn wieder zurück, aber diesmal nicht auf die Straße, sondern zu einem befreundeten Heiler. Er lässt diesem Heiler von Shai Wong ausrichten, ihm einen Gefallen zu tun und Wong zu unterrichten. Wong versteht zwar nicht, warum er die Heilkunst lernen soll, tut aber, was ihm aufgetragen wird.

Dieser Heiler arbeitet mit der Energie seiner Hände. In deiner heutigen Zeit würde er als Geistheiler bezeichnet. Wong sieht diesem Heiler viele Monate zu. An einem sehr warmen und trüben Abend passiert dann plötzlich etwas Seltsames. Wong ist schon sehr müde, aber er sieht seinem Meister weiterhin zu. Er kann seinen Blick kaum noch scharf halten. Die Bilder verschwimmen vor seinen Augen. Auf einmal hat er den Eindruck, dass aus den Händen seines Meisters bunte Farben leuchten. So etwas hat er noch nie gesehen. Es muss die Energie sein, mit der er heilt. Als er jedoch genau hinschaut, verschwinden diese Farben. Wong meint schon, es sei eine Halluzination gewesen, aber plötzlich tauchen die Farben wieder auf. Nur jetzt sieht er sie nicht allein aus den Händen kommen. Der ganze Körper strahlt dieses seltsame Licht aus. Und auch der Körper des Patienten. Wong schaut sich seine Hand an. Auch er selbst leuchtet in diesen bunten Farben. Er sieht genau, wie sein Meister seinen Patienten behandelt. Überall dort, wo die Farben hässlich und schmutzig aussehen, bringt er durch seine Hände wieder schöne Farben hinein. Überzeugt, diese Lektion jetzt endlich gelernt zu haben, kehrt er wieder zurück zu seinem Meister. Er versteht zwar noch nicht, was er mit dieser Fähigkeit anfangen soll, aber er spürt ganz deutlich, dass seine Zeit bei dem Heiler zu Ende ist. Zu Hause angekommen, bittet er seinen Lehrer um Aufklärung.

Fortsetzung im nächsten Beitrag ...
 
Fortsetzung

Dieser bietet ihm ein zweites Sparring an, wobei er ihn bittet, nichts zu tun, als seine Augen auf die Energie einzustellen. Wong tut, wie ihm gesagt wird. Als sein Lehrer ihn angreift, sieht Wong plötzlich, wie die Farbe seiner Ausstrahlung sich verändert. Besonders an den Körperstellen, die er für den Angriff benutzen will. Auf diese Weise wusste sein Lehrer also immer schon vorher, wie Wong ihn angreifen würde. Wong benutzt jetzt zusätzlich die Fähigkeiten, die er zuvor gelernt hatte. Er sieht genau jedes Detail seines Lehrers, die kleinste Veränderung der Farben ebenso wie die unscheinbarste Bewegung. Alles erscheint ihm wie bei der Spinne unheimlich nah zu sein. Er erinnert sich an den Sturzbach und stellt seine Wahrnehmung auf die hohe Geschwindigkeit ein. Sein Lehrer sieht nun aus, als bewege er sich in Zeitlupe. Auf diese Weise ist man wirklich jedem Angreifer gewachsen, denkt Wong. Er glaubt jetzt, sein Ziel erreicht zu haben und der beste Kämpfer der Welt zu sein. Überzeugt, die Ausbildung jetzt zu Ende gebracht zu haben, dankt er seinem Lehrer, dass dieser ihn unterrichtet hat.

Zu seiner Verwunderung erfährt er, dass seine Ausbildung noch nicht beendet sei. Aber er kann sich nicht vorstellen, wie er seine Kunst noch mehr verbessern könnte. Sein Lehrer blickt ihn bedeutungsvoll an und fragt ihn, welches der beste Kampf sei. Wong meint, dass derjenige Kampf der beste sei, bei dem er unverletzt bleibe. Sein Lehrer fragt ihn, ob ein Kampf, der gar nicht stattfindet, nicht noch besser sei. Jetzt versteht Wong, was er meint. Wenn man nicht kämpft, wird man auch nicht verletzt. Aber was tut man, wenn man angegriffen wird?

Sein Lehrer zeigt ihm jetzt seine letzte Lektion. Er bittet Wong, ihn anzugreifen. Wong versucht, ihn anzugreifen. Doch irgendetwas hält ihn zurück. Er hat das Gefühl, sich nicht bewegen zu können. So etwas hat er noch nie erlebt. Sein Körper ist wie gelähmt. Sein Lehrer sagt ihm, er solle jetzt wieder seine Wahrnehmung auf die Energie einstellen und nochmals versuchen, ihn anzugreifen. Wong sieht, wie seine eigene Energie ganz rot wird. Besonders sein rechtes Bein, mit dem er kicken wollte, leuchtet sehr stark. Sein Lehrer steht nur da und sieht ihn an. Von seinem Körper geht ein seltsames goldenes Licht aus, das die Energie von Wongs Bein irgendwie einhüllt. Wong spürt, dass er nicht mehr fähig ist, dieses Bein zu benutzen. Das ist also die wahre Kampfkunst, denkt er. Der beste Kampf ist der, den man vermeidet. Wong lernt diese Fähigkeit seines Lehrers und wird tatsächlich der beste Kämpfer der Welt. Aber er hatte nie mehr einen Kampf. Er konnte wieder inmitten der Gesellschaft leben und wurde auf seine alten Tage tatsächlich noch sesshaft.“

