Es verwundert mich ein wenig, dass selbst RitaMaria als ehemalige Nonne die Symbolik des Christentums offenbar so wenig durchblickt. Und warum hacken selbst Foris, die sich schon jahrzehntelang mit der Sache beschäftigen, noch immer auf den Kreuzzügen herum? Die Vorwürfe sind alle wahr, und sie sind alle berechtigt. Aber dort stehenzubleiben heisst Stagnation. Wer das Christentum verstehen will, der muss die Kirche hinter sich lassen. Und wer ständig auf ihr rumhackt, der zeigt, dass er sich offenbar noch immer von ihr regieren lässt, selbst wenn er das entrüstet von sich weisen würde.
Das Christentum kann vermutlich am einfachsten verstanden werden, indem es vom Buddhismus abgegrenzt wird (der Buddhismus in seiner psychologisierenden Darlegensweise ist vermutlich dem heutigen Menschen sehr viel einfacher verständlich als das Christentum).
Was will die Kreuzigungssymbolik sagen? Im Kern der Sache steht die Idee, dass sich Gott auf das Niveau der Menschen hinabbegiebt. Indem Gott selbst in Christus Menschengestalt annimmt, erleidet er alles, was ein Mensch prinzipiell im Leben zu erleiden hat. Darin liegt eine ungeheure Hoffnung: Wir sind nicht allein, Gott weiss aus eigener Erfahrung, was Leiden heisst. So weit geht Gott, dass er als Christus am Kreuz sich von sich selbst spaltet, auf dass er ausrufen kann "Warum hast du mich verlassen?". So wird Gott dem Menschen nicht bloss ähnlich, sondern Gott wird tatsächlich Mensch und darin liegt gerade die Gnade, die Gott dem Menschen zukommen lässt. Gottes Botschaft an den Menschen heisst: "Ich bin einer von euch." Gott ist nicht einfach eine dem menschlichen Schicksal kalt abgewandte, unpersönliche Kraft, sondern diesem Gott ist der Mensch so sehr ans Herz gewachsen, dass er sich die Mühe macht, gar einer von ihnen zu werden, um die Ferne und Distanz, die sich durch das ganze AT hindurchzieht, zu überbrücken. Gott nimmt eine Gestalt aus Fleisch und Blut an, die man sogar anfassen kann. Diesem Jesus von Nazareth dürfte nichts fremd gewesen sein. Dieser Mann kannte sexuelle Lust, er hatte Hunger und Durst, er hatte Humor und wurde wütend. Noch näher kann Gott dem Menschen gar nicht kommen (ausser in der abstrakten Gestalt des Heiligen Geistes, welche aber gerade durch die Abstraktheit und Körperlosigkeit dem Menschen wiederum ferner ist), noch konkreter kann er gar nicht werden. Das ist die Aussage der Kreuzigung: "Sehr her", sagt Gott zu den Menschen, "ich kenne euer Leiden."
Im Buddhismus ist das alles ganz anders. Buddha hatte nie den Anspruch, auf die eine oder andere Weise Gott zu repräsentieren. Ganz im Gegenteil: Buddha bestand darauf, ganz und gar schon a priori Mensch zu sein. So steht im Buddhismus denn auch nicht das Problem der 'göttlichen Gnade' im Vordergrund, sondern das Problem der Selbstbefreiung des Menschen. Nicht wie Gott Mensch wird, wird hier erzählt, sondern umgekehrt wie sich der Mensch zu den Göttern erhebt. Buddha will das Leid überwinden, und gerade diese Handlung enthebt ihn der Sphäre des Menschlichen, des Rades von Tod und Wiedergeburt, das so überaus charakteristisch für den Menschen ist. Die Stossrichtung des Buddhismus ist es, aus dem Menschen einen Gott zu machen. Im Christentum hingegen wird das Leiden nicht überwunden, sondern durchlebt. Hier ist die Stossrichtung, aus dem Gott einen Menschen zu machen. Das Endresultat ist beidemale das gleiche: Gott als das höchste Prinzip steht mit dem Menschen auf ein- und derselben Stufe.
Ich habe Jahre der inneren Auseinandersetzung gebraucht, um das zu verstehen. Seit ca. meinem 12. Lebensjahr habe ich mich mit den in diesem Thread aufgeworfenen Fragen auseinandergesetzt, und ich habe diese Fragen nicht einfach aufgeworfen, sondern ich habe sie erlitten. Ich habe an ihnen gekaut und gewürgt, habe sie erbrochen und wieder aufgefressen. Sie haben sich mir aufgezwängt, und ich konnte nicht aufhören sie zu stellen, bis ich so weit in sie vorgedrungen war, dass einigermassen Ruhe einkehrte. Das Christentum zu verstehen ist in meinen Augen ungleich schwieriger als den Buddismus zu verstehen. Nicht, weil der Buddhismus etwa weniger Tiefe aufweisen würde, das ist mit Sicherheit nicht der Fall, sondern weil das Christentum es während hunderten von Jahren inzwischen versäumt hat, dem Menschen einen konkreten, lebbaren Zugang zu den esoterischen Wahrheiten offen zu halten. Dieser Fehler wurde, so weit ich es überschauen kann, im Buddhismus nicht getan.