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Tolkien

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Vor Kälte zitternd sass er auf der Parkbank, die letzten Habseeligkeiten in Plastiktüten um sich versammelt. Der Wintermantel aus der Altkleidersammlung und der darüber gelegte Schlafsack reichten nicht aus, um ihn gegen die immer heftiger werdende Kälte zu schützen. Trotz der dicken Fellmütze mit den herunter geklappten Ohrenschützern hatte er das Gefühl, dass ihm seine Ohren abgefroren wären.

Schneefall setzte ein. Beim Heranziehen der Arme über seine Brust fiel ihm sein Becher aus der Hand. Ein bisschen Kleingeld fiel ihm vor die Füsse. Er blickte auf seine letzte Barschaft. Eine Träne löste sich von seinem Auge und lief über seine Wange in den ungepflegten Bart. Nein, es war nicht der eiskalte Wind. Nicht die Kälte.

Trauer und Resignation überkam ihn. Wie so oft. Er weinte.

Das Leben hatte ihm übel mitgespielt. Er hatte alles verloren. Seine Frau hatte sich mit den Kindern von ihm getrennt. Seine Firma war bankrott gegangen. Sein Haus hatte er verloren. Er fand keine Arbeit mehr.

Mit 60, ohne Wohnung, ohne Obdach und in seinem herunter gekommenen Zustand war es schwer neue Arbeit zu finden. Er war erfüllt von Leere. Nichts machte mehr Sinn.

Der Schnee hatte sein vor ihm liegendes letztes Kleingeld mit weissem Flaum bedeckt. Nur der verdötschte Pappbecher daneben war noch zu sehen uns selbst dieser schien zu zittern. Er beugte sich nach vorne, um nach den paar jämmerlichen Münzen zu suchen, doch auf halbem Wege verliess ihn die Kraft. Mutlos sackte er auf seinen Knien zusammen. Sein langes, fettiges ungepflegtes Haar, das nicht mehr unter die verdreckte Fellmütze gepasst hatte, fiel herunter und kam kurz vor den mit Schnee bedeckten Münzen zum Stehen.

Es sah aus, als wolle es nach den Münzen greifen. Sich danach recken. Die paar Cent. Selbst jetzt noch.

Irgendwie spiegelte es sein Leben wieder. Immer war er nur dem Geld hinterher gerannt. Und hatte damit nie aufgehört. Nach dem Niedergang seiner Firma hatte er in der gleichen Branche Arbeit gefunden, allerdings zu einem sehr schlechten Lohn. Er hatte immer noch mehr gearbeitet, um wieder hoch zu kommen, doch immer wieder wurde ihm etwas gekürzt. Er hatte Arbeiten zum Hungerlohn angenommen, war in jeden Arsch gekrochen und trotzdem war es immer weniger geworden. Er war sich nichts wert. Hatte nie Forderungen gestellt und sich auf jeden Scheiss eingelassen.

Er hatte alle fallen lassen. Stand hinter niemandem. Nicht mal hinter sich selbst. Hatte gelogen, Verschwiegen, sich immer raus gehalten, wollte keinen Ärger haben. Nicht anecken. Nichts schien ihn wirklich zu interessieren. Ausser eben Geld. Sein ganzes Leben lang hatte er sich dafür die Hacken abgelaufen. Das Ergebnis lag vor ihm auf dem Boden. Mit Schnee bedeckt....

Was war nur aus ihm geworden?
 
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Da zieht es sich in einem richtig zusammen....ich musste bei Covid schon immer mal wieder an die Obdachlosen denken - wenn die Nachricht kam - dass wegen Covid die Tafeln geschlossen waren - wo sie sich eine warme Suppe holen konnten.

Und jetzt bei diesem Kälteeinbruch und Schnee noch mehr...:(

.
 
gestern zufällig im TV gesehen:
in Hamburg hat ein ehemaliger Obdachloser einen Duschbus auf die Beine gestellt.
dort können Obdachlose umsonst duschen. der Bus finanziert sich durch Spenden.
es gibt einige Artikel darüber, wenn man googelt nach: duschbus für obdachlose

https://gobanyo.org/

 
Zuletzt bearbeitet:
Würdelos! Ja, das war das richtige Wort. Er hatte seine Würde verloren.

Doch hatte er jemals Würde gehabt? Hatte er eine eigene Meinung? War er je für etwas eingetreten? Gab es etwas, dass ihm etwas bedeutete und wichtig war?

4 x Nein! Einzige Ausnahme: Geld!

Es war so trostlos. Könnte er doch nur Saufen. Das wäre besser bei der Kälte und alles Andere könnte er auch damit wegspülen und vergessen. Doch Alkohol war ihm zuwider. Eigentlich völlig untypisch für einen Obdachlosen.

Er hatte dem immer widerstanden. O.K., mal einen Ouzo nach einem guten Essen früher beim Griechen aber sonst...nie. Saufgelage waren einfach unter seiner Würde. So etwas hätte er nie....

Würde???