„Das war eine sehr schöne Geschichte, Ella. Warum hast du sie mir erzählt?“

„Die Botschaft dieser Geschichte liegt darin, dass Wong erlebte, was er wollte. Er hatte seit seinem siebten Lebensjahr nur den einzigen Wunsch, der beste Kämpfer der Welt zu werden. Dir ist hoffentlich klar, dass die fünfte Botschaft nicht nur bedeutet, dass du glaubst, was du willst, sondern dass du auch erlebst, was du willst. Du erlebst, was du denkst, denkst, was du fühlst und fühlst, was du glaubst. Also erlebst du, was du willst. Wong wollte nur dieses eine erleben. Also war sein ganzes Leben darauf ausgerichtet. Du glaubst hoffentlich nicht, dass sein Leben zufällig so verlaufen ist, dass er ins Shaolin-Kloster kam und später diese vielen Meister hatte, bis hin zu seinem letzten Lehrer, der er ja rein ‚zufällig’ auf einem einsamen Berg traf.“

„Ist schon klar, Ella, ich weiß, ich bin ein großer Zweifler.“

„Noch eins ist wichtig. Wong hat sein Leben nicht unbedingt als angenehm empfunden, im Gegenteil. Aber er hat genau das erlebt, was sein größter und einziger Wunsch war. Alle anderen Bedürfnisse hat er konsequent zurückgestellt. Bodo, ich möchte dir vorschlagen, unser Gespräch für heute zu beenden, wir können uns wieder sprechen, wann immer du willst.“

„Ja, du hast Recht, Ella. Mein Bedarf an Informationen ist für heute gedeckt. Ich danke dir für diese interessante Geschichte.“

„Tschüs Bodo, bis bald.“

Aus: Gina Deletz / Bodo Deletz Die 7 Botschaften unserer Seele
 
Was mir selber an der vorigen Geschichte so gut gefällt, ist ja etwas, was ich in meinem jetztigen Leben nicht so locker erkenne: nämlich: welches dieser eine Satz ist der mich antreibt - und - das macht es wiederum einfach ihn zu finden - den einen Satz - alles, wirklich alles mache ich für diesen Satz ... er ist sogar der Grund wofür ich inkarniert bin ...

Alle Erlebnisse dieses Chinesen ordnen sich in seinen Wunsch ein, der beste Kämpfer der Welt zu werden ... und es erfüllt sich sein Wunsch ... auf dem Weg lernt er viel und er ist voller Antreibe, Umtrieb, Abtrieb, Auftrieb, Getriebensein, Treibgut, Triebhaftigkeit und so weiter ...

Und die Geschichte läßt ja den Leerlauf raus, die Zeiten der Öde, des nicht-wissen-wohin ...

Und Erfahrungen sind einfach da, die genausogut zu einem anderen Kern-Satz passen würden ... aber sie werden in diesem Licht gemacht ... und doch sind sie einfach da, die Erfahrungen und können, könnten genausogut woanders eingesetzt werden ... doch in so einem Leben kommt man nicht wirklich da drauf ...

Es ist tatsächlich schwierig, diesen Satz um den es sich in meinem Leben dreht, von innen, von diesem Leben selbst zu erkennen und doch, es lohnt sich ... ich habe ihn selbst noch nicht ... ich komme ihm näher ...

:)
 

Unglück oder Segen – wer weiß das schon​

Ein alter Mann lebte in einem Dorf. Er war sehr arm, aber selbst Könige beneideten ihn, denn er besaß ein wunderschönes weißes Pferd. Sie boten dafür fantastische Summen, aber er verkaufte es nicht. Eines Morgens fand er sein Pferd nicht im Stall. Das ganze Dorf versammelte sich. »Du dummer alter Mann«, sagten die Leute, »wir haben immer gewusst, dass das Pferd eines Tages gestohlen wird. Es wäre besser gewesen, du hättest es verkauft. Welch ein Unglück!«

Der alte Mann antwortete: »Geht nicht so weit, das zu sagen. Sagt einfach, das Pferd ist nicht im Stall. So viel wissen wir, alles andere ist Urteil. Ob es ein Unglück ist oder ein Segen, kann ich nicht sagen, weil ich nicht weiß, was darauf folgen wird.« Die Leute lachten den Alten aus. Sie hatten schon immer gewusst, dass er ein bisschen verrückt war.

