Quelle: Paul Watzlawik aus "Die Stunden am Fenster", Koestler
"Einige Tage nach meiner Überführung in Sevilla wurde ich mir zum ersten Mal dessen bewusst. Ich kratzt mit einem eisernen Draht, den ich von der Sprungfedermatratze losgemacht hatte, mathematische Formeln auf die Wand. Mathematik und besonders Analytische Geometrie war eine der Lieblingsbeschäftigungen meiner Jugend. Ich versuchte mich zu erinnern, wie man die Gleichung der Hyperbel ableitet. Es gelang mir nicht. Dann versuchte ich es mit der Parabel. Die gelangen mir zu meiner Freude. Dann rief ich mir Euklids Beweis für die Unendlichkeit der Primzahlenreihe ins Gedächtnis zurück. (...) Als ich mich jetzt an die Methode erinnerte und die Symbole an die Wand kratzte, verspürte ich das gleiche Entzücken wie schon als Schüler. Dann plötzlich verstand ich zum erste Mal den Grund dieses Entzückens: die auf die Wand gekritzelten Symbole stellen einen der seltenen Fälle dar, in denen eine sinnvolle und fassbare Aussage über das Unendliche mit präzisen endlichen Mitteln erreicht wird. Das Unendliche ist wie eine mystische, in Nebel gehüllte Masse, und doch war es möglich, etwas darüber zu erfahren, ohne sich in verschwommenen Unklarheiten zu verlieren.
Die Bedeutung dieser Erkenntnis schlug über mir zusammen wie eine Welle. Die Welle war einer artikulierten, verbalen Einsicht entsprungen, die sich aber sofort verflüchtigt hatte und nur einen wortlosen Niederschlag zurücklies, einen Hauch von Ewigkeit, ein Schwingen des Pfeiles im Blauen. Ich muss so einige Minuten verzaubert dagestanden haben in dem wortlosen Bewusstsein: "Das ist vollkommen". Dann gewahrte ich ein leichtes geistiges Missbehagen im Hintergrund meiner Gedanken. Ein trivialer Umstand störte die Vollkommenheit des Augenblicks. Ich war ja im Gefängnis und man würde mich wahrscheinlich bald erschiessen. Aber gleich darauf stellte sich ein Gefühl ein, das, in Worte übersetzt, lauten würde: "Und wenn schon - ernstere Sorgen hast du nicht?" Ein Gefühl, so spontan, so frisch und amüsiert, als ob die verübergehende Verstimmung durch den Verlust eines Kragenknopfes verursacht worden wäre. Dann wurde mir, als glitte ich, auf dem Rücken liegend, in einen Fluss des Friedens unter Brücken des Schweigens. Ich kam von nirgendwo und trieb nirgendwo dahin. Dann war weder Fluss noch da noch ich, das ich hatte aufgehört zu sein.
Wenn ich sage, "das ich hatte aufgehört zu sein", so beziehe ich mich auf ein konkretes Erlebnis, das in Worten so wenig ausdrückbar ist wie die Empfindungen, die durch ein Klavierkonzert ausgelöst werden, das aber genauso wirklich ist - nein: sehr viel wirklicher. Tatsächlich ist sein wichtigstes Kennzeichen der Eindruck, dass dieser Zustand viel wirklicher ist als irgendein je zuvor erlebter.