Er stutzte. War da doch noch etwas in seinem Leben, dass man Würde nennen konnte?

Langsam richtete er sich etwas auf und öffnete seine Augen. Ein Windstoss erfasste den Pappbecher und beförderte ihn einige Meter weiter. Doch er hatte noch etwas gemacht. Die Münzen aus dem Becher die mit Schnee zugeweht waren, hatte der Windstoss freigelegt. Er sah sie an.

Es war ein Zeichen! Das spürte er genau.

Geld kommt, Geld geht, dachte er und wenn man loslässt, dann ist es meist so, dass es kommt. Manchmal durch einen glücklichen Zufall und sei es nur ein Windstoss. Wie in einem Film liefen Ereignisse aus seinem Leben vor seinem geistigen Auge ab. Er bemerkte, dass er nicht mehr zitterte. Es war als würde ihm eine wärmende Decke umgelegt, um zur Ruhe zu kommen und die Bilder zu verstehen. Sie in sich aufzunehmen und nachwirken zu lassen.

Er glaubte zu erkennen dass er Möglichkeiten gehabt hätte, die Dinge in seinem Leben anders zu gestalten. Er bemerkte, dass er sehr oft gegen sein wirkliches Gefühl gehandelt hatte. Er hatte sich oft unwohl gefühlt bei seinen Entscheidungen und dieses Gefühl hatte er einfach beiseite geschoben und unterdrückt. Und nun....

Wenn er hier Bilanz zog, würde er ganz schlecht dabei aussehen. Aber..., es war sein Weg. Selbst gewählt und selbst gegangen.

Er fühlte, da war noch etwas...

Hatte er noch eine Chance?
 
gestern zufällig im TV gesehen:
in Hamburg hat ein ehemaliger Obdachloser einen Duschbus auf die Beine gestellt.
dort können Obdachlose umsonst duschen. der Bus finanziert sich durch Spenden.
es gibt einige Artikel darüber, wenn man googelt nach: duschbus für obdachlose

https://gobanyo.org/


Menschen Würde zu geben ist eine sehr gute Sache! Und die Möglichkeit zur Körperpflege gehört dazu.

Mir fällt hier eine Geschichte ein, die ganz gut hierzu passt und ausserdem musste ich in den letzten Tagen auch an die Obdachlosen denken, die es durch Covid und die strenge Winterkälte nun besonders schwer haben.

Vor etlichen Jahren ging ich an einem Samstagabend mit meiner Frau auf der Kö in Düsseldorf spazieren. In einem Geschäftseingang stand an eine Wand gelehnt ein Obdachloser und hielt eine Zeitschrift in der Hand. Fifty-Fifty war der Titel. Eine Obdachlosenzeitung durch deren Verkauf die Obdachlosen 50 Pfennige pro Stück für sich behalten konnten.

Wir waren schon daran vorbei gelaufen, als meine Frau umdrehte und den Obdachlosen ansprach. Sie kaufte ihm eine Zeitung ab und wechselte ein paar Worte mit ihm. Ich kam dazu und bemerkte sofort den unangenehmen Geruch, der von ihm ausging. Ich muss zugeben, dass ich es sehr unangenehm fand und zunächst am Liebsten weiter gegangen wäre.

Doch wie ich ihn so reden hörte, bemerkte ich dass es ein recht intelligenter Mensch war. Er hatte mitten im Leben gestanden mit eigener Firma und Angestellten. Schreinermeister war er, sagte er stolz. Dann musste er miterleben wie seine Mutter sich das Leben nahm und in seiner Anwesenheit aus dem offenen Fenster in den Tod sprang. Er wurde nicht damit fertig.

Seine Firma ging den Bach runter, seine Ehe in die Brüche, Frau und Kind verliessen ihn, er verfiel dem Alkohol und landete auf der Strasse.

Gut eine halbe Stunde hörten wir ihm zu und unterhielten uns mit ihm. Er berichtete davon dass er öfter in einer Notunterkunft schläft, die von einem angagierten Priester organisiert wurde. Doch dort waren viele alkoholisierte Obdachlose, die permanent für Krach und Streitigkeiten sorgten und an eine einigermassen ruhige Nacht war dort nicht zu denken.

Meine Frau wollte ihm gerne etwas zukommen lassen und ich wollte 50 DM aus meinem Geldbeutel holen. Sie bestand auf einer Verdopplung und so gaben wir dem Mann 100 DM.

Er konnte sein Glück kaum fassen und bedankte sich sehr. Er sagte uns, dass es in der Nähe eine kleine sehr günstige Pension gab, in die er nun für eine Nacht einkehren wollte, um einmal wirklich in Ruhe schlafen zu können und um sich selbst und seine Sachen zu waschen.

Menschenwürde!​

Seitdem kauften wir öfter die Fifty-Fifty Zeitung und eines Tages lasen wir von genau diesem Obdachlosen, dass er verstorben war. Er hatte sich jahrelang für die Obdachlosen Leidensgenossen eingesetzt und war stadtbekannt gewesen.