Aber nach fünfzehn Tagen kehrte das Pferd plötzlich zurück. Es war nicht gestohlen worden, sondern in die Wildnis ausgebrochen. Nun kam es wieder und brachte noch zwölf wilde Pferde mit. Gleich versammelten sich die Leute und sagten: »Alter Mann, du hattest Recht. Es hat sich tatsächlich als Segen erwiesen.« Der Alte entgegnete jedoch: »Wieder geht ihr zu weit. Sagt einfach, das Pferd ist zurück. Ihr lest nur ein einziges Wort im Satz. Wie könnt ihr das ganze Buch beurteilen?«

Der alte Mann hatte einen einzigen Sohn und der begann die Wildpferde zu trainieren. Eines Tages fiel er vom Pferd und brach sich beide Beine. Wieder versammelten sich die Leute und wieder urteilten sie: »Du hattest doch Recht – es war ein Unglück. Dein einziger Sohn ist nun verkrüppelt und er war doch die Stütze deines Alters. Jetzt bist du ärmer als je zuvor.« Der Alte aber antwortete: »Ihr seid besessen vom Urteilen. Geht nicht so weit. Sagt nur, dass mein Sohn sich die Beine gebrochen hat. Niemand weiß, ob dies ein Unglück oder ein Segen ist.«

Es begab sich, dass das Land nach einiger Zeit in einen Krieg verwickelt wurde. Alle jungen Männer des Ortes wurden zum Militär eingezogen. Nur der Sohn des alten Mannes blieb zurück, weil er nicht kämpfen konnte. Der ganze Ort war von Wehklagen erfüllt, weil dieser Krieg nicht zu gewinnen war. Man wusste, dass die meisten jungen Männer nicht nach Hause zurückkehren würden. Die Menschen kamen zu dem alten Mann und sagten: »Du hattest wieder Recht, alter Mann. Das Unglück hat sich tatsächlich als Segen erwiesen. Dein Sohn ist zwar verkrüppelt, aber immerhin ist er noch bei dir.«

»Ihr hört nicht auf zu urteilen«, erwiderte der alte Mann. »Niemand weiß, was kommt. Sagt nur, dass man eure Söhne in die Armee eingezogen hat und dass mein Sohn nicht eingezogen wurde. Lernt, die Dinge aus höherer Warte zu sehen! Dann werdet ihr ganz von selbst aufhören zu urteilen.«
 
