Die Bibel in ihrem eigenen Licht, Eine Studie der Lehren Jesu Christi an hand von Originalzitaten, Ronald Zürrer, Zürich 1987.
"Obwohl die christliche Lehre von ihren Anhängern größtmögliche Toleranz
fordert und obwohl Individualität bei ihnen so groß geschrieben wird, zeigen
doch dieselben Christen oft eine bestechende Intoleranz gegenüber Andersdenkenden,
vor allem im Bezug auf andere Religionen. Dieses dogmatische,
zuweilen geradezu fanatische Ablehnen nicht-christlicher Religionen scheint
fast zu einem Grundsatz des modernen Christentums geworden zu sein. Solche
Vorurteile berufen sich meist einzig auf den folgenden Vers aus dem Neuen
Testament:
ego eimi ha hodos kai ha alatheia kai ha zoa;
oudeis erketai pros ton patera ei ma di emou.
"Jesus sagte: Ich bin der Weg und die Wahrheit
und das Leben; niemand kommt zum Vater außer
durch mich." (Joh. 14:6)
Allerdings ist diese knappe Aussage Jesu eine doch zu spärliche Rechtfertigung
für eine solch umfassende religiöse Intoleranz, insbesondere wenn man
berücksichtigt, daß die Aussage des Verses im griechischen Urtext doch von
der obigen, geläufigen Übersetzung abweicht, die Sie sehr wahrscheinlich
auch in Ihrer Bibel finden werden.
Das griechische Wort erketai bedeutet nicht einfach "kommen", wie oben
übersetzt, sondern "kann zum gegenwärtigen Zeitpunkt kommen" (es ist eine
starke Präsensform). Das verändert natürlich die gesamte Bedeutung des Verses.
Jesus sagt in Wirklichkeit: "Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben;
zum gegenwärtigen Zeitpunkt kann niemand von euch zum Vater kommen
außer durch mich." Somit wird aber auch der christliche
Ausschließlichkeitsanspruch absurd und hinfällig.
Im Gegensatz zu den sektiererischen Auslegungen dieser Bibelstelle sagte
Jesus lediglich, daß er damals, für jene Menschen, zu jener Zeit in Palästina,
vor 2000 Jahren, der einzige Weg war. Und dies ist eine Feststellung, der wir
ohne Schwierigkeiten beipflichten können, wenn wir daran denken, mit welcher
Art von Kultur Jesus damals konfrontiert war."