Meine Frau und ich freuten uns, dass wir ihm zumindest eine einzige angenehmere Nacht verschaffen konnten und ich war froh, dass ich auf sie gehört hatte und mehr gegeben hatte, als ich ursprünglich wollte. Und ich war stolz auf meine Frau.
 
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Ein Geräusch liess ihn aufhorchen. Er hob seinen Kopf und sah in die Richtung. Ein älterer Mann machte mit seinem Dackel seine Abendrunde und näherte sich ihm. Neugierig steuerte der Hund an der Leine auf ihn zu und wedelte ihn freundlich an. Seine leicht geöffnete Schnauze gab den Blick auf seine Zähne frei und dies vermittelte den Eindruck, als würde er ihn anlächeln.

"Keine Angst der tut nix. Is n' freundlicher Geselle," sagte der ältere Herr.

Er fand es sehr nett, dass der Mann ihn trotz seines eindeutigen Aussehens ansprach und antwortete: "Ich hatte auch mal einen Hund und meist nehmen die Tiere den Charakter ihres Herrchens an. Demnach scheinen Sie ein freundlicher Mensch zu sein."

"Dankeschön, dass ist sehr nett!"

Er kam ein wenig näher an die Bank heran und fragte:" Darf ich mich kurz zu Ihnen setzen? Vielleicht rauchen wir eine zusammen?"

"Oh sehr gerne, vielen Dank!," antwortete er erfreut und räumte seine Sachen ein wenig zur Seite um dem Mann Platz zu machen. Der Dackel stieg hoch und legte seine Vorderpfoten auf seine Knie. Der Dackelschwanz wedelte hin und her.

"Ferdi, nicht so doll," sprach der Mann seinen Dackel an, der begonnen hatte ihm die Hand abzulecken.

"Nein nein, lassen sie ihn nur, entgegnete er, ich geniesse es gerade gleich zwei nette Wesen gleichzeitig um mich zu haben. Dieses Vergnügen hatte ich lange Zeit nicht mehr."

Lächelnd nahm der Mann neben ihm Platz und bot ihm nun eine Zigarette an. Er zog einen seiner grauen, verschlissenen Wollhandschuhe aus und griff danach. "Danke!"

Und "Zack" hatte sich Waldi den Handschuh geschnappt und spielte damit herum.

"Ferdi!", herrschte der Mann ihn mit erhobenem Zeigefinger an, gib ihn sofort zurück!"

Als würde er ihn genau verstehen kam Ferdi brav zurück, stellte sich auf seine Hinterbeine und legte den Handschuh auf seinem Knie ab. Lächelnd streichelte er den Dackel. "Braver Hund."

Sie unterhielten sich eine Weile und am Schluss fragte ihn der symphatische Mann:" Sagen Sie..., ich möchte Ihnen nicht zu nahe treten..., aber... wenn Sie möchten.... Ich würde Ihnen gerne für ein paar Tage Unterkunft anbieten. Es ist nicht gut bei dieser Saukälte hier draussen zu bleiben und ich denke eine schöne lange heisse Dusche bringt Sie auch auf andere Gedanken. Ausserdem wäre ich ehrlich gesagt ganz froh, wenn ich etwas Gesellschaft hätte, mit der man sich vernüftig unterhalten kann. Na, was meinen Sie dazu?"

Völlig überrascht sah er den freundlichen Mann an. Er behandelte ihn wie einen ganz normalen Menschen. So etwas hatte er schon sehr lange nicht mehr erlebt und dies war auch der Grund, warum er seinem Angebot schliesslich dankend zustimmte. Gemeinsam setzten sie die "Hunderunde" fort und kamen eine Viertelstunde später, beide die Habseeligkeiten des Obdachlosen tragend, am Haus des älteren Herrn an. Er bewohnte alleine ein geräumiges, freistehendes Einfamilienhaus in einer guten Lage der Stadt.

Sie brachten seine Sachen unter, nachdem ihm der ältere Herr sein Zimmer gezeigt hatte. Er hatte angeboten, etwas für sie zu kochen und ihm in dieser Zeit eine ausgiebige heisse Dusche angeraten, die ihn erst einmal so richtig aufwärmen sollte.

Der wohlige Strahl des heissen Wassers prasselte nun schon seit einigen Minuten auf ihn herab. Es war ein Hochgenuss! Er hatte das Gefühl, dass etwas von ihm abgewaschen wurde, dass eigentlich gar nicht zu ihm gehörte.

Vor einer Stunde noch sass er einsam und frierend auf der Parkbank, dem Tode näher als dem Leben. Er hatte lange Zeit nicht mehr mit ihm gesprochen, aber jetzt im Moment hatte er das Bedürfnis Gott zu danken und plötzlich ergriff ihn ein Gefühl der Dankbarkeit und der Hoffnung und seine Tränen mischten sich unter das Wasser der Dusche.....

Würde er ihn überhaupt noch anhören wollen?
 
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