Die Geschichte von der Insel der Kinder


"Vor vielen Jahrtausenden blickte aus dem Mittelmeer das smaragdene Augenpaar zweier Zwillingsinseln empor. Diese beiden Inseln waren die Gipfel zweier gewaltiger Berge. Einst waren es die höchsten, stolzesten Gipfel eines Weltreiches, das in der Sintflut versunken war. Von all den Millionen, die vor dem schrecklichen Kataklysma flüchteten, erreichten nur wenige diese Gipfel, die späteren glücklichen Inseln, und diese blieben am Leben. Als sich der entsetzliche Sturm gelegt hatte, als sich die Wasser wieder glätteten und der bleifarbene, zornige Himmel wieder eine sanfte, pastellblaue Farbe annahm, richteten sich die Flüchtlinge für ihr neues Leben auf einer der Inseln ein. Aufgrund der Erinnerung an ihre hochentwickelte Kultur gelang es ihnen schließlich nach manchen Kämpfen und manchem Scheitern, ihre Häuser dauerhaft zu errichten, den kargen Boden fruchtbar zu machen, die verwilderten Tiere zu zähmen. Sie machten Aufzeichnungen über die Naturerscheinungen, über den Gang der Sterne, über die Gewohnheiten und Gebrechen von Mensch und Tier und setzten aufgrund der Uroffenbarung die Gesetze des friedlichen Zusammenlebens wieder in Kraft, damit ihre Kinder einst ihr Wissen, ihre Überlieferung und ihre Erfahrung nutzen konnten.
Ihre Kinder aber, die unbeaufsichtigt zwischen den Felsen herumstreunten, während die Erwachsenen im Schweiße ihres Angesichts arbeiteten, hatten sich mittlerweile an ihre verantwortungslose, wilde Freiheit gewöhnt. Sie plünderten die Vogelnester in den höchsten Baumwipfeln und tranken die Eier roh aus ihrer Schale. Sie erlegten Kleinwild mit scharfen Steinen und teilten sich die Beute. Ihre Körper wurden kräftig, ihre Haut braungebrannt, ihre Hände wurden rauh, und ihre körperliche Kraft machte sie herausfordernd und stachelte sie zum Wettstreit an. Sie fanden Gefallen an Balgereien wie Jungtiere und meinten, indem sie den Gegner zu Boden warfen, alles und jeden zu beherrschen. Sie waren unbändig und ungeduldig. Als die Erwachsenen von ihrem großen Werk ausruhten und meinten, daß die Zeit gekommen sei, ihre Nachkommen an ihren Platz in der Gesellschaft zu stellen, ließen sie ihre Kinder kommen, um ihnen die Gesetze und Pflichten zu übergeben. Der Kummer und die Unruhe der sanften, weisen Alten wuchs jedoch immer mehr, als diese verwilderte Meute vor ihnen erschien. Sie mußten feststellen, daß in der Zeit, wo sie den Boden gezähmt, so manches Heim errichtet und die heiligen Wissenschaften der Vergangenheit zusammengetragen hatten, ihre Kinder verwildert waren, ihre Körper zwar kräftig, doch ihr Kopf träge und kraftlos geworden war, ihre Emotionen ins Kraut geschossen waren wie das zähe, feindliche Unkraut auf unkultiviertem Boden. Die Erwachsenen bemühten sich vergeblich, in den verrohten Gehirnen das Dunkel in Licht zu verwandeln und die schrankenlosen Instinkte ins Fahrwasser der Selbstbeherrschung und der Einsicht zu treiben. Der dumpfe Verstand, der sich wild gegen jede Anstrengung sträubte, erhob sich gegen die Führung der Alten, auf blinde und dumme Überheblichkeit gestützt. Die Jungen verließen scharenweise die kleine kultivierte Insel, um auf benachbartem jungfräulichen Boden ihr eigenes, freies, verspieltes Kinderreich außerhalb des Gesetzes zu gründen.
Zunächst bauten sie lustige Wohnstätten aus Zweigen und Laub und schmückten die baufälligen Dächer mit bunten Blumen. Die komischen kleinen grünen Zelte schimmerten fröhlich im heiteren Sonnenlicht. Es gab auch größere, schönere und schmuckere Zelte, die von den körperlich schwächeren, aber klügeren und gewandteren Kindern erbaut worden waren. Die Kräftigen, die sich durch Prügeleien, durch das Erklimmen von Bäumen sowie bei der Jagd und beim Fischen auszeichneten, brachten häßliche, formlose Mißgeburten zustande, weil ihre Hände und ihr Kopf zu ungeschickt und einfallslos waren, um so etwas fertigzubringen. Sie waren es dann auch, die ihre schwächeren und geschickteren Kameraden mit Schlägen zwangen, aus ihren hübscheren Zelten auszuziehen und diese den Stärkeren zu überlassen. Als sie aber der erschrockenen Unterwürfigkeit der Eingeschüchterten gewahr wurden, stieg ihnen die eigene Kraft und die eigene Macht zu Kopfe. Die Schwächeren wurden zu einfacheren, schwereren häuslichen Arbeiten gezwungen, während sie sich mit der Jagd, der Fischerei, mit Steineschleudern und Tänzen befaßten, die sie um das Feuer herum aufführten. Der Löwenanteil der Beute allerdings wurde den Hilflosen verwehrt, und nur ein magerer, geringer Teil ihrer Abfälle wurde ihnen zuteil.
Die Schwachen wurden durch die schlechte Kost, durch die schwere Arbeit und durch die Schläge immer magerer, nachdenklicher, hungriger und verzweifelter. Ihr Gehirn begann sich durch das Leid und durch die Unterdrückung zu erhellen. Die Starken aber wurden durch die grenzenlose Völlerei immer fetter und träger. Das Einbringen der Beute nahm nur sehr wenig Zeit in Anspruch. Den größten Teil des Tages verbrachten sie mit Schlafen, Essen, mit dem Auspeitschen ihrer Sklaven und mit dem Austeilen von Befehlen. Doch selbst unter den fetten, starken Tyrannen kam es immer häufiger zu blutigen Kämpfen. Die Sklaven konnten Tag für Tag Zeugen ihrer zornigen, neidischen Ausbrüche sein, der Flut niederträchtiger Verleumdungen, mit der sie sich überschütteten, für ein paar bessere Bissen, die dem anderen zugute gekommen waren, wegen einiger hübscher, wohlgeformter Steine oder Vogeleier. Sie sahen die schrankenlosen, irrsinnigen Raufereien, wenn sie sich bekämpften, den feisten, weichlichen Körper des Besiegten, der sich am Boden wälzte und vor Schmerz und ohnmächtiger Wut jammerte... und die Sklaven begannen sich zu besinnen und nachzudenken. Sind diese Starken wirklich so kräftig und unverwundbar? Ihre Zahl nahm doch mehr und mehr ab, weil sie sich ständig gegenseitig ausrotteten. Ihr Körper war durch ihr rechtlos erzwungenes Wohlergehen feist und verweichlicht worden. Ihre Bewegungen waren langsam, ihre Sohlen empfindlich, ihre Füße ermüdeten leicht und schnell, weil sie das Gehen nicht mehr gewohnt waren. Die Mittagsstunde verbrachten sie in tiefem Schlaf. In den Teichen wimmelte es von Fischen, an den Bäumen wucherte wild die Frucht, und selbst den Brotsamen wehte der Wind von der benachbarten Insel herüber. Unter dem warmen, dämpfigen Klima bot sich Essen und Trinken wie von selbst an. Sie waren schon zu träge, um ihre Hand nach der Beute auszustrecken. Auch dies mußten die Sklaven für sie tun, doch das Geschenk, das die Natur kostenlos bot, mußten sie bis auf das letzte Körnchen heimschleppen zu ihrer Herrschaft, die sich im Schatten räkelte, damit sie völlen konnten, während sie dem fleißigen Volk nur den karg bemessenen Rest hinwarfen. Warum wohl? Nur, weil die Feisten eine Knute führen? Sie verfügten ja nicht einmal mehr über eine körperliche Überlegenheit, weil mittlerweile die Sklaven beweglicher und zäher geworden waren. Sie, die Sklaven, hatten es gelernt, auf Bäume zu klettern, zu fischen, zu jagen, Holz zu fällen, Feuer zu entfachen, Lasten zu tragen, zu nähen, Brot zu backen, Tierhäute zu bearbeiten, zu kochen, Erschöpfung und Schmerz zu ertragen... und die Sklaven waren in der Überzahl...

Zunächst waren es nur Einzelne, die so dachten und diesen erstickenden, erschreckenden und großartigen Gedanken für sich bewahrten. Der eine oder andere versuchte, das Beutegesetz zu ändern. Zunächst aß er sich selbst von dem satt, was er sich durch seine Arbeit und seine Geschicklichkeit beschafft hatte, und lieferte seinem Herren nur noch die Reste ab. Solche Rebellen wurden von den Feisten vor den Augen der zusammengetriebenen Sklaven, angesichts ihres finsteren, beharrlichen Blicks im Rahmen eine großen Feierlichkeit hingerichtet, um die anderen vor ähnlichen illegalen Machenschaften abzuschrecken. Sie wurden langsam in Stücke geschnitten, wobei peinlich darauf geachtet wurde, dass zunächst jene Teile abgesäbelt wurden, die nicht unbedingt und unmittelbar zum Tod führten. Wieder anderen wurden die Knochen mittels großer Steine stückweise zu Brei zermalmt. Es gab auch solche, die zu Tode gegeißelt wurden, und wieder andere, die man bis zum Halse ins Wasser tauchte, das von Blutegeln wimmelte... doch wer könnte all die Vielfalt aufzählen, mit der die Feierlichkeiten ihrer Rechtsprechung zu einem unvergleichlichen künstlerischen Ereignis geweiht wurden. Eigentlich war es gar nicht verwunderlich, wenn nach solchen Feierlichkeiten die Zahl der Missetäter zunahm. Die Einzelnen wurden von entschlossenen Gruppen abgelöst, die jetzt nicht mehr nur selbst handelten, sondern auch andere dazu verführten aus der Reihe zu tanzen. Die vom Dunst des faulenden Blutes umdampften Exekutionsgeräte auf dem Hauptplatz der Insel waren fast täglich in Betrieb.
Die Luft war von Hitze durchglüht und durchzittert von der großen Spannung, die dem nahenden Regen vorausging. Die Fetten rüsteten zu einer neuen Feier. Ganze Scharen entsprungener Sklaven wurden wieder einmal aus den Höhlen getrieben. Die anderen, die noch auf der Flucht waren, würde man schon kriegen. Wer kümmerte sich schon um das unterirdische Rumoren von Ratten, um sinnlose, in Höhlenwände gemeißelte Zeichen und um die feuerroten Blumen, die am Morgen an allen Zelten steckten?!
Es war warm. Die Hitze entfachte unruhige, hungrige, ungeduldige Begierden, tobende Gereiztheit in den überfütterten Leibern. Mit gieriger, zitternder Erwartung schauten die fetten dem Fest entgegen, um die eigene Spannung bei den Schreien der zu Tode gefolterten Sklaven wieder in träge Ruhe zu verwandeln. Aber auch die Sklaven fieberten der Feier entgegen. Sie waren in der Überzahl, das wussten sie bereits. Jeder Einzelne wusste das. Man hatte es ausgesprochen, die Tatsache war zum Wort geworden, zum schwer tönenden, dunkel glühenden, magischen Spruch. Und es wurden auch andere Worte ausgesprochen. Man sprach über die Schwäche der Fetten und von der Kraft der Mageren, über die Beute, an der auch derjenige gleichermaßen Anteil hatte, der für sie gearbeitet hatte. Sie kannten die Verleumdungen, die schrecklichen Beschuldigungen, die die Fetten in ihrer neiderfüllten Wut sich gegenseitig lauthals vorwarfen, und sie flüsterten sich auch zu – wie ein großes, erschütterndes, anspornendes Geheimnis - ,das an den Tag gekommen war, dass der Körper der Fetten ebenso verwundbar, dass ihr ausströmendes Blut ebenso rot sei wie das des elendesten Sklaven.
Die Erwachsenen aber, die auf der Nachbarinsel ihr stilles, beschauliches Leben lebten, sahen mit ihren weit blickenden Augen, was im Reich der Kinder vor sich ging, und waren tief betrübt. Sie hätten die Verblendeten gern vor einander und vor sich selbst bewahrt. Sie hielten also einen Rat ab und beschlossen, sowohl zu den Fetten wie auch zu den Mageren Botschaften zu entsenden, noch bevor der Große Sturm losbrach, um die Fetten zu ermahnen und sie davon abzuhalten, den Bogen zu überspannen, die Mageren aber vor dem letzten Schritt zu warnen.
Die Bemühungen der beiden Botschafter blieben aber ergebnislos. Die Flamme der Emotionen war nicht mehr zu löschen. Jene Gruppe, die die Beute und die Macht besaß, wollte keinen Fingerbreit von ihrer bisherigen Lebensart und ihren Gewohnheiten abweichen und steckte angesichts der drohenden Zeichen wie der Vogel Strauß den Kopf in den Sand. Die verzweifelten, hungernden, zu Tode gehetzten Sklaven aber waren ganz und gar von ihrem tödlichen Hass auf die Herren besessen. Sie waren bereits wie der geschleuderte Stein, die zum Schlag erhobene Faust, wie der zum Zustoßen bereite Dolch im stürmischen, wilden Schwung der Tat des dienstbaren Willens.
Die Boten kehrten eilig zur Insel der Erwachsenen zurück, noch vor Ausbruch des Großen Sturmes, und meldeten ihrem Rat die Erfolglosigkeit ihrer Mission. Die Mitglieder des Rates wurden von Mitleid und Kummer erfasst. Nur der Vorsitzende des Rates, der weiseste und älteste Erwachsene, blieb heiter und gelassen.
"Warum bekümmert es euch, dass das Gesetz auch im Reich der Kinder Gesetz bleibt, wie überall in der Natur?", ermahnte er die Verzweifelten. "Die Kräfte suchen stets nach einem Ausgleich. Auch die Last lässt sich nur klug und richtig verteilt tragen, sonst zerschmettert sie nach dem Gesetz der Gegenwirkung denjenigen, der sie auf andere abwälzt. Wie sollen diese Grünschnäbel diese These begreifen? Aus ein paar Worten? Die Worte sind noch nicht lebendig, vor ihren Augen sind sie nichts weiter als ein Schatten der Wirklichkeit. Sie müssen die Realität selbst erleben, damit diese These zum Leben erwacht und ihren Charakter bildet. Die Mission unserer Gesandten war nur scheinbar erfolglos. Die Mahnung, die wir ihnen zukommen ließen, ist scheintot während die Erfüllung der Ereignisse, im Dammbruch der Emotionen, doch sie wird auferstehen, sobald sich der Sturm gelegt hat, als lebendige Konsequenz. Das verrottende Fleisch, das vergossene Blut sind mit dem Leben nicht identisch. Das wisst ihr nur zu gut."
Und der große Friede des Verstehens ergriff die Mitglieder des Rates. Sie kehrten zu ihrer Beschaulichkeit, zu ihren Meditationen über die Göttliche Wissenschaft zurück und warteten auf die Ruhe nach dem Sturm..."


erzählt von St. Germain ... siehe folgenden Beitrag ...​

zitiert aus: Maria Szepes, Der rote Löwe, In verschiedenen Verlagen erschienen, z.B. Piper 978-3-492-28543-8 oder Heyne 978-3-453-86676-8.


 
Fortsetzung​
Im Salon von Trianon erloschen zischend einige Kerzen. St. Germain schwieg, und niemand brach die eintretende Stille. Die Zuhörer saßen stumm auf ihren Plätzen, fasziniert von unbekannten Empfindungen. Der Vogel der leichten Heiterkeit war davongeflogen. Die Königin starrte bleich mit zusammengekniffenen Lippen vor sich hin. Selbst der stets nach außen spähende Blick der Gräfin Polignac wandte sich nach innen, wo jetzt die trüben Wasser schlimmer Ahnungen zu kreisen begannen. Die Prinzessin Lamballe war ganz zusammengesunken und hatte die Hände krampfhaft im Schoß gefaltet wie im Gebet. Das kluge, hässliche Vogelgesicht der Gräfin D´Adhemar sah jetzt uralt und unendlich müde aus.
Zwei Diener huschten eilig herein und steckten frische Kerzen in die Kandelaber. Für einen Augenblick brach ihre Anwesenheit den Zauber.
"Und was geschah auf der anderen Insel?", fragte die Gräfin D´Adhemar heiser.
"Im Reich der Kinder?" St. Germain wandte sich ihr zu. "Nun... genau das, was zu erwarten war. Die Feier endete mit einem entsetzlichen Blutrausch. Die Sklaven griffen ihre Herren an und machten sie nieder. Als bereits alle tot am Boden lagen, wandten sich die Rebellen gegen jene Diener, die den Fetten treu geblieben waren, dann kamen die Gleichgültigen und Neutralen an die Reihe, schließlich diejenigen, die nicht als engagiert genug befunden wurden. Die Insel wurde zum Schlachthaus. Keiner konnte sicher sein, wann er bei diesem allgemeinen Morden an der Reihe war" Er sprach mit farbloser, leiser Stimme, aber die Zuhörer lauschten wie gebannt. "Keiner dachte daran, Nahrungsmittel zu beschaffen. Alle feierten die Freiheit, die in Wirklichkeit zu einem fürchterlichen Terror geworden war. Der Hunger war größer denn je während der Herrschaft der Fetten. Seuchen brachen aus, und schließlich ereilte sie der tropische Regen, der ihre kindlich aufgebauten Zelte vernichtete, das Dach über ihrem Kopf hinwegschwemmte und ihre Aufmerksamkeit von der finsteren Lust des Mordens abwandte. Frierend, zerschmettert und krank wurden sie sich schließlich ihrer tatsächlichen Lage und ihrer Verlassenheit bewusst..."
"Und dann ... dann erinnerten sie sich an die Erwachsenen", sagte die Gräfin D´Adhemar selbstvergessen.
"Noch nicht, Madame. Eine geraume Weile nicht. Dies war nur so eine Art Katzenjammer, doch keinesfalls eine Beruhigung ... Hinterher hat es noch so manchen Kampf gegeben, weil sie das Gesetz des Gleichgewichts noch nicht begriffen hatten. Es gab immer noch einzelne Gruppen oder Kinder, die ihre Lasten auf andere abwälzten und die sie nach dem Gesetz der Reaktion zerschmetterten ..."

"Das ... war eine entsetzliche Geschichte", meinte die Königin verärgert. "Wenn ich ihren Inhalt vorausgeahnt hätte, so hätte ich nicht gestattet, dass Sie sie erzählen. Wie konnten Sie mir das antun? Ich habe mich so sehr auf diesen Abend gefreut ... ich war so fröhlich und ausgeglichen!" Ihre Stimme erstickte, da sie ihren Unmut und ihr Beleidigtsein nicht verbergen konnte.
"Aber es war doch nur ein Märchen", sagte St. Germain. "Haben Eure Majestät vielleicht einen tieferen Sinn darin entdeckt?!"
Ich habe alles das entdeckt, was Sie in die Geschichte hineingepackt haben!", sagte die Königin kalt und schaute ihm in die Augen. "Ich habe alles sehr wohl begriffen, und ich kann nur sagen, dass es wirklich ein Märchen war, ein einfältiges, stupides Ammenmärchen!"
Sie erhob sich und kehrte St. Germain den Rücken zu.
Die Gesellschaft blieb nur noch kurze Zeit beieinander. Die Königin würdigte St. Germain keines Wortes mehr und zog sich bald zurück, Müdigkeit vorschützend.


zitiert aus: Maria Szepes, Der rote Löwe, In verschiedenen Verlagen erschienen, z.B. Piper 978-3-492-28543-8 oder Heyne 978-3-453-86676-8.



 
Werbung:
ZWEI BRÜDER (eine Parabel)

"Es lebte einst ein Ehepaar, das lange kinderlos blieb. Erst im höheren Alter wurde die Frau schwanger. Sie gebar Zwillingsbrüder und starb kurz nach der schweren Geburt. Der Mann stellte Ammen an und versuchte, so gut er es konnte, seine Söhne zu versorgen. Als die beiden vierzehn Jahre alt wurden, verließ auch ihr Vater diese Welt. In großer Trauer saßen die Söhne im leer gewordenen Haus. Der eine von ihnen galt in der Familie als älterer Bruder, denn er war um drei Minuten vor seinem Zwillingsbruder geboren worden. Er brach als erster das Schweigen: "Im Sterben war unser Vater darüber besorgt, dass er uns nicht mehr die Weisheit unserer Ahnen hatte lehren können. Ohne Weisheit, so meinte er, werden wir und auch unsere Kinder von den anderen verachtet leben müssen, wenn sich nicht einer von uns aufmacht, die Weisheit zu suchen."
"Ich bin bereit mich darauf einzulassen', antwortete der jüngere Bruder. Aber wenn du meine Meinung hören magst, dann sage ich dir: Ich lebe auch ohne Weisheit glücklich und freue mich über jeden Tag. Dich sehe ich oft in Gedanken versunken. Deshalb schlage ich dir vor, lass mich für uns und das Haus sorgen. Du aber sinne ungestört nach und suche die Weisheit unserer Ahnen."

"Nur glaube ich nicht", sprach der ältere Bruder, "dass ich die Weisheit, die mir nicht gegeben wurde, in mir finde. Ich werde mich auf den Weg in die Welt hinaus machen und die Weisheit in allen Ländern suchen müssen. Finde ich sie, so bringe ich sie in unser Haus zurück, für dich, für mich und für unsere Kinder, die es ihren Kindern über Jahrhunderte weiterreichen werden."

"Du hast einen langen Weg vor dir, Bruder", sagte der Jüngere, "so nimm unser Ross, unseren Wagen und alles, was du für deine Reise brauchst. Möge sie dir gelingen. Ich aber werde in unserem Haus auf dich warten."
Über sechzig Jahre vergingen, das Haar des älteren Bruders wurde grau. Gepilgert von einem Weisen zum anderen, von einem Tempel zum anderen, war er im Norden und Süden, im Osten und Westen dieser Welt. Mittlerweile wurde er als der Weiseste unter den Weisen verehrt, viele Schüler folgten ihm auf seinen Wegen, sein Ruhm ging ihm überall voraus. So kehrte er, der Hochverehrte, zu seinem jüngeren Bruder heim.

Alle Menschen aus der Siedlung liefen ihm entgegen, allen voran sein eigener Bruder. Er verneigte sich vor dem Weisen und sprach in großer Freude: "So segne mich und lass dich begrüßen, mein weiser Bruder! Lass mich deine müden Füße waschen. Lass dich in unserem Haus nieder und erhole dich nach deiner langen Reise." Der Weise ließ seine Schüler auf einem Hügel vor seiner Ortschaft rasten und die ihnen dargebrachten Gaben genießen. Er selbst folgte seinem jüngeren Bruder und betrat sein Haus. Während der Fußwaschung sprach der grauhaarige Weise: "Bruder, ich habe mein Vorhaben erfüllt. Die großen Lehren habe ich studiert, aus ihnen kommt meine Weisheit, sie lehre ich alle Menschen. Doch ich habe mein Wort an dich nicht vergessen. Ich kam für einen Tag, um dir und deinen Kindern das Wichtigste weiterzugehen."

Und während sein jüngerer Bruder ihm die Füße mit einem verzierten Tuch trocknete, sprach der Weise: "Das Erste: Alle Menschen sind für das Leben in einem blühenden Garten geboren." Während sein jüngerer Bruder ihm Früchte aus dem eigenen Garten anbot, kostete der Weise davon und sprach nachdenklich: "Jeder Mensch sollte in seinem Leben einen Baum gepflanzt haben, der seinen Nachkommen eine gute Erinnerung an ihn und eine reine Luft zum Atmen schenken wird."

"Verzeih mir, mein weiser Bruder, ich habe vergessen das Fenster zu öffnen, damit du frische Luft bekommst. Schau, siehst du diese beiden Zedern dort? Ich pflanzte sie in dem Jahr, in dem du von hier fortgingst. Für die eine Zeder grub ich das Loch mit meinem Spaten aus, für die zweite benutzte ich deinen kleinen Spaten, mit dem du als Kind gespielt hattest."
Der Weise betrachtete die Bäume und antwortete: "Die Liebe ist das größte Gefühl, dessen wir fähig sind. Nicht jeder Mensch erfährt es in seinem Leben. Die Weisheit des Lebens besteht jedoch darin, die Liebe beharrlich zu suchen."

"Vor deiner Weisheit, oh mein Bruder, gerate ich in Verwirrung. Verzeih mir, ich habe ganz vergessen, dir meine Frau vorzustellen. He, meine Liebe, meine Alte, wo bleibst du denn?"
"Da bin ich", erklang eine muntere Stimme, und ins Zimmer trat die Alte mit den frischen Speisen auf einem Tablett. Sie machte vor den beiden Männern einen lustigen Knicks und flüsterte ihrem Mann zu, jedoch so laut, dass ihr Gast auch mithören konnte: "Verzeih, mein Lieber, ich muss mich hinlegen!"
"Jetzt doch nicht, während solch ein Gast, mein Bruder, da ist."
"Es ist mir so schwindlig, so komisch zumute, als wäre bald..."
"Na was denn?"
"Als wäre ich bald wieder schwanger von dir...", prustete die Alte und rannte lachend aus dem Zimmer.
"Verzeih ihr", sagte derjüngere Bruder beschämt, "sie versteht die Weisheit nicht zu schätzen, sie war immer schon so laut und lustig."

Der Weise wurde immer nachdenklicher. Kinderstimmen brachten ihn aus seinem Schweigen. "Die große Weisheit ist die Kunst, Kinder zu glücklichen und gerechten Menschen zu erziehen", sagte er weiter. "Ja, erzähl doch bitte darüber", bat ihn der jüngere Bruder, "ich will auch sehr, dass meine Kinder, meine Enkel glücklich werden."

Indessen betraten seine Enkel, zwei Jungen um die sechs Jahre und ein vierjähriges Mädchen, unter lautem Streit den Raum. "Oh", staunte ein Junge, "aus unserem Opa sind zwei Opas geworden. Welcher ist der unsere?"
"Da ist er, siehst du es nicht?" Das kleine Mädchen lief zu ihrem Opa, drückte ihre Wange an sein Bein und platzte, indem sie an seinem Bart zupfte, heraus: "Opa, Opa, ich wollte dir zeigen, wie ich tanzen kann, und meine Brüder sind mir hinterhergelaufen. Einer will mit dir malen. Und der andere will, dass du ihm auf der Flöte und auf der Pfeife vorspielst. Ich war die erste, die zu dir wollte. Schicke die beiden fort!"

"Stimmt nicht", mischte sich einer der beiden Jungen ein, der mit einem Brett und einem Stück Kreide in der Türe stand, "ich war der erste, der zu dir wollte, Opa! Mein Bruder wollte dann auch mit."
Das kleine Mädchen schien dem Weinen nah, ihr Blick bat beide Opas um Hilfe. Der jüngere Opa sprang auf, nahm die Flöte aus der Hand seines Enkel und sagte, ohne großartig zu überlegen: "Ist das ein Anlass zu streiten? Wartet mal, ich sag euch etwas. Ich werde auf der Flöte spielen. Du, meine Liebe, wirst dabei tanzen und du, mein Musikus, versuch munter mit zu pfeifen. Ach, unser Maler! Ja, das ist doch gut! Male du mit deiner Kreide das auf, was ich jetzt spielen werde. Und den Tanz deiner Schwester, den male auch auf."
Der Opa begann zu spielen und seine Enkel beteiligten sich voller Freude.

Als das lustige Treiben zu Ende war, richtete sich der grauhaarige Weise auf und sprach zu seinem Bruder:
"Mein lieber Bruder, bitte bringe mir das alte Werkzeug unseres Vaters."
Dem Werkzeug entnahm er dann einen Hammer und einen Meißel. "Ich werde jetzt gehen und nicht wiederkommen. Halte mich bitte nicht auf und warte nicht auf mich." Mit diesen Worten verließ er das Haus und ging bis zu der Ortsgrenze. Dort, am Rande des Weges, lag noch immer der große Findling, an dem seine lange Reise einst begonnen hatte. Einen Tag und eine Nacht blieb der alte Weise am Findling sitzen. Am darauffolgenden Morgen lasen seine Schüler die von ihm in den Stein eingemeißelte Inschrift:

"WAS DU SUCHST, WANDERER, IST STETS IN DIR,
FÜRCHTE ES UNTERWEGS ZU VERLIEREN!"



zitiert aus: Wladimir Megre, ANASTASIA Band 4 oder 5, Silberschnur oder Govinda oder Wega Verlag
 
Zurück
Oben